Der Beitrag Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden – Raymond Carver erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>In „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ von Raymond Carver gibt es 17 Kurzgeschichten über Menschen, die zu viel trinken und zu wenig kommunizieren, deren Beziehungen scheitern und die die Schattenseiten der Liebe erleben.
Aus 17 Kurzgeschichten besteht die Sammlung „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ von Raymond Carver.
Wie in „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ geht es um einfache Menschen in schwierigen Situationen, um Probleme und Krisen, um Tatsachen, denen widerstrebend ins Auge geblickt wird. Die Mischung ist so bunt wie das Leben, die Charaktere so lebendig wie wir.
Erneut gibt uns der Autor Einzelteile, die wir zu einem Bild zusammensetzen müssen. Hier ist Grübeln gefragt, um den Sinn der einzelnen Kurzgeschichten zu verstehen, mit bloßem Herunterlesen ist es meist nicht getan. Das macht den Reiz aus – und ich hatte wieder den Spaß meines Lebens, ehrlich.
Ich habe zu jeder Kurzgeschichte meine Gedanken und Interpretation aufgeschrieben. Wenn du auf der Suche nach der Deutung eines bestimmten Titels aus „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ bist, bringt dich ein Klick hin:
Originaltitel: Why Don’t You Dance?
Ein schöner Anfang, denn das ist eine von den Storys, die ich so mag von Raymond Carver. Ich lese sie, ich finde sie absurd, am Ende frage ich mich, worum es ging – und dann versuche ich, herauszufinden, wovon sie tatsächlich handelt. Was. Für. Ein. Spaß. Ernsthaft, ich liebe es.
Wir haben hier einen Mann, der, so scheint es, jemanden verloren hat, eine Frau, seine Frau. Das steht da nicht, wie so vieles bei Carver, aber durch die Sätze „Seine Seite, ihre Seite. Daran musste er denken, während er seinen Whisky schlürfte.“ (S. 9) nehme ich an, dass sie gegangen ist – warum auch immer. Er trauert, versucht, darüber hinwegzukommen.
Das zufällig vorbeikommende Paar, das Interesse an seinen im Vorgarten aufgestellten Möbeln bekundet, ist ein kleiner Ausweg. War es sein Plan, das Mobiliar wegzugeben? Ich bin mir da nicht sicher, es sieht mir eher wie der Versuch aus, nicht mehr in der „alten Welt“ festzuhängen, sie (räumlich) hinter sich zu lassen. Aber er hat auch keine Bauchschmerzen, sie ihnen zu geben, der Preis scheint ihm egal (das Ergebnis ist das Verlockende, nicht das Geld, sondern die neue Leere, die die alte ablöst) – also warum nicht?! Und wo wir schon dabei sind:
„Warum tanzt ihr nicht?“
Der Mann ist einsam. Er bringt die zwei dazu, mit ihm zu trinken, er bietet ihnen mehr Sachen an, die sie mitnehmen sollen. Es geht um Verbindungen, er versucht, welche zu schaffen, auch zwischen ihnen, indem er sie auffordert, miteinander zu tanzen. Letztlich macht er mit. Für mich ist wichtig, dass er, als die Besucherin merkt, dass sie beobachtet werden, sagt: „Sie haben gedacht, sie hätten hier drüben alles gesehen, was es zu sehen gibt. Aber so was haben sie noch nicht gesehen, stimmt‘s?“ Was ist neu? Das Spielerische, das Austesten, die Verbindung?
Ich glaube, er wünscht ihnen, dass sie mehr Glück haben, als er es hatte. Er gibt ihnen seine Sachen in der Hoffnung, dass sie ihnen mehr bringen als ihm, mehr Freude, Tänze und Nähe.
Man liest heraus, dass die Begegnung für die Frau ein großes Rätsel bleibt – und ich glaube, darum geht es. Man kann Beziehungen zwischen Menschen nicht komplett verstehen. Sie ist noch jung – wird es ihr einmal ähnlich ergehen? Als ihr Freund meint, betrunken zu sein, streitet sie das ab – eine erste Abgrenzung von dem Fremden? Sie spielt den Abend herunter, lässt sich über den geschenkten Plattenspieler und die Platten aus. Ein Selbstschutz? Man weiß schließlich nie, wann, wie und warum Dinge zu Ende gehen werden, man weiß nur, dass man nicht die Fehler der anderen wiederholen möchte.
Originaltitel: Viewfinder
Es klingelt an der Haustür, der Ich-Erzähler kriegt ein Foto von seinem Haus angeboten. Das Besondere: Der Mann, der es geknipst hat, hat keine Hände.
Die Story ist eine aus „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“, die sich leichter erschließt, denn schnell wird deutlich, dass die beiden etwas verbindet:
Während der Erzähler am Küchenfenster hing und deshalb mit abgelichtet wurde, beim Herumschauen erwischt und verewigt, fotografierte der Mann mit den Stahlhaken sein Haus. Als ihm das Bild angeboten wird, kommt ihm das Wort „Tragödie“ in den Sinn. Denn er lebt allein hier. Er langweilt sich, hat nichts Besseres zu tun, als in die Gegend zu starren. Er gibt es zunächst nicht zu, doch die Wahrheit ist: Alle sind ausgeflogen, seine Frau, seine Kinder. Er trägt es ihnen nach.
Der Besucher versteht das, weil er, so sagt er, wegen seiner Kinder ohne Hände lebt. Das Thema Verlust ist allgegenwärtig. Beide hegen einen Groll, doch während der Fotograf weitermacht, weiterzieht, hängt der andere fest – bis er mit ihm nach draußen geht, um sich blickt, nach vorne – und letztlich aufs Dach steigt, sodass sich in der Schlussszene seine Wut – endlich – entlädt.
Ein geläuterter Ich-Erzähler? So scheint es mir, denn zunächst haben wir jemanden, der ausschließlich Schlechtes zu sagen hat. Als er, seinerzeit (vor drei Jahren) arbeitslos, seine 65-jährige Mutter beim Knutschen erwischte – hart. Seine Frau, seine Kinder – verrückt. Er hat nur Negatives zu berichten.
Doch nun sieht er die Welt anders, hat Frieden geschlossen mit der Vergangenheit, erkennt, dass seine Mutter vielleicht versuchte, den Tod seines Vaters zu überwinden, akzeptiert, dass seine Frau Myrna (= die Geliebte) eine Affäre mit jemandem hatte, den er Mr. Fixit nennt.
Alkoholismus ist ein Thema der Geschichte, der Alkohol brachte Verbindungen zustande oder beendete sie. Ihm hat er das Kennenlernen mit seiner Frau bei den Anonymen Alkoholikern beschert, aber auch die Beziehung zwischen Myrna und Ross (Mr. Fixit) sowie womöglich den Verlust des Vaters.
Für mich zeigt die Geschichte auf, dass Menschen kommen und gehen, wenn man nichts dagegen tut.
Es gibt hier einen Kreislauf. Der Arbeit kommt ein hoher Stellenwert zu: Ross hatte angeblich beruflichen, später freundschaftlichen Kontakt zu Astronauten und weiß davon zu berichten. Seit er diese glanzvolle Aufgabe verloren hat, trinkt er wieder – und hat vermutlich auch nicht mehr viel mit Myrna zu tun. Unser Erzähler hat hingegen einen Job angenommen und das Trinken aufgegeben, beurteilt sein Leben und das, was er sieht, nun anders. Sogar Ross wünscht er das Beste – warum nicht? Er war selbst einmal in seiner Lage. Für ihn ist jetzt aber alles besser geworden. Bleibt zu hoffen, dass er den Kreislauf nachhaltig unterbrochen hat, woran sie nun wieder gemeinsam arbeiten, indem Myrna als Abschluss sagt: „Wasch dir die Hände.“ (S. 26) Bleib sauber.
Originaltitel: Gazebo
Das Ende einer Beziehung, wie so oft in „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“:
Ich-Erzähler Duane und seine Holly haben ein Motel übernommen. Alles sollte besser werden – und für ein Jahr war es das, doch dann, Duane fängt etwas mit der mexikanischen Reinigungskraft an, zerbricht das Vertrauen. Seither fühlt sich Holly wertlos, hat Stimmungsschwankungen bis hin zu Suizidgedanken.
Für mich geht es hier darum, dass man sich abfindet mit etwas. Er ist hineingestolpert in diese Affäre – und findet nicht recht hinaus. Er sagt über Juanita: „Sie lächelt und sagt meinen Namen“ (S. 29), nicht „lächelte“ und „sagte“, obwohl sonst die Vergangenheit genutzt wird, wenn es um dieses Zusammentreffen geht. Es ist in seinem Kopf immer noch so. Ganz im Gegensatz zu „Holly war meine einzige wahre Liebe.“ (S. 32) War. Er will nichts ändern, ist gefangen in seiner Antriebslosigkeit, trinkt mit großer Ernsthaftigkeit, während er das Motel zugrunde gehen lässt, alles kommt zu einem ein Ende.
Holly plant, weiterzumachen (wenn sie sich nicht gerade umbringen will), denkt daran, nach Nevada zu gehen. Sie ist diejenige, die Träume hat(te), beispielsweise den, ein glückliches altes Paar zu sein wie das, das sie mit dem titelgebenden Pavillon verbindet. Doch diese Vorstellung hat sich als Illusion entpuppt. Bezeichnend auch, dass sie die beiden für tot hält – und sie (Holly und Duane) die Außenwelt ebenfalls nicht hereinlassen. Diese Träume sind gestorben. Für ihn ist das okay, er hat nichts gegen etwas Schnelles, er weiß womöglich selbst nicht, was er will, akzeptiert alles, was geschieht. Sie aber trauert.
Interessant ist auch der Name des Getränks, das mehrfach zur Sprache kommt: Teacher‘s. Alkohol ist kein guter Ratgeber – und trägt nicht gerade dazu bei, genügend Verantwortung und Antrieb aufzubringen, um eine Ehe und ein Motel zu führen. Sie weiß mehr als er, heißt es, und der erste Satz „Am Morgen gießt sie mir Teacher‘s über den Bauch und leckt ihn auf.“ (S. 27) unterstreicht das: Er ist derjenige, der noch einiges lernen muss. Ob er ohne sie zurechtkommen wird, ist fraglich. Vorher jedoch muss sie es zustande bringen, die Biege zu machen. Bleibt zu hoffen, dass es ihr gelingt, immerhin verlangt sie nach mehr von dem Zeug.
Originaltitel: I Could See the Smallest Things
Ich-Erzählerin Nancy steht auf, als sie hört, dass die Gartenpforte geöffnet wird. Sie sieht niemanden, geht dennoch raus, um nachzuschauen, da ihr das offene Tor keine Ruhe lässt. Sie bezeichnet es als „Mutprobe“. Und hier haben wir für mich ein Thema: Abwechslung. Fortkommen. Denn normalerweise passiert nichts in ihrem Leben mit Cliff, den sie zu wecken versucht. „Ich schob und stieß ihn. Aber er stöhnte nur.“ (S. 38), heißt es, und „Er lag da wie ohnmächtig.“ (S. 37) Nichts ist los mit ihm. Das Leben: erstarrt.
Als sie im Begriff ist, die Pforte zu schließen (das Abenteuer zu beenden), trifft sie auf den Nachbarn. Bei Sam Lawton ist ordentlich was los: Er verlor seine Frau, heiratete sie, wurde Vater, verlor seine Frau endgültig, trank, gab das Trinken auf. Nicht alles davon ist schön, keine Frage, aber Stillstand gibt’s bei ihm nicht, er kann ja nicht einmal aufhören zu kauen.
Sam zeigt ihr die Schnecken, die er in ein Einmachglas sammelt. Er tut etwas gegen diese langsamen Tiere, ist allgemein aktiv, im Gegensatz zu Cliff – und zu Nancy, von der es im Garten noch heißt: „Ich dachte bei mir, das muss ich mir gut merken, wie es ist, draußen herumzuspazieren, einfach so.“ (S. 39), ehe sie zurückkehrt in ihr festgefahrenes Leben.
Abschließend: Den Zaun halte ich für bedeutsam. Nach einigem Alkohol baute Sam einen, woraufhin Cliff einen errichtete. Beide machten die Schotten dicht. Sam deutet an, wieder mit Cliff in Kontakt kommen zu wollen – wohl weil ihm sein turbulentes Leben selbst nicht geheuer ist. Das seiner Nachbarn ist ja auch berechenbarer, kontrollierbarer. So ist es manchmal – man will das, was man nicht hat. Davon kann Nancy ein Lied singen.
Originaltitel: Sacks
Buchvertreter und Ich-Erzähler Les trifft seinen Vater, den er seit mehreren Jahren – seit der Scheidung der Eltern – nicht gesehen hat. Dieser nutzt das Treffen, um ihm von seiner Affäre zu berichten: Palmer hat seine Frau – Les‘ Mutter – mit der Vertreterin Sally Wain betrogen.
Dies ist eine der Kurzgeschichten in „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“, die mich Nerven kostete. Man kann sie in verschiedene Richtungen lesen, finde ich. Das ist herausfordernd bis frustrierend – und ich mag das. Herrlich, wenn man nicht aufhören kann, über die Geschichten nachzugrübeln und immer neue Details entdeckt.
Was ich sagen kann, ist Folgendes:
Zunächst zum Titel: Tüten, nach dem Original eher: Säcke. Sein Vater versucht, ihm etwas mitzugeben von sich, etwas abzuladen bei ihm. Les lässt die Süßigkeiten für Frau und Kinder da, nimmt aber trotzdem etwas mit: eine Erkenntnis.
Für mich geht es in der Story um Verständnis: Der Vater vergewissert sich in einem fort, dass sein Sohn ihm folgen kann – er möchte so gerne verstanden werden, will, dass man ihm Verständnis entgegenbringt.
Verständnis kriegt er nicht, der Vater. Zwar verurteilt Les ihn nicht, aber sie kommen auch nicht auf einen Nenner. Nachdem er fragt „Ist er nicht hinter dir her?“, sieht Palmer sen. ihn verständnislos an und wirft ihm vor, keine Ahnung zu haben. Bloß: Wovon? Ich denke: Davon, wie es nach (Entdeckung) einer Affäre weitergeht. Davon, dass keiner der Beteiligten einfach darüber hinwegkommt.
Als sein Vater nachschiebt: „Du weißt nichts, außer wie man Bücher verkauft.“ (S. 51) – was meint er? Dass Les blind ist für das Offensichtliche? Weckt er ihn auf damit?
In der Anfangsszene (im Hotel) sagt er: „Ich sehe, wie in einigen Gebäuden nach und nach Lichter angehen, wie von den hohen Schornsteinen in dicken Säulen Rauch aufsteigt. Ich wünschte, ich müsste nicht hinsehen.“ (S. 43), was für mich darauf hindeutet, dass er allein ist und es ihm nicht gut geht damit. Er möchte nicht, dass die Lichter angehen, will nicht sehen. Nicht wahrhaben. Aber was? Die Liaison? Dass die Ehe zu Ende ist? Es kein Zurück gibt zur Normalität?
Ich denke, er steht hier kurz vor der Trennung von Mary und den Kindern („‚Denen geht’s gut’, sagte ich, was nicht der Wahrheit entsprach.“ (S. 44) + der vorletzte Satz), obwohl er versucht, es zu verdrängen. Auch in anderen Situationen schaut er weg, mag nichts sehen von dem Spiel zwischen Mann und Frau.
Am Ende führt er seinen Vater, will ihn ins Taxi setzen (Palmer hat kein Auto, was gedeutet werden kann in Richtung Selbstbestimmung: Sein Leben ist durch diese Erfahrung außer Kontrolle, aus seiner Kontrolle geraten). Les übernimmt Verantwortung – und wird auch selbst eine Entscheidung treffen (müssen), die wiederum zum letzten Satz führt. So hat jeder sein Päckchen zu tragen, egal, inwiefern er sich schuldig gemacht hat oder nicht.
Originaltitel: The Bath
Eine Mutter bestellt eine Raumschiff-Torte für den 8. Geburtstag ihres Sohnes Scotty, doch die Party wird abgesagt, nachdem er auf dem Schulweg angefahren wird. Seine Eltern warten im Krankenhaus, dass er die Augen aufschlägt, nach stundenlangem Ausharren entscheidet sich der Vater, nach Hause zu fahren, um ein Bad zu nehmen. Natürlich wäscht das Wasser nichts weg von seiner Angst, er findet keine Wärme, Geborgenheit, Entspannung, auch, weil das Telefon klingelt – die Torte ist fertig. Er weiß nichts davon, dass seine Frau Ann diese bei dem wortkargen Bäcker bestellt hat, beendet das Gespräch. Und das ist ein Thema der Geschichte: Fehlende (klare) Worte. Kommunikation.
Der Mann redet das Nötigste, der Kumpel verrät sein Geschenk nicht, Scotty spricht nicht mit seinem Freund, nachdem er zu Boden ging, seit er im Koma liegt, kommt kein Laut über seine Lippen. Der Arzt spart sich Klartext; wenn er etwas sagt, dann eher über Ann als zu ihr, auch der Ehemann tut das. Es gibt allerhand (oft kalt wirkendes) Schweigen – und daraus resultierend viel Unsicherheit und Hilflosigkeit.
Ein einziges Mal bricht alles aus Ann Weiss heraus – gerade dort, wo es in diesem Moment niemanden interessiert. Sie weiß: Es ist das (Ver-) Schweigen, das mit das Schlimmste ist. Deshalb versucht sie, die Stille zu vertreiben. Doch das bringt nichts, es sind nicht die Worte, die die Leute hören wollen. Und so geht die Geschichte zu Ende: Das Telefon klingelt, sie hofft auf Neuigkeiten. Wir erfahren, dass es ein Mann ist, der anruft – aber welcher? Er scheint zu stocken – liegt es an der Verzweiflung, die er in ihrer Stimme wahrnimmt? Ist es der hartnäckige Bäcker, der sein Geld will? Möglich. Oder der Arzt, der sie bis dahin nur Ann nannte? Hoffentlich nicht, wir wollen, dass sich Scotty ins Leben zurückbeamt und es nur gute Nachrichten gibt, sodass die plötzliche förmliche Anrede nicht gebraucht wird. Und so bleiben wir zurück, wünschen uns das, was in dieser Geschichte fehlt: Mehr Worte, klare Aussagen, Trost.
Originaltitel: Tell the Women We‘re Going
Die wohl schockierendste Kurzgeschichte aus „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“:
Bill Jamison und Jerry Roberts sind Freunde seit früher Kindheit, teilen alles – bis Jerry Carol heiratet (die sie bis dahin auch teilten). Bill kommt mit Linda zusammen, sie sehen sich wieder regelmäßig bei Jerry, der bereits Kinder hat.
Wie der Titel verrät, fahren die Männer bei einem dieser Treffen alleine weg. Sie stoppen beim „Recreation Center“ und trinken etwas, wobei auffällt, dass niemand von ihnen, Bill/Jerry/Riley, die Frage nach dem Befinden beantwortet. Es ist eine allseitige Unzufriedenheit zu erahnen. Jerry sieht älter aus, als er ist, hat sich verändert, wirkt abwesend, die Verbindung der einst Unzertrennlichen hat mit Jerrys Hochzeit einen Riss bekommen, der noch heute spürbar ist.
Sie fahren weiter – und Jerry wird übermütig, will zwei junge Radfahrerinnen aufgabeln. Er redet unflätig daher, verfolgt sie. Hier ist von Bedeutung, dass Bill sich anschließt, er macht mit, aber nicht, weil er auf dasselbe aus ist wie Jerry. Bill geht davon aus, allerdings denken sie nicht mehr in dieselbe Richtung. Er ist nicht so hartnäckig wie Jerry, schlägt mehrfach vor, einen Rückzieher zu machen. Im Verlauf verliert er das Auto (sie haben sich immer eins geteilt, das ist wichtig) aus den Augen, den Highway, er folgt nur noch, entscheidet nicht selbst, verlässt die geregelten Bahnen. Er baut darauf, dass es ist wie früher, dass er seinem Freund vertrauen kann, dass sie dasselbe wollen – doch so ist es nicht.
Das Ganze endet in einer Katastrophe. Dass Jerry gewisse Aggressionen in sich trägt, deutet sich durch seinen Schlag in den Bauch, das Zerdrücken der Dose und seine Wortwahl an. Dass es so ausufert, überraschte mich dennoch. Die Wut, die sich in seiner Ehe aufgestaut und auf Frauen im Allgemeinen übertragen hat, entlädt sich hier. Man erwartet Schlimmes (eine Vergewaltigung, um es zu benennen), aber das reicht ihm nicht (Carol ist schon wieder schwanger, womöglich ist das der Grund, weshalb es ihm eben nicht darum geht. Die Ehe, die Kinder, die Verantwortung – er will nicht noch mehr davon).
Dass er Bill in den Bauch boxt und sich später beide Frauen vornimmt, obwohl er Barbara seinem Kumpel zugesprochen hat, lässt eine Wut gegen ihn vermuten. Schließlich hätte genauso gut Bill Carol heiraten – und Jerry „frei“ sein können.
Originaltitel: After the Denim
Edith und James Packer gehen – wie so oft – zum Bingo, doch diesmal ist es anders: Der Parkplatz belegt, die Stammplätze von einem jungen Paar besetzt, das sich in Jeans und Jeansjacke, langhaarig und mit Schmuck behangen präsentiert. Es sollte ein Freitagabend wie jeder andere werden, der Buchhalter im Ruhestand ist empört. Schnell kommen wir dahinter, weshalb: Die beiden führen ihm vor Augen, dass er langsam „abgelöst“ wird. Sie sind eine andere Generation, gehören nicht mehr der an, die jetzt in Jeans und mit Ohrring durch die Gegend rennt. Deren Unbeschwertheit – sie schummeln ja sogar! Irgendwann aber ist es vorbei mit der Leichtigkeit, da wird man verdrängt vom Platz der Gewinner, kommt nicht länger durch mit allem. Der widerstandsfähige Jeansstoff wird ersetzt, man wird angreifbarer, auch gesundheitlich – wie Edith, die nach dem Toilettenbesuch verkündet: „Die Flecken sind wieder da“ (S. 79) Zu Hause sagt sie: „Ich glaube, da unten ist was Ernstes im Gange.“ (S. 82) James spuckt dann noch Tomatensaft weg – soll uns das alles auf das Thema Blut stoßen?
Es fällt auf, dass Edith immer „ich“ sagt, nie „wir“, was ein zusätzlicher Hinweis sein könnte. Wollen sie ein Baby haben? Hält die Schwangerschaft (erneut) nicht, weil sie älter sind und somit das Risiko für Komplikationen erhöht ist? Weiß sie es, wagt sie deshalb kein „Wir“ – und sei es nur, um James einzuschließen?
Der ist frustriert und traurig, sie wurden verdrängt – mit welchem Recht? Sie sind erfahrener, wissen mehr – was zur Sprache kommt, wenn er sagt: „Er würde ihnen sagen, was auf einen wartete – nach den Jeans und nach den Ohrringen, nach den Berührungen und den Betrügereien beim Spiel.“ (S. 83)
Er ist wütend, er ist machtlos, gegen die Verdrängung kann er so wenig ausrichten wie gegen die gesundheitlichen Probleme. Aber er ist auch mitfühlend seiner Edith gegenüber – ein Halt, den er gerade ebenfalls braucht. So widmet er sich dem Sticken – hier hat er den blauen Faden unter Kontrolle.
Das Winken am Ende – ein Abschied. Die sorgenfreien Tage sind gezählt, der Bingo-Abend hat sie eingeläutet, die stürmische Zeit.
Originaltitel: So Much Water So Close to Home
Dies ist eine Kurzgeschichte, die es mir etwas schwerer machte.
Der Einstieg ist spannend, die kühle Atmosphäre, die Ich-Erzählerin Claire, die uns von einem Ausflug ihres Mannes mit seinen Freunden erzählt, der es in sich hat:
Letzten Freitag, sie fuhren in die Berge, um zu angeln, entdeckten sie die Leiche eines Mädchens. Statt umzukehren, schlugen sie ihr Nachtlager auf, holten sie ans Ufer, banden sie fest. Am nächsten Tag angelten sie wie geplant, am übernächsten reisten sie ab – und erst dann informierte Stuart, der Mann der Erzählerin, die Polizei. So weit, so schockierend.
Claire will dennoch etwas unternehmen mit ihm, sie fahren zu einem Picknick-Gelände. Ihr fällt ein Bach auf, sie denkt „So viel Wasser so nah bei uns“ und fragt: „Warum musstet ihr so weit fahren?“ (S. 89) Er würgt sie ab, doch sie erinnert sich an ein Verbrechen, das in ihrer Kindheit passierte. Im Verlauf wird deutlich, dass sie traumatisiert ist und Männern im Allgemeinen (auch ihrem) misstraut. Sie geht auf Abstand.
Während er nicht zurückschaut (wenn sie das Geschirr runterwischt zum Beispiel), besucht Claire die Beerdigung des Mädchens. Bemerkenswert finde ich die Szene mit ihrer Friseurin:„‚Wir waren uns nicht sehr nah‘, sagte ich. ‚Aber du weißt ja.‘“ Was weiß sie denn? Dass Stuart und seine Freunde Gordon Johnson, Mel Dorn und Vern Williams auf der Titelseite der Zeitung und womöglich in Verbindung mit dem Verbrechen stehen? Sehen es alle wie Claire? Zumindest der Telefonanruf am frühen Morgen (ein Journalist?) deutet darauf hin, dass sie nicht die Einzige ist, die seine Beteiligung in Betracht zieht (eine Story wittert?), zudem äußert sie ihm gegenüber mehrfach, er wisse es – als wäre er schon anerkannt verurteilt worden. Umso seltsamer die Abschlussszene – und auch wieder nicht. Sie tut, was sie dafür hält, das von ihr erwartet wird. Ihre Schwiegermutter will, dass abgenommen wird, wenn sie anruft, sie fegt auf, was sie in Wut kaputtwirft, die Menschen wollen Anteilnahme sehen, Stuart meint zu wissen, was sie braucht – also spielt sie mit. Ihre Zweifel bleiben, ihre Angst ist größer (das Wasser ist wichtig, am Ende rauscht es, übertönt, was sie eigentlich will. Das Wasser ist ihre Angst), aber sie tut es – wie der letzte Satz unterstreicht – für den gemeinsam Sohn Dean, dessen Kindheit nicht so abrupt enden soll wie ihre eigene.
Ich geb‘s zu: Claire ist eine unzuverlässige Erzählerin. Aber ganz ehrlich: Die Truppe hat sich irrsinnig verhalten. Fraglich ist nicht, ob sie etwas falsch gemacht hat, sondern nur wie viel. Man rätselt mit – und versteht Claire, egal wie begründet ihr Misstrauen ihrem eigenen Mann gegenüber zum aktuellen Zeitpunkt ist.
Originaltitel: The Third Thing that Killed My Father Off
Selten bei Carver, nicht nur in „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“: Die Geschichte beginnt direkt mit der Einbindung des Titels. Wir erfahren: Dummys Tod ist Punkt drei auf der Liste der Dinge, die den Vater des Erzählers umbrachten.
Dummy, dessen richtigen Namen wir nie lesen, ist seit jeher ein Außenseiter. Er wohnt draußen, es werden Witze auf seine Kosten gemacht, seine Frau soll mit Mexikanern flirten. Niemand scheint ihm ernsthaft wohlgesonnen. Er gilt als taub, spricht nie.
Der einfache Arbeiter verändert sich, nachdem er auf Hinweis von Del Fraser (er ist der Vater von Jack, der aus der Ich-Perspektive berichtet) drei Fässer Schwarzbarsche für seinen Teich bestellt, den er fortan mit einem Zaun sichert. Ich glaube: Er will etwas behalten, nur für sich, nicht teilen. Deshalb möchte er auch nicht, dass die Frasers (oder sonst jemand) zum Angeln kommen. Wegen eines Vorwands kriegen sie letztlich doch einmal die Gelegenheit, aber mitnehmen dürfen sie keinen der Barsche, die sich sehr wohlfühlen bei Dummy.
Die Hinweise, dass etwas passiert, verdichten sich, als Dummy mit den Frasers zusammen ist: Blut beim Auspacken der lebenden Lieferung, die Schoten „rasselten zornig.“ (S. 102) Und es geschieht tatsächlich:
Im Februar tritt der Fluss über die Ufer, die Überschwemmung nimmt viele Fische mit sich, hinterlässt eine tote Kuh und Dummy, den Jack wie folgt beschreibt: „Er stand einfach nur da, der traurigste Mensch, den ich je gesehen hatte.“ (S. 107) Er will etwas behalten, wenn schon nicht seine Frau, doch es klappt nicht. Er sieht ein, dass er weder in der Stadt noch zurückgezogen auf dem Land sein Glück findet – und so beendet er das Leben seiner Frau sowie sein eigenes. Bereits zuvor zeichnet sich ab, dass er sich weniger bieten lässt: Er wehrt sich gegen seinen Kollegen, geht nicht mehr pflichtschuldig jeden Tag zur Arbeit, um sich mobben zu lassen. Er macht dem ein Ende. Er. Er wartet nicht darauf, dass jemand anderes (und sei es die Natur) es tut.
Dass er sich ertränkt, ja, aus seinem Teich „geangelt“ wird, unterstreicht noch einmal, wie wichtig ihm die Fische waren, die so zahlreich den Menschen zum Opfer fallen.
Interessant ist, dass Del versucht, die Schuld auf die Frau zu lenken. Sein Sohn glaubt nicht daran – und ich auch nicht. Ich denke, er weiß, dass er sich mitschuldig gemacht hat. Gerade die Tatsache, dass er das „Angeln“ mitangesehen hat, wird es ihm deutlich vor Augen geführt haben. Jack hat das erkannt – es (sein Schuldgefühl) war das Dritte, was seinen Vater umgebracht hat.
Originaltitel: A Serious Talk
Wir folgen Burt, der am Tag nach Weihnachten Vera aufsucht. Gestern hat er hier gefeiert mit ihr und den Kindern, dann ist etwas vorgefallen – und heute will er sich entschuldigen.
Es wird deutlich, dass er die Trennung, Vera hat einen Neuen, nicht verwunden hat, er spricht von „seinem Haus, seinem Zuhause“ (S. 112) und versucht noch immer, seine Frau zu kontrollieren. Dass er den Aschenbecher, den er ebenfalls als seinen betrachtet, wegen der fremden Zigaretten reinigt, ist der Versuch, sein Eigentum wieder sauber zu machen, den Schmutz wegzuwaschen. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass die Gegenseite, Vera (und Anhang), alles so lässt, wie es ist. Gestern hat Burt eine Torte fallen- und liegenlassen, sie ist noch immer dort. Ebenso die Reste der Feier. Es stört sie nicht. Aber Burt wird deutlich vor Augen geführt, was geschieht.
Seine Frau hat nicht nur einen neuen Mann an ihrer Seite, sie soll Burt auch etliche Male betrogen haben. Ich glaube, dass Carver nicht zufällig sechs Torten eingebaut hat oder die Tatsache, dass Vera für den Flötenunterricht angemeldet ist. Sie nimmt überdies einen Telefonanruf an von einem Mann, der „Charlie“ sprechen will, zieht sich dafür ins Schlafzimmer zurück. Dass der Apparat klingelt, als das Wasser zu kochen anfängt, halte ich für einen weiteren Hinweis. Auch die Raucherei. Wir glauben, dass es stimmt.
Das ist nicht okay.
Aber:
Während Vera längst über ihn hinweg ist, lassen seine Taten noch immer an Kurzschlusshandlungen denken. Er hat ein Alkoholproblem und einige andere. Wir verstehen, dass es kein Zurück gibt. Es geht nicht mehr um die Schuldfrage, um wieder zueinanderzufinden, es braucht lediglich eine Lösung, um irgendwie auszukommen miteinander – und zwar als getrennte Menschen. Auch wenn er am Ende ein klärendes Gespräch ankündigt, wissen wir, dass es nichts zu sagen gibt (er will über den Aschenbecher/Teller reden, nicht über seine wahren Gefühle). Am Schluss legt er den Rückwärtsgang ein – nichts deutet darauf hin, dass er in irgendeiner Art und Weise nach vorne schauen und etwas ändern wird. Leider.
Originaltitel: The Calm
Eine starke Geschichte aus „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“:
Ein Ich-Erzähler lässt sich die Haare schneiden und beobachtet drei Männer, die warten. Einen erkennt er: Charles, der Wachmann einer Bank. Von Bill, dem Friseur, angesprochen, erzählt Charles von seiner Jagd, davon, wie er mit seinem Sohn einen Hirsch erlegen wollte, der jedoch (aufgrund der „Schwäche“ des Jungen) entkommen ist.
Für mich geht es in dieser Geschichte um Männlichkeit und Sicherheit, um Stärke/Schwäche, Mut und Feigheit.
Die Wartenden geraten aneinander, weil Albert findet, Charles müsste sich um den Hirsch kümmern, statt in dem Laden abzuhängen. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass Albert ein Lungenemphysem hat und als „halb tot“ (S. 126) bezeichnet wird. Der Kranke sympathisiert bzw. identifiziert sich mit dem angeschossenen Hirsch, der leidet und womöglich noch immer auf eine Erlösung wartet.
Charles und Albert stehen kurz vor einer Schlägerei, der Dritte stachelt sie zusätzlich an, doch der Friseur sorgt nicht nur durch schützende Gesten dafür, dass sich der Erzähler sicher fühlt, er sorgt auch für Ruhe. Bedeutsam ist, dass anfangs bezweifelt wird, dass Bill ein Jäger ist. Er ist, wie er am Ende der Geschichte unter Beweis stellt, ein sanfter Mann. Und trotzdem hat er sich gegen die Pöbelnden durchgesetzt. Man muss nicht gewalttätig sein, um Stärke zu demonstrieren. Obwohl er täglich eine (potenzielle) Waffe bei sich trägt, setzt er sie nicht ein, um anderen zu schaden, im Gegenteil.
Die letzten Sätze können verschiedentlich verstanden werden. Wird hier eine Beziehung zwischen Bill und dem Erzähler suggeriert? Sicher ist: Erst als die aufbrausenden Männer den Laden verlassen, fühlt der Erzähler die titelgebende Ruhe und den Mut, um eine längst überfällige Entscheidung zu treffen. Das wieder wachsende Haar lese ich als Erkenntnis, Weisheit. Gleichzeitig kann er es abschneiden lassen, kann sich verändern, kann beispielsweise das Angeln, das womöglich seinen „männlichen Anteil“ darstellen soll, ablegen, wenn er will. Es liegt bei ihm – und der Friseur hat ihm die Sicherheit vermittelt, die er braucht, um zu wissen, dass er sich jederzeit auch auf sanfte Art im Leben behaupten wird.
Originaltitel: Popular Mechanics
Ein Paar, er hat seinen Koffer gepackt und will gehen, streitet sich um das gemeinsame Baby. Es endet in einem Tauziehen – und keiner von beiden gibt nach.
Ah, keine schöne Geschichte. Carver legt den Fokus voll auf die schockierende Handlung, niemand kriegt einen Namen, es gibt keine Anführungszeichen (was auch den Mangel an Kommunikation unterstreicht. Selbst wenn sie etwas sagen, ist es kein konstruktives Gespräch, statt zu sprechen, streiten sie). Der weiße Schnee schmilzt, hinterlässt schmutziges Wasser, es herrscht Dunkelheit, ein Blumentopf zerbricht. Keine gute Ausgangslage. Und so geht es weiter:
Die beiden konzentrieren sich komplett auf ihre Interessen, niemand denkt wirklich an den Sohn, an dem gezerrt wird. „Ich will den Kleinen“ und „Lass ihn los“ (S. 130) werden wiederholt – er will, sie soll.
Einmal hat sie Bedenken, er könnte dem Baby wehtun, was er verneint – dennoch ziehen beide weiter, weshalb wir den Einwand nicht sehr ernst nehmen.
Ich wollte, dass es so ist wie in Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“, wenn es denn schon derart dramatisch sein muss. Aber ich habe es nicht gekriegt.
Ich kann das Baby auch symbolisch für die Beziehung ansehen. Zunächst will er ein Foto mitnehmen (Erinnerung an die guten Zeiten), letztlich streiten und reißen sie, niemand gibt nach, sie vergessen völlig, dass es einmal anders war zwischen ihnen. Hier kommt für mich der Titel in Spiel: Viele Partnerschaften gehen so zu Ende (was ein weiterer Punkt für die Namenlosigkeit der Beteiligten ist). Jeder will etwas, nur nicht nachgeben, es geht nur noch darum, dem Gegenüber zu schaden. Sie handeln aus ihrer Verletzung heraus.
Zweimal wird die Schulter erwähnt, die eine große Rolle spielt bei Bewegungen. Sie kann ebenfalls dafür stehen, Verantwortung zu übernehmen, aber auch Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln. Nichts davon trifft auf die zwei in dieser Situation zu.
Eine sehr kurze Geschichte aus „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“, aber auch eine der schlimmsten.
Originaltitel: Everything Stuck to Him
Eine Story aus „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“, über die ich länger nachsinnen musste.
Zunächst haben wir hier einen Vater und seine Tochter, Letztere will etwas aus ihrer Babyzeit hören. Also wird erzählt (es gibt keinen Ich-Erzähler) von damals, als sie in der Nacht, bevor ihr Vater mit Carl zum Jagen gehen wollte, nicht aufhörte zu schreien, sobald man sie ablegte. Er wird immer als Junge bezeichnet, die Mutter als Mädchen. Sie waren noch nicht richtig erwachsen (das unterstreicht die Andeutung mit dem Briefpapier und seine Schwärmerei für die Schwestern seiner Frau).
Es kommt zu einer wichtigen Situation, als er sich ankleidet und losgeht, um zum Jagen zu fahren, es wegen der Drohung, er müsse sich entscheiden (Familie ja oder nein) aber nicht durchzieht. Nach seiner Rückkehr schlafen die Mädchen friedlich (brauchen ihn nicht), doch er geht trotzdem nicht. Ob er auf Dauer daran festhält?
Worauf der Titel „Alles klebte an ihm“ anspielt:
Als er sich für die Familie (auch seine Tochter wollte in diesem Moment an ihm „kleben“) und gegen die Jagd entscheidet, macht sie ihm eine Waffel, die er mit Sirup übergießt. Der Teller kippt ihm in den Schoß, alles klebt an seiner Unterhose. Der Satz „Und ich hatte solchen Hunger, sagte er und schüttelte den Kopf.“ (S. 140) fällt. Ich sehe hier eine Warnung: Er hat Hunger, er wollte jagen, er will auch andere Frauen. Aber wenn er etwas in die Richtung tut, wird dies an ihm kleben. Er wird es nicht abschütteln können. Deshalb sollte er sich gut überlegen, welche Schritte er geht.
Eingangs wird erwähnt, dass die Tochter über Weihnachten in Mailand ist und ihn dort trifft. Ich denke, die Eltern haben sich früh getrennt, sie ist bei ihrer Mutter geblieben. Er ist seit jeher Jäger – eventuell auch ein Schürzenjäger, was die Sätze rechtfertigt, die verraten, dass er auf die Schwestern seiner Frau stand. Hat er die Familie verlassen? Wir wissen es nicht. Doch seine Äußerung könnte es implizieren: „Die Dinge verändern sich, sagt er. Ich weiß nicht, wie sie das tun. Aber sie tun es, ohne dass man es merkt oder dass man es möchte.“ (S. 140) Sie sprechen keinen Klartext, seine Tochter und er, sie belässt es dabei. Aber das „trotzdem“ in ihrer Frage finde ich interessant, außerdem das „eine Zeit lang wenigstens“ (S. 141) aus dem letzten Satz. Ich glaube, es war so. Er ist letztlich jagen gegangen – was auch immer.
Originaltitel: What We Talk About When We Talk About Love
Da haben wir sie: Die vorletzte und dem Buch seinen Titel gebende Kurzgeschichte „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ oder auch: Der Versuch, zu erklären, was Liebe ist.
Wir erleben einen Gin-lastigen Abend der Freunde Dr. Mel(vin) R. McGinnis, Herzchirurg, seiner Frau Teresa, genannt Terri, dem Ich-Erzähler Nick und seiner Partnerin Laura.
Zunächst geht es um Terris Ex Ed, der sie misshandelt, aber – davon ist Terri überzeugt – auf seine Weise geliebt hat (Mel will davon nichts wissen). Wenn von Rattengift und Fangzähnen die Rede ist, könnte man meinen, er hätte sich in ein Tier verwandelt. Mel wurde von ihm bedroht. Letztlich brachte er sich um. Es hört sich ein wenig bewundernd an, wenn sie sagt: „Aber er war bereit, dafür zu sterben. Er ist dafür gestorben.“ (S. 148) Für die Liebe zu ihr. Geht es für sie darum? Jemanden zu finden, der zu einem solchen Schritt bereit ist, wenn er sie nicht haben kann? Dann wäre sie bei ihrem Mann an der falschen Adresse:
Mel hat beruflich viel erlebt und gesehen, berichtet insbesondere von einem Unfall auf der Interstate, bei dem ein junger Betrunkener fast ein Paar in den 70ern ums Leben brachte. Die Alten überlebten – und ihm machte es am meisten zu schaffen, dass er seine Angetraute durch die Verbände nicht sehen konnte. Mel kann das nicht nachvollziehen.
Spannend ist, dass sie trinken und trinken – und danach ein neues Restaurant testen wollen. Es ist geplant, hinzufahren – in ihrem Zustand. Das in Verbindung mit der Geschichte des alten Paares führt zu folgender Frage: Würden sie ebenso fühlen wie der Mann, dem es am meisten zusetzte, dass er seine Frau nicht sehen konnte? Der alles andere ertrug, nur das nicht? Ich denke: Mel wohl kaum.
Jede Liebe ist anders, so verstehe ich die Story. Manchmal ist sie laut und manchmal leise, mal offensichtlich und doch immer unerklärlich. Sie verändert sich mit der Zeit. Jeder sieht sie anders, nicht einmal der Herzchirurg kann sie wirklich erklären, vor allem, da seine erste Ehe scheiterte und er nun eher Hass für seine Ex empfindet als alles andere. Seine Kinder liebt Mel – und so unterlässt er einen Anruf, dennoch wünscht er deren Mutter einen tödlichen Bienenstich, was darauf hindeutet, dass die Abneigung ihr gegenüber größer ist als das Verständnis, dass seinen Kindern durch ihren Tod Schaden zugefügt werden würde (denn sie lieben ihre Mutter). Er geht als Arzt sehr sachlich an die Frage heran, was Liebe ist, geht davon aus, dass sich die Freunde nach einer kurzen Trauerphase jemand anderem zuwenden würden. Der Erzähler und Laura würden dem meiner Ansicht nach nicht leichtfertig zustimmen, sie lieben anders als Mel und Terri. Sie sind seit 1,5 Jahren zusammen (Mel sagt 18 Monate, um die Zeit kleiner zu machen; er verniedlicht den Erzähler auch, indem er ihn „Nicky“ nennt. Er hält sich für den mit mehr Erfahrung und Durchblick) – und doch denke ich, dass sie nach fünf Jahren nicht an der Stelle von Mel und Terri sein werden.
Die Geschichte geht ohne Gin (somit ohne die Lockerheit und Bereitschaft, weiter über dieses Thema zu sprechen) und in Dunkelheit zu Ende. Dort bleiben sie, die alle schon eine Ehe und Erfahrungen hinter sich haben, tappen weiterhin im Dunkeln auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: Was ist Liebe?
Originaltitel: One More Thing
Eine Familie, die zerbricht:
L. D. hat ein Alkoholproblem und lebt auf Maxines Kosten. Als diese nach Hause kommt und ihn mit der 15-jährigen Tochter Rae streiten sieht, reicht es ihr. Sie schmeißt ihn raus.
Er packt seine Sachen (in ihren Koffer), nimmt alles mit, sogar Maxines Wimpernzange. Er schindet Zeit, will nicht gehen. Aber er muss.
Er bezeichnet das Familienheim als „Irrenhaus“, während Rae ihn immer wieder darauf hinweist, dass alles nur in seinem Kopf ist. Das ist wichtig. Er spielt auf allerhand Krankheiten an, Krebs usw., sagt indirekt: Ich bin krank, ich kann nicht aufhören zu trinken. Er sagt jedoch nie, dass er es will. Rae hält seine Äußerungen für Ausreden, lässt sie nicht gelten. Für sie ist das eine Frage des Willens, der Kontrolle – und dass er diesbezüglich Probleme hat, sehen wir daran, dass er sein Kind beschimpft, auf den Tisch schlägt und ein Gurkenglas schleudert (er wirft es aus dem Fenster, es fliegt raus, nach draußen – wie er gleich).
Auch Rae ist nicht unfehlbar. Sie schwänzt, sie raucht. Aber sie hat eine andere Verbindung zu ihrer Mutter, sie beschützen sich gegenseitig, während L. D. bedrohlich agiert. Noch wird ihr ihr Verhalten nicht zum Verhängnis. Es ist eben alles eine Frage der Dosis. Apropos:
Für mich ist die Namensgebung in der Geschichte bedeutsam:
Maxine, sie ist die Große, die Überlegene des Haushalts, sie verdient das Geld, sie wirft ihn raus.
L. D. ist eine gebräuchliche Abkürzung für letale Dosis / lethal dose – tödliche Dosis. Er hat zu viel getrunken, die Menge hat die Beziehung, das Familienleben umgebracht.
Zum Ende: „Er sagte: ‚Ich will nur noch eins sagen.‘ Aber dann fiel ihm nicht ein, was in der Welt das sein könnte.“ (S. 165)
Hier sind zwei Punkte von Bedeutung:
Dass ihm nichts einfällt, spielt auf Raes Aussagen an, dass alles im Gehirn entschieden wird.
Und: Die Kommunikation funktioniert nicht. Hat sie nie, nicht in letzter Zeit jedenfalls. Er hat in der Geschichte zu keinem Zeitpunkt über seine Gefühle gesprochen – und scheitert auch hier daran, in diesem Moment, in dem es wirklich darauf ankommt. Was für ein Abschluss – für das Buch insgesamt, denn genau darum geht es in „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“.
Mein zweites Buch von Raymond Carver – und wieder ein Volltreffer. Ich mochte alles an „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ und freue mich auf weitere Sammlungen von ihm.
Dieses Buch ist für dich, wenn du
Originaltitel: What We Talk About When We Talk About Love (1981)
Übersetzung: Helmut Frielinghaus
Verlag: S. Fischer
Erschienen: 23.05.2012
Seiten: 176
ISBN: 978-3-596-90388-7
Jetzt zu Amazon:
Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.
Mehr von Raymond Carver
Der Beitrag Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden – Raymond Carver erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>Der Beitrag Blumen für Algernon – Daniel Keyes erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>„Blumen für Algernon“ von Daniel Keyes ist ein vorhersehbarer, aber durchaus berührender Science-Fiction-Klassiker über ein wissenschaftliches Experiment zur Verbesserung der Intelligenz.
Der 32-jährige Charlie Gordon besucht die Mittelpunktschule für retardierte Erwachsene, arbeitet seit 17 Jahren in einer Bäckerei, hat Freunde und Spaß, sein Leben ist in Ordnung. Eine einzige Sache wünscht er sich: Intelligent zu sein. Als er für ein Experiment vorgeschlagen wird, das seinen IQ erhöhen soll, ist er begeistert – und wird tatsächlich ausgewählt. Der chirurgische Eingriff wurde zuvor an Algernon, einem Mäuserich, erprobt – und zeigt auch an Charlie Wirkung, der jeden Tag etwas schlauer wird. Doch die emotionalen Dinge kann er sich nicht anlesen, die muss er erfahren. Das bringt einige Herausforderungen mit sich – ebenso wie die Tatsache, dass er plötzlich Vorgänge durchschaut, die ihn wütend und ängstlich machen.
„Blumen für Algernon“ ist anfangs kein Buch, durch das man fliegt, vielmehr muss man es entziffern. Der Protagonist ist ein Mann mit einem IQ von 68. Ich zitiere den ersten Satz, um zu verdeutlichen, wie die Berichte aussehen, die Charlie vor dem Eingriff verfasst, hier noch überschrieben mit „Forschritsberich 1, 3 Merts“ statt „Fortschrittsbericht“ und „03. März“:
"Dr Strauss sagt fon nun an sol ich aufschreiben was ich denke und woran ich mir erinere und ales was ich erlebe."
eBook, S. 6, 1,4 %
Es bleibt nicht ewig so, aber die ersten Seiten ziehen sich. Er lernt die richtige Schreibweise schwierigerer Wörter, im Verlauf, dass es Kommata gibt und später, wie er sie verwendet. Das Ganze geht – rückblickend betrachtet – extrem schnell. Es ist beeindruckend, wie viel er sich in kurzer Zeit aneignet – und dass es (zunächst) keine Grenzen zu geben scheint.
Titel und Cover verraten es: Es geht nicht nur um Charlie. Das Experiment, das seine Intelligenz chirurgisch verbessern soll, wurde zunächst an dem Mäuserich Algernon durchgeführt. Die Operation hat dafür gesorgt, dass er nun als Genie im Irrgarten glänzt. Er wird im Käfig gehalten, muss für sein Futter arbeiten. Charlie widerstrebt das einerseits, weil das Tier nicht als solches wahrgenommen wird. Es ist ein Versuch, mehr nicht. Immer wieder ruft er den Wissenschaftlern ins Gedächtnis:
"Ich bin ein Mensch. Ich war es bereits, ehe ich unter das Messer des Chirurgen kam."
eBook, S. 102, 28,3 %
Denn die sagen über ihn:
"Als Charlie zu uns kam, war er ein Außenseiter der Gesellschaft, allein in einer Großstadt, ohne Freunde und Verwandte, die für ihn sorgten, ohne das geistige Rüstzeug, das ein normales Leben erlaubt. Ohne Vergangenheit, ohne Kontakt zur Gegenwart, ohne Hoffnung auf die Zukunft. Man darf wohl sagen, dass Charlie Gordon vor diesem Experiment nicht wirklich existierte..."
eBook, S. 186, 52,1 %
Zudem verkörpert Algernon die Intelligenz, die er haben will – und wird im Verlauf zum Wegweiser, der mir das Weiterlesen schwer machte. Man ahnt es, sieht es kommen. Es bestürzte mich, zu sehen, wie sich das Ganze entwickelt. Bei ihm. Und damit bei Charlie. Es gibt in der Mitte des Buches einen kleinen Aufstand, der mir gefiel, aber die meisten Szenen habe ich als sehr traurig wahrgenommen.
Zunächst will Charlie Gordon schlauer werden, um mitreden zu können. Er hat Freunde in der Bäckerei, in der er putzt und für die er ausliefert, er hat ein gutes Leben, träumt aber davon, sich über die großen Themen auszutauschen. Woher das kommt, erfahren wir nach und nach: Es hat mit seinem Elternhaus zu tun. Da ihm von klein auf eingebläut wurde, nicht richtig zu sein, ist der Wunsch, den er hegt, nachvollziehbar.
Doch dann stellt sich heraus: Sein Leben war anders, als er es wahrgenommen hat. Dadurch, dass er mehr versteht, erkennt er, dass seine Freunde keine Freunde waren. Nun, da er intelligent ist, wünscht er sich echte Verbindungen, aber so einfach ist das nicht. Vor allem, weil man aneckt, wenn man nicht mehr blind folgt, sondern eine eigene Meinung kriegt, hinterfragt, widerspricht, ja, letztlich überlegen ist. Wenn man kritische Situationen durchschaut, die sich früher unbemerkt hinter dem Rücken abgespielt haben, führt das unweigerlich zu Problemen: Was anfangen mit dem Wissen, wie handeln, wen verschonen?
Ich weiß ja, dass er kein Mitleid will. Ich habe ihn kennen gelernt durch seine Berichte, denn das gesamte Buch besteht aus seinen Notizen. Aber er tat mir leid. Ich konnte mit ihm fühlen und habe mir mehr als einmal gewünscht, alles könnte anders sein, er hätte andere Erfahrungen gesammelt in seinem bisherigen Leben – und seinem zukünftigen.
„Blumen für Algernon“ von Daniel Keyes, inzwischen verfilmt, erschien zunächst 1959 als Kurzgeschichte und umfasst im Roman 304 Seiten (359 in der von mir gelesenen eBook-Version). Die Geschichte startet am 03. März und endet am 21. November, sie spielt in einem nicht näher bezeichneten Jahr in New York (und anlässlich einer Tagung kurze Zeit in Chicago). Es gibt 17 Fortschrittsberichte.
Nicht nur der Verlauf der Story kriegte meine Aufmerksamkeit. Die Auffälligkeiten in Bezug auf die Rechtschreibung, Grammatik und Interpunktion habe ich bereits angesprochen, eine weitere Besonderheit ist, dass wir die Aufzeichnungen aus der Ich-Form lesen – bis Charlie anfängt, über sein „altes Ich“ in der dritten Person zu erzählen. Ich war gespannt, wo das hinführen würde. Es verdeutlicht in jedem Fall, dass sich die Vergangenheit nicht einfach abschütteln lässt.
Mit seinem wechselnden Intellekt wissen wir auch mehr oder weniger als er. Anfangs sind wir ihm überlegen, lesen mehr aus den Zeilen, als er begreift. Später würde er uns alle schlagen, schreibt aber so, dass die Wissenschaftler, für die er seine Gedanken und Erfahrungen festhält, ihm folgen können.
Der Text bringt zum Nachdenken, indem er allerhand Fragen auslöst:
Warum gibt es solche Experimente? Ist es in Ordnung, davon auszugehen, dass Charlie wegen seines IQs „verbessert“ werden muss? Wenn er vorher glücklich war – darf man überhaupt etwas ändern? Wer sollte diese Entscheidung treffen (er, der die Tragweite nicht versteht? Die Familie, die ihn seit 17 Jahren nicht gesehen hat?)? Wo ist die Grenze, wann muss Schluss sein? Ist es gleichzusetzen, dass zunächst er wegen seines geringen IQs gehänselt wurde – und sich später die Menschen von ihm abwenden, weil er als herablassend wahrgenommen wird? Wurde sein Leben wirklich besser oder war er stets isoliert, erst wegen seines niedrigen und dann wegen seines hohen IQs?
Vor Science-Fiktion schrecke ich immer zurück, aber dies ist ein Buch, das sich gar nicht weit weg anfühlte, eines, das ich mochte.
Vom geistig Zurückgebliebenen zum Genie, eine Wahnsinnsgeschichte, die ich nicht so schnell vergessen werde. Mich hat das Lesen von „Blumen für Algernon“ sehr traurig gemacht, ich hätte mir ein anderes Leben für Charlie gewünscht. Dennoch bin ich zufrieden mit dem Ende. Irgendwie.
Dieses Buch ist für dich, wenn du
Originaltitel: Flowers for Algernon (1959/1966)
Übersetzung: Eva-Maria Burgerer
Verlag: Hobbit Presse / Klett-Cotta
Erschienen: 06.03.2015
Seiten: 304
ISBN: 978-3-608-98815-4
Jetzt zu Amazon:
Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.
Eine andere Rezension
ist es "ein sehr ernstes und ruhiges Buch mit vielen Einblicken und Botschaften, die sehr ans Herz gehen." -
und da stimme ich zu.
Der Beitrag Blumen für Algernon – Daniel Keyes erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>Der Beitrag Ein Gentleman in Moskau – Amor Towles erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>„Ein Gentleman in Moskau“ ist ein leises, interessantes, amüsantes und kluges Buch, das sicher auch im zweiten Durchgang einige Überraschungen zu bieten hat.
Graf Alexander Iljitsch Rostov soll zum Tode verurteilt werden, doch das Gedicht „Wo ist es jetzt?“ aus dem Jahr 1913 sorgt stattdessen dafür, dass er ab dem 21.06.1922 lebenslang unter Hausarrest gestellt wird. Aus der Suite 317 wird er ausquartiert, bleibt aber im Hotel Metropol, in dem er seit vier Jahren wohnt, muss dort mit einer neun Quadratmeter kleinen Kammer vorliebnehmen. Es gelingt ihm – und noch einiges mehr.
Protagonist Graf Alexander Iljitsch Rostov wurde 1889 in St. Petersburg geboren. Er wuchs auf dem Familienlandsitz Gut Weile in Nischni Nowgorod auf, einem Anwesen mit zwanzig Zimmern und fast ebenso vielen Bediensteten.
Der Graf ist ein Lebemann, ein Feinschmecker, ein Mensch ohne Vorurteile, der Wert auf Takt und Höflichkeit legt. Manchmal mag er besserwisserisch daherkommen, seine charmante Art sorgt jedoch dafür, dass es ihm niemand übelnimmt. Er macht den Eindruck, als würde er nie die Fassung verlieren, weder durch Unruhen noch durch die Verhängung des Hausarrestes oder das Wissen, dass er erschossen wird, sobald er einen Fuß vor die Tür des Metropols setzt.
Die Bezeichnung „Gentleman“ passt zweifellos zu ihm, er beweist uns das an vielen Stellen. Ich mochte ihn, der schon früh mit Abschieden (von Menschen und Dingen) zu tun hatte, sehr.
„Anpassungsfähigkeit“ ist ein Thema, das in „Ein Gentleman in Moskau“ behandelt wird. Das Buch zeigt uns, dass wir anderen, egal in welcher Situation wir stecken, eine Hilfe sein können. Der Wert zwischenmenschlicher Beziehung ist riesig – und so lädt er die Menschen eben ein in seine kleine neue Welt. Die Geschichte ist ein Beispiel dafür, wie man sein Leben unabhängig von den Umständen genießt, ihm einen Sinn gibt.
Der Graf könnte wütend und verbittert sein, seinen Unmut an anderen auslassen, mit seinen Gedanken in der Vergangenheit festhängen, aufgeben. Er tut es nicht. Er akzeptiert das Urteil, nimmt die neue Situation an, arrangiert sich mit Vorhandenem, arbeitet an Lösungen und Verbesserungen. Zugegeben, es gibt schlechte Momente, sogar sehr dunkle. Aber er findet immer wieder zurück ins Licht, dahin, wo sich die Freude versteckt. Sein Leben ist nicht vorbei mit dem Urteilsspruch, im Gegenteil. Er hat einiges verloren – und viel gewonnen.
"Denn wenn Aufmerksamkeit in Minuten gemessen werden kann und Disziplin in Stunden, dann muss man Unbezwingbarkeit in Jahren messen. Wer aber für philosophische Betrachtungen nichts übrighat, möge einfach zu dem Schluss kommen, dass der Weise die Feste feiert, wie sie fallen."
S. 142
Und letztlich stellt der Graf fest:
"Aber am Schluss sind es die Unbequemlichkeiten, die am meisten zählen."
S. 430
Dadurch, dass der Protagonist im Hotel festhängt, trifft er allerhand Menschen – darunter solche, die sein Leben verändern: Hotelangestellte wie der Küchenchef Emile Schukuwski oder Andrei Duras, Maître d’Hôtel, die Näherin Marina, aber auch Gäste wie die mit ihren Hunden überforderte Schauspielerin Anna Urbanowa, die ihn aus dem Konzept bringt.
Eine wichtige Figur ist Nina Kulikowa, die neunjährige Tochter eines Bürokraten aus der Ukraine, der vorübergehend in Russland stationiert ist. Sie freunden sich an. Auch wenn er die eine oder andere gerissene Hosennaht in Kauf nehmen muss, profitiert er von den gemeinsamen Abenteuern und der kindlichen Neugier, die auf ihn überspringt. Außerdem wartet im Verlauf eine weitere Überraschung, die ohne Nina nicht möglich gewesen wäre. Darüber möchte ich mich allerdings ausschweigen, um den Lesespaß nicht zu trüben.
Der Großteil des Buches wird langsam erzählt. Das gemütliche Tempo passt zu dem Märchenhaften, das dem Roman anhaftet.
Der Fokus liegt auf dem Mann, der im Hotel festsitzt, nebenbei werden einige historische Ereignisse erwähnt. Das Geschichtliche bremst mich immer etwas aus, hier muss es mit Blick auf die Jahreszahlen fraglos auf die eine oder andere Weise eingebaut werden. Ich war dennoch froh, dass es keinen größeren Raum einnimmt.
Ich habe das Buch gerne gelesen, obwohl ich eher schleppend vorankam. Das Setting bietet einige Abwechslung, mit der Zeit entdeckt der Graf, wie viel Neues es im Hotel zu entdecken gibt, auch nach all den Jahren. Ich fand das sehr unterhaltsam.
Manche Einschübe und Details mögen seitenfüllend wirken, stellen sich später jedoch als wichtig heraus. Es hat Spaß gemacht, zu erkennen, dass vieles nicht so ist, wie es scheint. Es gibt Überraschungen – und am Ende kommt der Roman in Schwung. Eine zweite Lektüre ist sicher lohnend, um alle Verbindungen auszumachen.
Amor Towles hat sich dafür entschieden, dem Ende von „Ein Gentleman in Moskau“ etwas Rätselhaftes zu lassen. Das ist gut gemacht, es passt zum Rest und regt zum Nachdenken an. Wenn ihr den Roman bereits gelesen habt, könnt ihr hier einen Blick auf meine Gedanken und Interpretation werfen. Ich beantworte dort Fragen wie die nach der Identität der Frau.
Es ist ein fiktiver Roman, auch wenn er durchaus reale Ereignisse beinhaltet und im tatsächlich existierenden Hotel Metropol in Moskau spielt.
Der Aufbau weist Besonderheiten auf. Wir folgen Rostov über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren. Wenn wir uns die zeitlichen Abstände anschauen, fällt ein System auf, das sich in etwa in der Mitte umkehrt, so dass eine Art Countdown entsteht.
Der Mix überzeugt: Es ist dem Autor gelungen, verschiedene Stimmungen einzufangen und zu transportieren, der Humor lockert das Ganze auf. „Ein Gentleman in Moskau“ erzählt von einer Gefangenschaft, die sich oft nicht nach einer anfühlt, von politischen Ereignissen und Spionage, aber auch von Liebe, generationsübergreifender Freundschaft, Verantwortung und Freiheit. Ich mochte den fesselnden Schreibstil. Obwohl es ruhig zugeht, habe ich nie das Interesse verloren. Das Ende ist das Beste, dranbleiben zahlt sich aus.
Der Roman von Amor Towles wurde als Serie verfilmt. Ewan McGregor spielt Graf Rostov. Es ist eine Paramount+-Produktion, Staffel 1 kann man beispielsweise (aktuell) bei Amazon Prime Video kaufen.
„Ein Gentleman in Moskau“ ist ein Roman, den ich noch einmal lesen werde – und das behaupte ich gewiss nicht von vielen Büchern.
Ich mochte die Figuren, die Botschaft, das Märchenhafte, die Überraschungen und dass es mich dazu gebracht hat, mich über Birkenspanner in Manchester zu informieren.
Es ist keine Geschichte, durch die man fliegt, aber eine, für die man sich gerne Zeit nimmt.
Dieses Buch ist für dich, wenn du lesen möchtest über:
Originaltitel: A Gentleman in Moscow (2016)
Übersetzung: Susanne Höbel
Verlag: Ullstein
Erschienen: 09.11.2018
Seiten: 560
ISBN: 9783548290720
Jetzt zu Amazon:
Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.
Der Beitrag Ein Gentleman in Moskau – Amor Towles erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>Der Beitrag Hinter der Tür – Magda Szabó erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>In „Hinter der Tür“ erzählt uns Magda Szabó von ihrer einstigen Haushälterin Emerenc, die im Leben oft enttäuscht wurde und nicht mehr bereit war, irgendjemandem Macht einzuräumen.
Keine entspannte Wohlfühllektüre, aber sprachlich überzeugend, fesselnd, eindringlich.
Nie kommt man bei ihr weiter als bis in den Vorraum vor ihrer Wohnung, doch die Schriftstellerin, für die sie mehr als zwanzig Jahre lang als Haushaltshilfe arbeitet, schließt Emerenc Szeredás in ihr Herz. Ihre Zuneigung drückt sie auf befremdliche Weise aus, dennoch hat sie nicht nur „ihre Herrschaft“ in der Hand; alle Menschen und Tiere respektieren sie. Als sie schwer erkrankt und ihren vielen Putzstellen nicht mehr nachgehen kann, trifft die Nachbarschaft eine schwerwiegende Entscheidung.
„Hinter der Tür“ ist ein autobiografischer Roman der ungarischen Schriftstellerin Magda Szabó. Das Buch kann als eine Art Trauerbewältigung gelesen werden. Oder, wie sie es im ersten Kapitel ausdrückt: eine Einzelbeichte, eine Rechtfertigung für das, was am Ende enthüllt wird:
"Ich bin schuld an Emerencens Tod. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß ich sie nicht umbringen, sondern retten wollte."
(S. 9)
Emerenc ist als Hausmeisterin und Putzfrau tätig. Aufgrund ihres tadellosen Rufes kann sie es sich leisten, nur die Stellen anzunehmen, die sie nach Prüfung für würdig befindet. Auf das zugezogene Schriftsteller-Paar trifft das zu, auch wenn sie auf deren Beruf herabschaut. Während sie Tibor – der Herrschaft – gegenüber stets förmlich auftritt, gerät die alte Frau, die seit ihrem 13. Lebensjahr als Dienstmädchen in Budapest angestellt ist, mit der Erzählerin aneinander. Sie, immer in gestärkten Kitteln und mit Kopftuch unterwegs, gibt sich unnahbar, entwickelt jedoch gleichzeitig eine Sympathie für Magda, die sich für diese höchst seltsam äußert:
"Heute weiß ich, was mir damals noch nicht klar war, daß man Zuneigung nicht halbherzig, maßvoll und rational zeigen und daß ich niemandem die Form dafür vorschreiben kann."
(S. 99)
In ihre Wohnung lässt sie niemanden, nicht einmal ihren Verwandten, was Rätsel aufgibt und Interpretationen zulässt. Ihre Meinung spricht sie unverblümt aus. Den Hund der Erzählerin, einen Rüden, den sie auf den Namen Viola tauft, schätzt und schlägt sie gleichzeitig. Mehrere Anzeigen hat sie am Hals: Sie soll Tauben getötet, Leichen geschändet und politische Verleumdungen vom Stapel gelassen haben. Wer ist sie wirklich, was verbirgt sie in ihren eigenen vier Wänden?
Dass sie die Protagonistin des Buches ist, steht außer Frage, Magda, deren Name kaum je Erwähnung findet, die Intellektuelle und Privilegierte der beiden, verliert auf den ersten Blick jedes der vielen Kräftemessen haushoch. Wie kann sie beteiligt sein am Tod der teils gefürchteten und doch so geschätzten Frau aus Nádori/Csabadul?
Wir lesen von der Schriftstellerin, die sich Vorwürfe macht. Sie fängt am Anfang an, an dem Tag, an dem sie zum ersten Mal auf Emerenc trifft, und endet am Schluss, der die Wahrheit über den Tod der fleißigen Haushaltshilfe, die nach Schätzung Magdas um 1905 geboren wurde, offenlegt. Die Geschichte umspannt über zwanzig Jahre. Was ist so interessant an der alten Frau, die alles in Ordnung, aber auch jeden auf Distanz hält?
Ich denke, es liegt an dem großen Geheimnis um Emerencens Persönlichkeit, dass ich das Buch nicht weglegen konnte. Den kleinsten Hinweis darauf, wer die eigensinnige Frau ist, habe ich mit Freude gelesen. Was hat sie in der Kindheit erlebt, was bringt sie zum Weinen (es gibt ein einziges Schluchzen, von dem die Erzählerin zu berichten weiß), was ist ihr wichtig? Warum stößt ihr das Thema Macht so auf? Ich wollte alles wissen.
Es ist die Ehrlichkeit der Autorin, mit der sie sich selbst in ihren Zeilen betrachtet. Und es ist der Schreibstil, der ohne viele Adjektive auskommt, edel und durchdacht wirkt. Er sorgt dafür, dass der eher ereignisarme Roman bis zum Schluss unterhält – nicht zuletzt durch die unheimliche Note, die Magda Szabó ihm verleiht.
Eingerahmt wird die Geschichte, die in überschriebene Kapitel unterteilt ist, von dem Traum der Ich-Erzählerin, denn so fängt das Buch an, so endet es.
Der autobiografische Roman liest sich keineswegs wie ein langweiliger Bericht, es ist eine etwas skurrile, stellenweise witzige, insgesamt tragische Story, die in den 1960ern startet. Ich glaube, dass es eine Portion Empathie braucht, um das Buch zu schätzen. Die Charaktere sind nicht besonders sympathisch, aber wenn man sie und ihre Hintergründe/Erlebnisse betrachtet, kann man sie und ihre Handlungen in „Hinter der Tür“ verstehen. Emerenc hat viel gesehen, mehr als einmal selbstlos und herzensgut gehandelt. Das geht in den beschriebenen Teilen, insbesondere in den Szenen mit Viola, die ich ungern gelesen habe, oft unter.
Die 311 Seiten sind in kleiner Schrift und eng bedruckt, ich habe eine Weile gebraucht, um durchzukommen, und frage mich, ob das Ganze ein wenig zu lang geraten ist. Nichtsdestotrotz mochte ich die 2012 verfilmte Geschichte über die Komplexität menschlicher Beziehungen, Verletzlichkeit, Stolz, Anstand und Rücksichtnahme sehr.
In „Hinter der Tür“ erzählt uns Magda Szabó von ihrer einstigen Haushälterin Emerenc, die im Leben oft enttäuscht wurde und nicht mehr bereit war, irgendjemandem Macht einzuräumen. Keine entspannte Wohlfühllektüre, aber sprachlich überzeugend, fesselnd, eindringlich.
Dieses Buch ist für dich, wenn du einen Einblick erhalten möchtest in:
Originaltitel: Az ajtó (1987)
Übersetzung: Hans-Henning Paetzke
Nachwort: Eva Haldimann
Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 02.04.2012
Seiten: 311
ISBN: 978-3-518-46289-8
Jetzt zu Amazon:
Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.
Mehr aus dem Suhrkamp Verlag
Der Beitrag Hinter der Tür – Magda Szabó erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>Der Beitrag Schachnovelle – Stefan Zweig erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>In Zweigs „Schachnovelle“ treffen mit dem ungebildeten Weltmeister Czentovic und dem von der Isolationshaft gezeichneten Dr. B. zwei ungleiche Spieler aufeinander.
Auf einem Passagierdampfer von New York nach Buenos Aires trifft der Ich-Erzähler auf Mirko Czentovic, den amtierenden Weltschachmeister. Der Versuch, ihn mit einer Schachpartie gegen den Mitreisenden McConnor auf sich aufmerksam zu machen und so mit dem verschlossenen und ungebildeten Czentovic in Kontakt zu kommen, scheitert. Doch McConnor, an Erfolg gewöhnt, gibt nicht auf – und bringt Czentovic dazu, sich auf eine bezahlte Partie einzulassen. So kommt es, dass am nächsten Tag eine Gruppe gegen den Weltmeister antritt – und verliert. Der vermögende McConnor fordert eine Revanche – und die Amateure kriegen ungeahnte Hilfe, die sich sogar die Aufmerksamkeit Czentovics verdient.
Zunächst wirkt die Geschichte harmlos:
Mit zwölf wurde Mirko Czentovic nach dem Tod seines Vaters, einem armen Schiffer, vom Pfarrer des Dorfes aufgenommen. Alle Versuche, dem Jungen die Dinge, die er in der Schule nicht verstand, zu Hause beizubringen, scheiterten. Czentovic blieb ungebildet, langsam und teilnahmslos. Durch Zufall entdeckte er ein Schachbrett – und wurde mit 18 ungarischer Meister, mit 20 Weltmeister. Nachdem er in Amerika genug gewonnen hat, ist er nun auf dem Weg nach Argentinien.
Der Ich-Erzähler, ein Wiener, will den inzwischen 21-jährigen Weltmeister kennen lernen und spielt gegen McConnor. Als der erfährt, dass Czentovic an Bord ist, macht er eine Partie aus, die er sich 250 Dollar kosten lässt – für den vermögenden Tiefbauingenieur kein Problem. Dass er verliert, ist wenig überraschend, stört ihn aber doch.
Bei der Revanche kommt ein Fremder hinzu, der die Gruppe durch seine Berechnung der Züge vor einer weiteren Niederlage bewahrt. Selbst spielen will er nicht. Der Erzähler versucht herauszufinden, warum, und so öffnet sich der Österreicher Dr. B., der seit über 20 Jahren nicht vor einem Schachbrett saß – und doch so viele Partien durchgespielt hat:
Wir erfahren, dass der Name seiner Familie kein unbekannter ist. Dr. B. war als Rechtsanwalt für die Vermögensverwaltungen von großen Klöstern zuständig, ehe er – und ab hier ist die Geschichte nicht mehr harmlos – überwacht und letztlich von der Gestapo monatelang in ein Hotelzimmer eingesperrt und mürbe gemacht wurde. Als es ihm gelang, ein Buch aus einer Manteltasche mitgehen zu lassen, eröffneten sich ihm neue Möglichkeiten: Um in der Isolationshaft nicht den Verstand zu verlieren, spielte er die Partien des dünnen Bandes im Kopf durch, unzählige Male. Danach kämpfte er gegen sich selbst – und drohte durchzudrehen. Dass er nun erneut in Kontakt mit seiner Sucht kommt, macht das Ganze umso dramatischer.
Schach ist ein Strategiespiel, in dem es um Macht geht. Es kann ein Symbol für verschiedene Auseinandersetzungen sein, etwa persönliche, politische und militärische. In „Schachnovelle“ haben wir ganz unterschiedliche Anhaltspunkte:
Der Weltmeister, kühl und roboterhaft, spielt, weil er nur in diesem Bereich mithalten kann bzw. sogar heraussticht. Beim Schach ist er jemand, wird be- und geachtet, verdient mehr als die anderen. Obwohl alle intelligenter sind, kommen sie nicht gegen ihn an.
Der Ich-Erzähle spielt zur Entspannung („Ich ’spiele‘ Schach im wahrsten Sinne des Wortes, während die anderen, die wirklichen Schachspieler, Schach ‚ernsten‘ […], eBook S. 17/84, 19,8 %).
McConnor spielt, um sich zu beweisen. Er kann nicht aufhören, da er schlecht verlieren kann.
Den größten Raum nimmt das Schicksal Dr. B.s ein, der in der Gefangenheit gedanklich Schach spielte, um bei Verstand zu bleiben – und letztlich eine „Schachvergiftung“ (eBook S. 65/84, 76,8 %) erlitt. Als er nun erneut in Kontakt mit dem Thema kommt, droht er einen Rückfall zu erleiden. Er gibt auf.
Insofern geht es für mich in Zweigs „Schachnovelle“ darum, die Folgen des Nationalsozialismus für die Opfer darzustellen, die, selbst wenn sie Methoden fanden, um zu überleben, letztlich doch für immer „vergiftet“ wurden.
Wenn man bedenkt, dass Stefan Zweig die Novelle 1941 im Exil schrieb und im Februar 1942 Suizid beging, macht das den Inhalt noch schockierender.
Das Buch enthält 112 Seiten, es gibt keine Einteilung in Kapitel. Die Novelle lässt sich leicht lesen, obwohl die Sprache als eher gehoben bezeichnet werden kann.
Interessant ist, dass der namenlose Ich-Erzähler nicht der Protagonist der Geschichte ist, auch wenn er dafür sorgt, dass Czentovic zum Thema wird, wodurch es letztlich zu den Partien und zur Einmischung von Dr. B. kommt. Er ist ein Beobachter, der uns in die Geschehnisse hineinzieht, und der Retter, der Dr. B. davor bewahrt, erneut abzurutschen.
Wenn Dr. B. sich an seine Vergangenheit erinnert, tut er dies aus der Ich-Perspektive, was uns einen guten Zugang zu seinen Gedanken und Gefühlen verschafft. Seine Geschichte ist es, die die Novelle derart dramatisch macht.
Mich hat Zweigs „Schachnovelle“ überzeugt. Sprachlich und inhaltlich. Ein lesenswerter Klassiker.
Jetzt zu Amazon:
Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.
Der Beitrag Schachnovelle – Stefan Zweig erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>Der Beitrag Würdest du bitte endlich still sein, bitte – Raymond Carver erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>„Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ ist eine großartige Kurzgeschichten-Sammlung.
Ich werde mich nie auf ein Lieblingsbuch festlegen. Aber wenn ich müsste, … tja.
+
Aus 22 Kurzgeschichten besteht „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ von Raymond Carver – und ich wünschte, es wären mehr.
Es geht um einfache Leute wie dich und mich und unsere Nachbarn, um Menschen, die Dinge empfinden, die andere nicht verstehen, um Unaussprechliches und allzu Nachvollziehbares. Es geht um Probleme und Krisen, um Tatsachen, denen man nur widerstrebend ins Auge blickt. Die Mischung ist so bunt wie das Leben, die Figuren so lebendig wie wir.
Das Besondere ist, dass der Autor uns wenig gibt – und doch so viel. Er schildert uns Ausschnitte, zeigt uns Teile, die wir zu einem runden Ganzen zusammenbringen müssen. Nur wer bereit ist, über den Inhalt nachzugrübeln und mehr zu lesen, als da in Worten steht, wird mit dem Buch glücklich.
Es ist seltsam, aber nach so mancher Story saß ich da und dachte: „Wie, das war’s? Und worum ging es jetzt?“ Und dann habe ich mir den Kopf zerbrochen, ob ich wollte oder nicht (und doch ganz freiwillig), ja, manchmal auch nachts, und dann kamen die Einfälle, die Ideen, die ich bei erneutem Durchgang untermauern musste, die Erkenntnisse, das Verstehen. Es hat einiges an Zeit gekostet, aber es hat noch mehr Spaß gemacht, die Kurzgeschichten zu lesen! Und ich bin sicher, dass ich beim nächsten Mal Neues entdecken werde, ein Detail, vielleicht sogar eine Richtung. Carver lässt so viel weg, da ist so viel Spielraum, den man nutzen kann, so viel Leerraum, den man füllen muss, dass mehr als eine Sichtweise möglich ist. Er gibt uns kein Bild, er zeigt uns Einzelteile, quasi ein Rätsel, und wir puzzeln, immer wieder, wobei automatisch Erfahrungen und Gefühle einfließen, denn jeder Mensch hat eine andere Sicht auf die Dinge und somit (vielleicht) auch eine ganz eigene Lösung.
Ich habe zu jeder Kurzgeschichte meine Gedanken und Deutung aufgeschrieben, deshalb ist das hier ein Endlos-Beitrag.
Falls du auf diese Seite gestoßen bist, weil du auf der Suche nach Interpretationen bist – herzlich willkommen. Ich hoffe, du wirst fündig. Und falls dir beim Lesen andere Ideen kamen: BITTE hinterlass mir einen Kommentar, ich freue mich über alle Maßen über jede (anderweitige) Betrachtung – zumal ich die dann wieder überprüfen muss, was ich mit Freude tun werde.
Bist du auf der Suche nach einer bestimmten Kurzgeschichte aus „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“? Ein Klick bringt dich hin:
Originaltitel: Fat
Eine namenlose Ich-Erzählerin serviert einem übergewichtigen Mann sein Essen. Später berichtet sie ihrer Freundin Rita davon.
Eine Kurzgeschichte, die wenig verrät – und damit ein perfekter Einstieg ist in das Buch, denn man muss spielen mit den Schnipseln jeder Story, um sich nicht zu fühlen wie Rita, die nicht weiß, was sie mit dem Erzählten anfangen soll.
Also tue ich das.
Wir haben hier eine namenlose (weil unbedeutende) Kellnerin, die ihrer Freundin Bericht erstattet über den Besuch des dicken Gastes. Ihre Gesprächspartnerin scheint (sogar zweimal) enttäuscht, als die Erzählung endet, sie dachte, da kommt noch etwas, während die Erzählerin alles gesagt hat, was zu sagen war. Dass dieser fettleibige Mann an einem ihrer Tische saß, war für sie Ereignis genug. Was hat sie dermaßen beeindruckt?
Der Besucher ist freundlich, ordentlich und gut gekleidet, es gibt nichts zu kritisieren. Und doch findet die Küchencrew an seinem Aussehen etwas, das sie dazu veranlasst, sich über ihn lustig zu machen. Weil er keine Kontrolle über sein Essverhalten hat, setzen sie ihn herab. Das ist nicht okay – und das merkt die Erzählerin. Sie verteidigt ihn, weil sie sich mit ihm identifiziert. Sie kennt das: Auch ihr Wert wird missachtet und ihr fehlt immer dann die Kontrolle, wenn Rudy sich nimmt, was er will.
Der Gast beobachtet jede ihrer Bewegungen, was sie nervös macht, weil sie es nicht gewohnt ist. Mit dem „Wir“ schafft er eine Verbindung zu ihr. Gleichzeitig bringt es mich – zusammen mit anderen Hinweisen – auf die Idee, dass er eine Schwangere symbolisieren und sie deshalb so faszinieren könnte. Er spricht für zwei, er isst für zwei. Mehrfach erwähnt sie seine Finger, wie dick sie sind. Das kann während der Schwangerschaft ähnlich sein, nicht wahr?
Ja, ich glaube, dass sie einen Kinderwunsch hat. Ihm erzählt sie, dass sie „gern ein bißchen zunehmen“ würde (S. 47). Auch später in der Dusche kommt das Thema auf. Doch nicht nur das: In meiner Vorstellung wird sie sogar schwanger. In der Szene mit Rudy heißt es: „Ich habe das Gefühl, daß ich unheimlich dick bin, so dick, daß Rudy winzig ist und überhaupt kaum da.“ (S. 49) Hier findet eine Umkehr statt. Indem sie dick ist, tritt Rudy in den Hintergrund. Dahin, wo sie sonst ist.
Sie nimmt das Schnauben des Mannes wahr, bemerkt, dass er sich schämt, weil er trotz Hitze sein Jackett anbehält. Sie stellt fest, wie die anderen über ihn sprechen, ihr Partner Rudy macht sich zusätzlich daheim über zwei ehemalige übergewichtige Mitschüler lustig. Niemand scheint an der Geschichte dahinter interessiert zu sein, der Besucher wird auf sein Äußeres reduziert. Nichtsdestotrotz bekommt er eines: Aufmerksamkeit. Er wird gesehen, beachtet. Ganz im Gegensatz zu ihr.
Dass Rita auf weitere Details wartet, unterstreicht, dass es ihr – wie allen – weniger um die Erzählerin und ihre Gefühlswelt geht als vielmehr um den dicken Mann (und die eigene Unterhaltung). Sie fragt sich, was er noch getan haben könnte, was es über ihn zu sagen gibt, anstatt auf die Erlebnisse ihrer Freundin einzugehen und die erschreckende Situation mit Rudy zu kommentieren.
„Es ist August“, besagt der vorletzte Satz – und sofort rechne ich ein paar Monate drauf.
Weiter heißt es: „Mein Leben wird sich ändern. Ich spüre es.“ (S. 49) Sie wird bald das Rauchen aufgeben, mehr Beachtung kriegen und Aufregung verspüren. Man wird sie wahrnehmen, sehen, sich für sie interessieren. Zumindest ist das die Hoffnung, an die sie sich klammert.
Originaltitel: Neighbors
Als das Nachbarspaar Stone mal wieder zu einer beruflichen Reise aufbricht, die vermutlich auch dem Privatvergnügen dient, bekommen Bill und Arlene Miller einen Schlüssel. Blumen gießen, die Katze füttern, das Übliche. Eine lästige Pflicht? Nicht für sie.
Bill ist Buchhalter, Arlene auf Sekretärinnenjobs angewiesen, während Stone als Vertreter die Welt sieht. Der Schlüssel zur Wohnung der Nachbarn ermöglicht den Millers eine Flucht. Sie brechen aus ihrem Alltag aus, die Ausflüge verleihen ihnen neuen Schwung, in jeder Hinsicht. Bei Bill sind die Auswirkungen am deutlichsten. Die Streifzüge erregen ihn, verschaffen ihm eine ungewohnte Befriedigung. In der Folge macht er früher Feierabend, lässt sich krankmelden. Aber auch Arlene durchsucht die Wohnung und legt sich in das Bett der anderen. Letztlich sperrt sie die Katze ungefüttert ein, was ebenfalls weitergedacht werden kann.
In ihrer Sucht, sich in das Leben der Nachbarn zu träumen, sind sie vereint – bis zum Ende. Denn da stehen sie sich bei. Beide haben den Zugang verloren zu dem, das ihnen so viel gegeben hat.
Eine letzte Hoffnung bleibt: dass die Nachbarn von ihrer zehntägigen Reise nicht zurückkehren. Dann kann das Vergleichen aufhören und sie können – vielleicht – so glücklich sein, wie der erste Satz es behauptet.
Originaltitel: The Idea
Eine Ich-Erzählerin lauert im Dunkeln auf ihren Nachbarn, der von draußen in sein eigenes erleuchtetes Fenster schaut und seine Frau beim Umziehen beobachtet.
„Allein der Gedanke“, im Original „The Idea“, ist die dritte Kurzgeschichte des Sammelbandes „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“. Und ein bisschen witzig ist die schon:
Die Erzählerin regt sich auf über das Sich-Beobachen-Lassen der Nachbarin, bezieht ihren Ehemann Vern mit ein. Dass sie selbst seit drei Monaten immer wieder ausdauernd im Dunkeln hockt und zwei Personen, die das gar nicht bemerken, beobachten, realisiert sie dabei nicht. Im Übrigen betont sie, dass sie einen Spanner auf der Stelle anzeigen würde. O-kay.
Auch uns versucht sie zu besänftigen, indem sie sich erklärt und uns sogar einmal anspricht. Die förmliche Anrede (sie siezt uns) unterstreicht ihren Anstand. Sie würde so etwas nicht tun. Niemals.
Und doch tut sie es.
Interessant ist, dass der Nachbar außen vor ist. Er steht da halt. Aber sie! Ihr würde sie am liebsten die Meinung sagen. Was Vern nicht gerne sehen würde, schließlich ist das Ausspähen das Aufregendste, das ihm der Abend bietet, da kann nicht einmal der Fernseher mithalten.
Ein Satz, aus dem der Neid spricht, fällt, als die Erzählerin sich fragt, was sie [die beobachtete Nachbarin] haben kann, was andere Frauen nicht haben (S. 62).
Wichtig ist auch, dass die Geschichte damit beginnt, dass sie das Abendessen gerade beendet haben – und nach ihrer Spionage sind sie so hungrig, dass sie einen üppigen „Imbiß“ serviert. Sie stillen ihren Hunger anders als die Nachbarn. Gesittet.
Die Ameisen sind interessant. Sie könnten für die Invasion schlechter Gedanken stehen. Sie versucht die ganze Zeit, sich vernünftig und unscheinbar zu präsentieren, will daran festhalten. Gleichzeitig stößt sie an ihre Grenzen, denn da ist auch der Neid, den sie nie zugeben würde. Sie attackiert die Ameisen, die eine strenge Ordnung darstellen. Sie sprayt, als schon gar keine mehr zu sehen ist. Es ist eine Art Verzweiflung, sie weiß selbst nicht, was sie will – bzw. kann sie es sich nicht eingestehen.
Am Ende gibt sie einen Teil ihrer Starrheit auf, indem sie alle Lampen im Haus anmacht und die Jalousie in der Küche hochschiebt. Man könnte sie jetzt beobachten. Sie nimmt das in Kauf – und regt sich weiter auf. Es sind widerstreitende Gefühle, die sie hat. Weil, wie der Titel es beschreibt, „Allein der Gedanke“ ihr (eigentlich) schon zu viel ist.
Originaltitel: They‘re Not Your Husband
Als Earl Ober, ein arbeitsloser Handelsvertreter, zwei Männer über die Figur seiner Frau Doreen lästern hört, legt er ihr nahe, ein paar Pfund abzunehmen.
„Sie sind nicht dein Ehemann“, im Original „They’re Not Your Husband“, ist die vierte Kurzgeschichte des Sammelbandes „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“.
Wir haben hier Doreen, die nachts kellnert und damit die Familie ernährt. Und ihren Ehemann, der sie bei der Arbeit aufsucht, isst, trinkt und sie beobachtet.
Nachdem er die Lästereien zweier Männer aufschnappt, bringt er seine Ehefrau dazu, wenig bis gar nichts mehr zu essen. Als die Kollegen besorgt sind, währt er ab: „Achte gar nicht auf sie. Sag ihnen, sie sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Sie sind nicht dein Ehemann.“ (S. 73)
Puh. Ja, Earl, das stimmt. Aber hättest du das nicht zu den Typen sagen können? Und im Übrigen: Hat sie vielleicht eine eigene Meinung? Schwierig, sehr schwierig.
Earl ist ein egoistischer Mann, der ein Schmuckstück an seiner Seite möchte. Er sucht die Bestätigung, er will, dass Doreen allen gefällt. Wie es ihr mit diesem ungesunden Essverhalten geht, ist ihm gleichgültig.
Ich glaube, dass er etwas braucht, auf das er stolz sein, auf das er noch Einfluss nehmen kann. Es ist ein Ersatz. Seine Vorstellungsgespräche verlaufen im Sande, die Kinder lässt er allein – er konzentriert sich auf Doreen. Er will sie „bearbeiten“, mit dem Ergebnis (seiner Leistung, da sie seinen Anweisungen folgt) zufrieden sein und letztlich den Applaus aller Umstehenden einheimsen.
Interessant sind die letzten Sätze. Ich denke, dass Doreen – zumindest unbewusst – weiß, dass ihr Mann sie und ihre Abnahme als seinen „Job“ betrachtet. Er ist Verkäufer – und arbeitslos. Was bleibt? Sie. Also versucht er, aus ihr etwas zu machen, das sich „verkaufen“ lässt.
Originaltitel: Are You A Doctor?
Arnold Breit wartet auf den Anruf seiner Frau, die auf Geschäftsreise ist. Stattdessen ruft jemand anderes an: eine ihm Unbekannte namens Clara Holt, die ihn dringend treffen möchte.
„Sind Sie Arzt?“, im Original „Are You A Doctor?“, ist eine der Geschichten der Sammlung „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“, über die ich mir am längsten den Kopf zerbrochen habe. Und darum geht’s:
Ein Mann der Routine bricht aus.
Wir haben hier eine unbekannte Anruferin, die Arnold unbedingt sehen will, ohne ihn zu kennen. Seltsam.
Aber das wirkliche Rätsel ist Arnold. Denn er willigt ein. Warum?
Ich habe dahingehend spekuliert, dass er unglücklich ist mit seiner Ehefrau, die sich als Einkäuferin auf Geschäftsreise befindet. Während er in Pyjama und Bademantel herumschlappt, schließlich ist es schon nach zehn und somit spät, ist sie stets betrunken und in einer ausgelassenen Stimmung.
In der Annahme, dass sie anruft, meldet er sich. Zweimal sagt er „Hallo“, er ist froh, zum Reden zu kommen. Doch es ist nicht seine Frau, es ist eine Fremde. Seine Rechtfertigung, dennoch am Apparat zu bleiben, ist für mich ein Zeichen der Einsamkeit, die ihn umgibt: „Er wußte, daß er jetzt aufhängen sollte, aber es tat gut, eine Stimme zu hören, und sei es die eigene in dem stillen Zimmer.“ (S. 78)
Er unterhält sich mit Clara, wodurch es viel Dialog gibt. Dieser kommt oft wiederholend daher, was die Wichtigkeit der übrigen Passagen unterstreicht, denn die Handlungen verraten hier mehr als die Worte, die gesprochen werden.
Einmal unterbricht er das Gespräch, um sich ungeschickt eine Zigarre anzuzünden (= das macht er sonst nicht) und sich – nun ohne Brille – im Spiegel zu betrachten. Was wird er dort sehen? Nichts Deutliches, sofern er die Sehhilfe braucht, aber eine erste, wenn auch zunächst optische Veränderung. Seine Routine wurde durchbrochen und er schaut, was das mit ihm anstellt.
Später kommt die Brille erneut zur Sprache, indem er sie putzt. Er hat (noch) keine klare Sicht auf die Dinge. Auf sich. Und die Zukunft.
Als er Clara trifft, ist er zunächst mit ihrer Tochter allein, die laut Clara krank sein soll, dies aber bestreitet. Als die unbekannte Anruferin hinzukommt, stellt sie ihm im Verlauf die titelgebende Frage: „Sind Sie Arzt?“
Ich glaube, Clara braucht jemanden, der für sie und ihre kleine Familie sorgt.
Er verneint gleich doppelt. Er ist kein Arzt, ein Doktor ist eine eher autoritäre Person, die weiß, was zu tun ist. Das ist hier nicht der Fall. Er ist selbst ein Patient; ihm fehlt etwas.
Nun zu der Stelle, an der alle meine Alarmglocken losschrillten:
Als er geht, nennt er Clara „Mrs. Holden“, obwohl sie ihm gesagt hat, dass sie nicht verheiratet ist. Das ist kein Zufall, das ist ein Punkt, an dem ich große Augen gekriegt habe. Aber wie ist er zu verstehen?
Zum einen ist da dieser Mann, den er mehrfach auf einem der Balkone sieht. Steht er dort, um eine Art Herrscher zu repräsentieren? Befürchtet Arnold, dass sie doch einen Partner hat?
Möglich ist das. Meine bevorzugte Variante ist aber Folgende:
Das „Mrs.“ ist eine Vorausschau. Sie kriegt, was sie will. Das wird dadurch unterstrichen, dass sie zum Abschied etwas von ihm (ein Haar, einen Faden) an sich nimmt. Das Haar könnte für seine Identität stehen, der Faden dafür, dass daraus etwas anderes entstehen wird, etwas Größeres, etwas (mit ihr) Verwobenes. Dass sie beinahe seinen Mantel in der Tür einklemmt, bedeutet, dass sie ihn so gut wie in der Tasche hat.
Und der Mann?
Der könnte ebenfalls eine Vorausschau sein. Auf ihn. Auf die Person, die von Mantel und Hut, die beide eine Schutzfunktion übernehmen können, auf ein lockeres Sweatshirt umsteigt. Der Balkon symbolisiert den Ausbruch aus seinem bisherigen (beengten) Leben in eine neue Freiheit.
Wichtig finde ich auch den Jungen. Clara erwähnt ihn am Telefon, aber er taucht nicht auf. Er fragt in Gedanken nach ihm. Weil er ihn sucht. In sich. Wo ist der Junge in ihm? Vor Jahren verschwunden? Wenn er Clara erneut trifft, sieht er ihn vielleicht.
Als nach seiner Rückkehr das Telefon klingelt, neigt er zu kindischem Verhalten, indem er sich erst wieder bewegt, als es aufhört. Eine Veränderung. Und eine weitere: Er achtet auf sein Herz – er spürt es, es schlägt, er lebt (auf).
Als er beim zweiten Versuch drangeht, meldet er sich – anders als sonst – seriös mit Vor- und Zuname, nicht so wie eingangs, als er sicher war, dass – wie immer – seine Frau anruft. Nun könnte es ebenso gut Clara sein. Und mit ihr steht er noch am Anfang.
Aber sie ist es nicht. Es ist seine Ehefrau, die sofort bemerkt, dass etwas anders ist. Indem es heißt: „‚Bist du da, Arnold?‘, sagte sie. ‚Du klingst so anders.‘“(S. 87) wird verdeutlicht, dass sich etwas verändert hat. Dass Arnold ein anderer geworden und vielleicht gar nicht mehr richtig da ist, sondern schon halb bei Clara.
Originaltitel: The Father
In „Der Vater“ geht es um einen neugeborenen Jungen, die Frage, wem er ähnlich sieht – und letztlich darum, dass der Vater niemandem ähnelt.
Ein Baby.
Die drei Schwestern, die Mutter und Großmutter rätseln, wem es ähnlich sieht.
Der Vater sitzt abgewandt in der Küche – und sieht niemandem ähnlich.
Dies ist eine der kürzesten Kurzgeschichten des Buches.
Es geht um das Thema Identität. Zunächst um die des Babys, wobei das Thema schon angedeutet wird, wenn es heißt, dass die Mutter „noch nicht wieder ganz zu sich gekommen war“ (S. 89).
Doch eigentlich geht es nicht um das Baby, es geht um die Identität des Vaters, der als Einziger in einem anderen Raum sitzt und sich nicht an der Diskussion beteiligt. Als er sich umdreht, ist sein Gesicht „weiß und ausdruckslos“ (S. 91).
Die Farbe weiß ist hier besonders interessant, weil wir sie zuvor bei der Beschreibung der Babykleidung finden. Seine Identität wird zurückgesetzt, muss neu gesucht und gefunden werden – wie bei dem kleinen Jungen. Und das kam so:
Carol, die Oma, sieht als Einzige eine Verbindung zwischen dem Baby und der Familie, indem sie sagt, es hätte die Lippen des Großvaters. Die Mutter bezweifelt das. Dann sieht Carol – und sie betont das mit großem Trara – eine Ähnlichkeit zwischen dem Jungen und seinem Vater. Damit – und das hat sie nicht einkalkuliert – wirft sie die Frage auf, wem der Vater ähnelt. Die Kinder finden keine Ähnlichkeit zu jemandem, es fließen Tränen. Carol schreitet ein; nicht, indem sie behauptet, er hätte mit ihrem Ehemann Ähnlichkeit oder mit sich selbst, nein, sie versucht mit einem „Pssst“, die Kinder zum Schweigen zu bringen. Weil sie etwas verheimlicht?
Am Ende schauen alle den Vater an, nur Carol nicht. Ihre Augen bleiben bei dem Baby. Kann sie ihn nicht ansehen?
Dass das Baby hier nicht im Mittelpunkt steht, zeigt bereits der Name der Kurzgeschichte an. Er wirft auch die Frage auf, ob der Vater des Jungen nicht der alleinige titelgebende Vater ist. Geht es auch um seinen Vater? Der vielleicht gar nicht sein Vater ist?
Warum sitzt er von Anbeginn an alleine da? Fühlte er sich bei den Themen Identität und Verbundenheit schon immer außen vor?
Ich glaube, dass Carol mit dem Enkel versucht, etwas nachzuholen. Hier spricht ihr einstiger Wunsch aus ihr.
Originaltitel: Nobody Said Anything
Ein Junge, der die Schule schwänzt, um angeln zu gehen – und eine Familie, die zerbricht.
Ich geb’s zu, anfangs mochte ich „Keiner hat etwas gesagt“ nicht, musste mich vom Überfliegen der Seiten abhalten. Es lag an der Hauptfigur. Dadurch, dass wir hier einen jungen Ich-Erzähler haben, liest sich die Story anders als die bisherigen. „Schwafeliger“. Aber auch sie bietet so viel Interpretationsspielraum. Ich habe mehr als einmal meine Sichtweise über den Haufen geworfen. Eine sehr interessante Kurzgeschichte aus „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“:
„Keiner hat etwas gesagt“ beginnt und endet mit dem Streit der Eltern. Der Ich- Erzähler will diesen abstellen, indem er seinen Bruder auffordert, dazwischenzugehen. Der hat die Hoffnung aufgegeben, ist abgestumpft, während der Protagonist die Tränen seiner Mutter bemerkt.
Die Familiensituation ist angespannt: Die Eltern streiten, eine Pfanne fliegt, die Geschwister sprechen unflätig, der Erzähler agiert gerissen und droht seinem Bruder mit dem Tod. Tatsächlich hat er kein Problem mit dem Töten, zumindest was Tiere – Fische – angeht. Die angelt er nämlich, während er blaumacht.
Die Geschichte spielt in der ersten Oktoberwoche, demnach im Herbst, aber der Protagonist hat Frühlingsgefühle ohne Ende. Die Jahreszeiten spielen später noch eine Rolle, etwa wenn vom Frühling und damit verbunden Hochwasser die Rede ist, sich nun aber alles im seichten Wasser abspielt. Das ist bedeutsam.
Um auf seine Gefühle zurückzukommen:
Er ist ein Teenager, klar, aber ich glaube, dass sie auch eine Art Flucht sind. Denn er flüchtet die gesamte Geschichte über. Zunächst nutzt er eine angebliche Magenverstimmung, um zu Hause zu bleiben. Er hält es ohne den Fernseher kaum aus, liest, durchsucht die Wohnung, flüchtet sich in gedankliche Gespräche und „Liebesgeschichten“. Er geht angeln, was er mit den glücklicheren Zeiten von vor drei Jahren, als sie herzogen, der Vater noch Geduld hatte und mit den Geschwistern zum Birch Creek fuhr, verbindet.
Nun ist er also wieder hier – und diesmal hat er Glück:
Er fängt eine Forelle, eine grüne. Dazu fällt mir spontan eines ein: Hoffnung, wie sie die Mutter am Anfang der Geschichte äußert. Aber das Tier kämpft nicht lange, obwohl er es drillt, der Fisch hat keine Ausdauer mehr, die Hoffnung aufgegeben. Er denkt bei der Farbe an Moos. Übertragen wir das Ganze auf das Familien-Thema, ist eines traurige Wahrheit: Moos hat keine (starken) Wurzeln.
Er trifft einen Jungen, der ihn an George erinnert (es gibt später weitere Überschneidungen, etwa durch das Fahrrad), schmiedet gewaltvolle Pläne, um den großen Fisch, den der andere entdeckt, zu fangen. Es gelingt. Doch der Fisch entspricht nicht der Norm, ist auf seine Länge von 60 bis 70 cm zu dünn, der Bauch ist nicht, wie er sein sollte. Er registriert das – und akzeptiert es. Er will die Familie zusammenhalten, auch wenn sie nicht perfekt ist. Denn dieser Fisch ist die Familie.
Das lassen wir kurz sacken.
Denn dann kommt das:
Sie streiten sich um den Fisch. Er muss ihn mit dem Jungen teilen, weil er keine Lust hat, gegen den Kleinen zu kämpfen. Also schneidet er den Fisch mit einem Messer durch, am Ende reißt er ihn auseinander. Und das ist wichtig. Denn zu Beginn heißt es: „Mom hatte mir schon einmal erzählt, daß er die Familie auseinanderreißen wolle.“ (S. 93)
Die Familie wird auseinandergerissen.
Puh.
Nachdem wir sozusagen einen Streit um die Familie gesehen haben, geht der Protagonist nach Hause. Voller Stolz. Dort findet er seine Eltern vor – streitend. Wenn ihr mich fragt: Um die Kinder.
Er versucht, die beiden abzulenken, präsentiert ihnen seinen Fang. Seine Mutter hält die Fischhälfte für eine Schlange, ekelt sich. Das lässt sich ebenso deuten wie die Reaktion des Vaters, der sich kurzzeitig auf ihre Seite schlägt und befiehlt, das Ding, das letztlich silbrig schimmert, wegzuschmeißen. Sie sind sich, ohne es jemals auszusprechen, einig: Die Familie hat keine Zukunft.
Wenn ich sehe, dass die Mutter Edna heißt und der Vater kurz danach das Evangelium ins Spiel bringt, könnte das von Bedeutung sein. Gibt sie jemanden frei?
Ich glaube, dem Erzähler wird am Ende bewusst, dass ihm lediglich eine Hälfte bleibt, keine ganze Familie mehr, nur noch eines: die zweitbeste Lösung.
Originaltitel: Sixty Acres
Ein Mann zwischen Traditionen und frischem Wind:
Lee Waite gehören dadurch, dass seine Brüder früh getötet wurden, 60 Morgen Land. Ob er sie verpachten soll?
Der 32-jährige Lee Waite lebt mit seiner Frau Nina, seinen Söhnen Benny und Jack sowie seiner 70-jährigen Mutter in einem kleinen Haus.
Als er den Anruf von dem Indianer Joseph Eagle bekommt, dass zwei Männer auf seinem Stück Land von Toppenish Creek jagen, macht er sich widerwillig auf den Weg. Er stellt die Jugendlichen, tut ihnen aber nichts. Zurück zu Hause, ist es ihm unangenehm, sie laufen gelassen zu haben. Warum?
Ich denke, der Protagonist ist hier in einem Zwiespalt: an Traditionen festhalten oder nicht?
Seinerzeit wäre es normal gewesen, die Jungen zu erschießen. Er tut es nicht. Weil sie ihn an seine Brüder erinnern, die früh umgebracht wurden? An seine Söhne?
Er denkt darüber nach, das Land an einen Jagdclub zu verpachten. Seine Frau ist dafür, sagt es aber nicht. Seine Mutter beobachtet ihn lediglich.
Es würde der Familie finanziell helfen. Er hängt nicht daran – und gleichzeitig tut er es doch. Der letzte Satz ist – mal wieder – von besonderer Bedeutung für mich: „Und dann wollte er die Handteller wölben, damit das Rauschen ertönte, wie der brausende Wind, der aus einer Muschel kommt.“ (S. 130)
Eine Muschel. Sie symbolisiert genau, was der Mann fühlt: Da ist dieses Stück Land, das ihm im Prinzip nicht viel bedeutet. Doch es gehört eigentlich, hätte das Schicksal nicht zweimal hart zugeschlagen, nur zu einem Drittel ihm. Das weiß auch seine Mutter. Die anderen Teile wären nach dem Willen seines Vaters den Brüdern zugefallen. Zudem hat er als kleiner Junge oft dort gespielt. Und dieses wertvolle Innere, die Perle, nämlich die Erinnerung an seine Kindheit und Verbindung zu seinen Brüdern, die findet sich in der genannten Muschel wieder.
Was soll er tun? An der Tradition festhalten? Frischen Wind in sein Leben bringen, wohingegen seine Mutter sich gegen jeden Luftzug abzuschotten versucht? Alles deutet darauf hin, dass er ein Wächter wider Willen ist, den ursprünglichen Dingen nichts abgewinnen kann (er wünscht sich, der alte und traditionell lebende Indianer würde ihn in Ruhe lassen, hat eine Abneigung gegen die alten Gebäude von Fort Simcoe, kann mit dem Lachsspeer nichts anfangen). Aber was ist die richtige Entscheidung?
Man könnte denken, dass das Ende offen ist. Man könnte aber auch annehmen, dass die geschlossenen Augen seiner Mutter eine Bedeutung haben. Letzteres tue ich.
Originaltitel: What‘s In Alaska?
Eine Geburtstagsfeier, vier Erwachsene auf einem Trip – und viele Andeutungen.
„Was ist in Alaska?“ ist die Kurzgeschichte des Sammelbandes „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“, die mich wohl am meisten amüsiert hat – zumindest zeitweise.
Unsere Hauptfiguren, Carl und Mary, sind anlässlich eines Geburtstags bei Jack und Helen eingeladen, um Wasserpfeife zu rauchen. Die Story besteht größtenteils aus Gesprächsfetzen, die nicht immer ernstzunehmen sind, da die Figuren allesamt high werden. Umso wichtiger sind die Handlungen. Und die sagen mir zunächst einmal Folgendes:
Carl steht nicht mit den anderen auf einer Stufe.
Oft habe ich im Zusammenhang mit ihm an ein Kind gedacht, da er sich so benimmt und behandelt wird: Kinder brauchen oft neue Schuhe und lassen sich beim Aus- und Anziehen helfen, sie haben es auf die Schokoriegel im Kassenbereich abgesehen, werden anders angesprochen (Jack begrüßt und verabschiedet ihn extra, er ist kein Teil von „allseits“), gerne mal korrigiert, bedient und freuen sich auf ihre Weihnachtsgeschenke.
Wichtig ist, dass er bei dem Schuhkauf, mit dem die Story beginnt, ausdrücklich „etwas Bequemes“ sucht. Man muss hier bedenken, dass Schuhe noch eine ganz andere Bedeutung haben können, eine, die in den erotischen Bereich weist. Dass er etwas Unauffälliges und Ruhiges in beige wählt, ist bedeutsam, denn ein Blick auf Mary zeigt das Gegenteil:
Von ihr geht vieles aus, das in eine erotische Richtung weist: Dampf umhüllt sie, sie legt ihre Hand auf Carls nackten Schenkel (er reagiert nicht darauf). Als Jack die Pfeife aus dem Schlafzimmer holt und präsentiert, beobachtet sie ihn (ihn und nicht die Pfeife) mit gefalteten Händen (als bete sie ihn an). Die Art, wie sie raucht. Jacks Angebot von einem Eislutscher, das sie bereitwillig annimmt. Sie umarmt ihn von hinten, als sie in die Küche gehen. Da ist etwas. Etwas, dem Carl nicht gewachsen ist.
Köstlich zu lesen ist die Szene mit der Katze, etwa wenn Helen sie wegen der Kindersachen aus dem Bad haben will oder Jack sagt: „Cindy muß lernen zu jagen, wenn wir nach Alaska wollen.“ (S. 143) Oder als Mary Helen fragt, ob sie die Katze denn nie füttere (S. 144). Oh Mann. Es ist leider lustig. Aber nun zu Alaska:
Der Titel hat damit zu tun, dass Mary ein Vorstellungsgespräch hatte. Zunächst ist Carl begeistert, später, das unterstreicht wieder, wie weit sie voneinander entfernt sind, fragt er sie, was er dort tun wird, vielleicht diese riesigen Kohlköpfe züchten, über die Mary gelesen hat. Als sich der Abend dem Ende zuneigt, ist zu viel passiert. Auf Jacks Frage: „Was ist nun mit Alaska, ihr zwei?“, antwortet er: „In Alaska? Da ist nichts.“ (S. 141)
Um noch einmal auf die Schuhe zurückzukommen:
Es die Cream Soda, von Jack dauernd ins Spiel gebracht und verteilt, die über Carls Schuhe läuft und sie beschmutzt. Fortan passen sie ihm nicht mehr richtig, sie passen nicht mehr zu ihm. Er will sie sogar weitergeben, aber Jack greift, abgelenkt von der Katze, diesem Raubtier, nicht zu.
Am Ende, Mary (diese außer Kontrolle geratene Frau) schnarcht, nimmt er sie als potenzielles Wurfgeschoss – und dieses Lauern spricht Bände. Er ist auf der Hut.
Originaltitel: Night School
Ein Mann (arbeitslos, von seiner Ehefrau getrennt, neu liiert) trifft in einer Bar auf zwei Frauen, die auf der Suche nach einem Auto sind.
„Abendschule“, diese zehnte Story aus „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“, hat es mir schwer gemacht. Aber ich versuche es:
Wir haben hier einen Ich-Erzähler, der in einer Bar sitzt und von zwei Frauen angesprochen wird. Die eine wird immer nur „die erste Frau“ genannt (soll sie für seine getrenntlebende Ehefrau stehen?), die zweite kriegt im Verlauf einen Namen: Edith.
Interessant ist, dass da steht, dass seine Ehe gerade auseinandergegangen ist. Im übernächsten Satz heißt es, er hat eine neue Freundin. So schnell kann’s gehen.
Die Frauen wollen den Lehrer ihres Abendkurses besuchen, Patterson. Sie sagen, sie hätten „was gegen ihn in der Hand“. Außerdem lassen sie fallen, dass der Protagonist sie an Patterson erinnert. Überschneidungen könnten der Alkoholkonsum und die Einsamkeit sein. Auch dass der Lehrer eine Vorliebe für ein Getränk namens Highball hat, lässt sich deuten, wenn man weiß, woher der Begriff kommt, Stichwort Eisenbahn, das Gegenteil des Autos, das eine wichtige Rolle spielt:
Der Ich-Erzähler hat eines, das bei seiner (Ex-) Frau ist. Manchmal nutzt er das seiner Eltern, aber am fraglichen Abend hat seine Mutter den Schlüssel mitgenommen, obwohl sie das Auto stehengelassen hat. Sein Vater, ein Holzfäller, der durch einen Unfall seine Arbeit verloren hat, hat somit ebenfalls keinen Zugang zu dem Auto.
Ein Auto steht für Autonomie und Selbstbestimmung. Die Männer in der Geschichte haben aber keine Wahl, keine Kontrolle (das betont auch der Alptraum). Sie wandeln auf vorgegebenen Strecken.
Patterson wird nicht angerufen und gefragt, ob er Besuch empfangen will, der Vater ist ausgebremst. Der Ich-Erzähler springt sofort auf die Frage der Frauen nach einem Auto an, ist bereit, sie zu fahren, obwohl er betrunken ist. Hauptsache er kriegt weiterhin das eine oder andere Bier (und kann seine Gefühle betäuben). Auch seine Pläne (bei seiner Mutter im Restaurant essen, in Zeitungen blättern, lesen) zeigen, dass er alles versucht, um sich abzulenken.
Als er den Autoschlüssel holen will und seinem Vater von den Vorkommnissen erzählt, fragt der besorgt: „Du hast ihnen doch hoffentlich nicht gezeigt, wo wir wohnen?“ Sie sind eine Bedrohung. Von der er sich sofort mithilfe des Fernsehers abzulenken versucht.
Dass sie unterhalb des Fußweges, im Keller, wohnen, unterstreicht den Schutz, die Zuflucht, den ihnen dieses Zuhause bietet. Der Erzähler versteckt sich vor neuem Ärger.
Originaltitel: Collectors
Ein Mann kriegt Besuch, weil Mrs. Slater, die nicht bei ihm wohnt, etwas gewonnen hat: eine kostenlose Wohnungsreinigung.
Wir haben hier einen Mann, der von Aubrey Bell, dem Überbringer des Gewinns für Mrs. Slater, aufgesucht wird. Bell geht davon aus, dass es sich um Mr. Slater handelt – und ich habe mich angeschlossen, obwohl er versucht, die Frage offenzulassen.
Auch Aubrey Bell ist ein Rätsel. Von ihm wissen wir den Namen, sonst nichts. Kommt er tatsächlich, um diese Art Gewinn einzulösen? Die Angst des Mannes vor dem Postboten und anderem Besuch, der Titel der Story, „Eintreiber“, sowie das, was Bell sagt, könnten für etwas anderes sprechen:
„Jeden Tag, jede Nacht unseres Lebens lassen wir winzige Teilchen von uns zurück, Schuppen und Flokken von diesem und jenem.“ (S. 160)
(Die Anführungszeichen kennzeichnen das Zitat – in der Story gibt es keine, was die vorherrschende Verwirrung und Verschleierung verstärkt.)
Meiner Meinung nach handelt es sich sehr wohl um Mr. Slater, schließlich stimmt die Adresse, die Mrs. Slater auf ihrer Postkarte angegeben hat und er behauptet auch nie das Gegenteil. Dass er seinen Namen nicht bestätigt, liegt daran, dass er sich weiterhin versteckt halten, sich vor seinen Problemen drücken will. Er bestreitet sogar, dass ihm die Matratze im Schlafzimmer gehört. Wie glaubwürdig ist das?
Und die „gute Fee“, die ist für mich ein Eintreiber auf Ausspähung. Indem er dem Mann die Filter nach jeder Reinigung zeigt, führt er ihm vor Augen, wie viel sie bereits von ihm haben. Sie sammeln kleinste Informationen und Beweise. Er kann nicht entkommen. Das wird durch die Antwort auf die Frage deutlich, ob der Mann ein Auto hat:
„Ein Auto habe ich nicht. Wenn ich ein Auto hätte, würde ich Sie irgendwohin fahren.“ (161)
Hauptsache weg, nicht wahr? Er will ihn loswerden, von Anbeginn an. Weil er etwas verbirgt. Seinen Namen. Seine ganze Person.
Letztlich fällt ein Brief durch die Tür – und beide registrieren das. Sie reagieren darauf. Slater will ihn haben, aber Bell schneidet ihm immer wieder den Weg ab. Als Bell geht, nimmt er den Umschlag, an Mr. Slater adressiert, mit. Da der seine Identität nicht preisgibt, kann er nichts dagegen sagen – wäre er nicht Mr. Slater, hätte er ebenso wenig ein Anrecht auf das Schreiben wie Bell.
Aber er ist Mr. Slater. Und es wird eng für ihn.
Originaltitel: What Do You Do In San Francisco
Ein Postbote fühlt sich an ein Paar erinnert, das kurz in seinem Wohnort Arcata gelebt hat.
Die Geschichte, Nummer zwölf aus „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“, startet mit einem Satz, an dem ich direkt hängenbleibe: „Das hier hat nichts mit mir zu tun.“ (S. 167) Die Worte werden noch wichtig, denke ich mir – und das stimmt.
Der Ich-Erzähler, ein Briefträger namens Henry Robinson, seit 20 Jahren geschieden, ohne Kontakt zu seinen zwei Kindern, erzählt uns von den Marstons. Die Familie, ein Paar mit drei Sprösslingen, ist Anfang letzten Sommers in ein Haus, das in seinem Zustellbezirk liegt, gezogen, aber inzwischen schon wieder weg.
Lee, der Mann, war ein arbeitsloser Bartträger. Seine Frau, eine Malerin, soll seine Erwerbslosigkeit gefördert haben, keine gute Ehefrau und Mutter gewesen sein. Ich nehme das so wenig ernst wie die Gerüchte, von denen Henry uns erzählt.
Der Briefträger erinnert sich an die Marstons, weil er auf einen Zeitungsartikel stößt. Es ist ein Bericht aus San Francisco. Ich glaube, dass er die Nachrichten dort extra und nicht zufällig verfolgt. Und zwar deshalb:
Wie immer interessiert mich der Titel der Kurzgeschichte. Er lautet: „Was machen Sie in San Francisco?“ Einmal im Text fällt der Satz, aber nur so ähnlich. Es geht darum, dass die Familie berichtet, aus San Francisco nach Arcata gekommen zu sein (14 Stunden haben sie gebraucht. „Mit diesem verdammten Anhänger im Schlepptau.“ (S. 170). Ein Hinweis darauf, dass sie ihren Ballast mitgebracht haben; die Ehe wird durch den Umzug nicht gerettet. Weitere Vorboten sind die Tatsache, dass sie den Namen am Briefkasten nie ändern, Henrys Spruch: „Man kann nie wissen, was aus dieser alten Posttasche eines Tages zum Vorschein kommt.“ (S. 171), Unkraut, gelbes und vertrocknetes Gras, der unbekannte Sportwagen, umgedrehte Bilder sowie die verhüllte Staffelei. Es war absehbar).
San Francisco, das ist eine Übereinstimmung, ein erstes Thema zwischen Henry und der Familie, denn er ist alle paar Monate in San Francisco. Die Frau fragt ihn: „Was haben Sie in San Francisco gemacht?“ Nun könnte die Geschichte auch so heißen. Tut sie aber nicht. Er ist mehrmals pro Jahr da – und in Gedanken vermutlich noch viel öfter. Denn ich habe eine Idee dazu:
Er antwortet auf ihre Frage: „Ich geh zur Fisherman’s Wharf und seh mir ein Spiel der Giants an. Das ist mehr oder weniger alles.“ Mehr oder weniger, ja? Warum so vage? Weil die Wahrheit eine andere ist: Das ist absolut nicht alles. Das ist so wenig alles wie die Behauptung stimmt, dass die Geschichte nichts mit ihm zu tun hat.
Ich glaube, dass er mit seiner Familie dort gelebt hat (was sein könnte, denn auf S. 167 sagt er: „Ich habe mein Leben lang an der Westküste gelebt, mit Ausnahme von drei Jahren, die ich während des Krieges bei der Armee verbracht habe.“ Der Krieg wird später noch einmal erwähnt, vermutlich ist in dieser Zeit seine Ehe gescheitert).
Ich denke, dass er Erinnerungen an San Francisco hat, von denen er nicht loskommt, so sehr er es auch versucht. Denn das tut er, jeden verdammten Tag. Seine Arbeit, die er seit 1947 hat, wie er es ganz genau zu nennen weiß, ist seine Zuflucht, seine Ablenkung. Er sagt es sogar selbst: „Ein Mann, der nicht arbeitet, hat zuviel Zeit an der Hand, zuviel Zeit, um über sich und seine Probleme nachzudenken.“ (S. 167)
Und dann taucht diese Familie aus San Francisco auf und ein ähnliches Drama wie in seiner eigenen Ehe spielt sich ab. Die Frau, in deren Nähe er sich unbehaglich fühlt, die Kinder, die plötzlich weg sind, das Warten, die Hoffnung – er hat das alles schon einmal erlebt. Deshalb die Verbindung zu Lee. Darum hat er so gute Tipps für ihn: Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit. Um zu vergessen. Zumindest zeitweise.
Originaltitel: The Student’s Wife
Ein Ehepaar. Der Mann will schlafen, die Frau nicht.
In „Die Frau des Studenten“ von Raymond Carver haben wir ein Ehepaar, das unterschiedliche Bedürfnisse hat. Der Mann will schlafen, die Frau kann es nicht – und will auch nicht, dass er, Mike, schläft. Warum?
Zunächst fällt auf, dass er sie wie ein Kind behandelt: Er liest ihr vor, erinnert sie daran, dass es spät ist, bereitet ihr ein Sandwich vor, das er ihr auf einer Untertasse serviert, kümmert sich um ihre „Wachstumsschmerzen“.
Sie, genannt Nan, schwelgt in Erinnerungen an einen Fischfang, der sogar bei Fremden für Aufmerksamkeit sorgte. Da war Mike erfolgreich. Er versucht, die Gedanken daran wegzuschieben.
Über diese Zeit sagt sie: „Wir hatten gerade erst die High School hinter uns. Du hattest noch nicht mit dem College angefangen.“ (S. 183) Ich glaube, dass das signalisiert, dass sie ihm schon immer einen Schritt voraus war. Deshalb werden ihre schmerzenden Beine erwähnt. Sie ist in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt durch ihn, der nicht vorankommt, keinen Fisch mehr fängt. Die „Wachstumsschmerzen“ bedeuten für mich, dass sie dem Leben mit ihm, in dem sie kein Geld haben und fast jedes Jahr umziehen, entwachsen ist. Er ist, angelehnt an den Titel, der ewige Student, aber sie will – tief drinnen – weiter.
Dass er sie „Nan“ nennt, lässt mich an eine Oma denken. Es bestärkt, dass sie reifer ist als er.
Mit zehn oder elf war sie so groß wie heute, behauptet sie. Das ist eindrücklich. Sie darf nicht weiter wachsen, hält sich klein. Der Traum beweist das. Sie macht es, obwohl es ihr weh tut.
Um auf den Schlaf zurückzukommen: Sie wacht auf, als er das Licht löschen will. Sie befürchtet, er könnte schlafen. Ich glaube, dass sie die Starre zu vermeiden versucht, in der sich ihr Leben sowieso befindet. Es widerstrebt ihr, zu ruhen, zu verharren.
Am Ende beobachtet sie einen Sonnenaufgang und empfindet ihn als schrecklich. Weil er Hoffnung symbolisiert und Neues. Auch Liebe. Aber die Liebe bringt ihr momentan nichts Gutes, nicht wahr? Und wenn die Hoffnung auf Neues, im letzten Absatz schläft er einen „schweren Schlaf“, immer wieder enttäuscht wird, kann das nicht schön sein.
Originaltitel: Put Yourself In My Shoes
Ein Schriftsteller und seine Frau besuchen die Morgans, in deren Haus sie zeitweise lebten.
„Versetzen Sie sich in meine Lage“ war für mich eine der schwierigeren Kurzgeschichten in „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“. Ich habe sie so verstanden:
Wir haben hier einen Mann, Myers, der beim Staubsaugen (er tut dies sehr gründlich) von seiner Frau Paula gestört wird. Sie ruft an, um ihn zu einer Büroparty einzuladen. Er hat früher dort gearbeitet, aber gekündigt, um Schriftsteller zu werden. Seitdem lebt er, wie sein ehemaliger Vorgesetzter Carl es nennt, im „Elfenbeinturm“.
Sofort fallen mir die ständigen Rückfragen auf, „Myers?“ ist an viele Sätze seiner Frau angehängt – als ob sie sich rückversichert, dass er zuhört. Denn er muss nur zuhören, um aus seiner Schreibblockade herauszukommen, oder? Der Meinung sind später auch die Morgans, die sie auf Paulas Idee hin besuchen.
Die Schreibblockade mache ich nicht nur am exzessiven Staubsaugen fest, sondern auch daran, dass seine Frau behauptet, er würde jeden Tag schreiben, er das aber Hilda Morgan gegenüber widerlegt.
„Er versuchte alles genau zu sehen und es sich für später aufzuheben.“ (S. 193) deutet für mich darauf hin, dass er dabei ist, neuen Stoff zu sammeln.
Der oft genannte Schnee könnte seine Erstarrung symbolisieren; dass sie über einen „Schneeberg“ steigen, könnte die Mühe darstellen, aber auch darauf hinweisen, dass er sie bald hinter sich lässt.
Ich glaube, dass es vordergründig um das Thema Schreiben geht, was auch zum Titel passt.
Die Myers besuchen also die Morgans. Buzzy, deren lebhafter Hund, bringt Myers zu Fall, als sie das Grundstück betreten, später geht ihm Edgar Morgan an den Kragen.
Ich denke, dass Myers schnell überwältigt ist (dass er auch deshalb nicht in die Stadt will). Er legt Wert auf Schutz und Isolation. Aber als Schriftsteller muss er in das Leben anderer eindringen, was hier nicht nur im übertragenen Sinne geschehen ist – und die Morgans überhaupt nicht zu schätzen wissen.
Die Namensgebung in dieser Story ist interessant. Edgar ist „der seinen Besitz mit dem Speer Verteidigende“, Hilda ebenfalls eine „Kämpferin“. Das passt. Sie lassen nicht einmal ihren Hund in ihr Haus. Auch die Einladung an die Myers wurde nicht ohne Hintergedanken ausgesprochen: Die Morgans haben noch eine Rechnung offen mit ihnen. Dabei geht es um das eine Jahr, in dem sie in Deutschland waren und die Myers in ihrem Haus lebten, ggf. eine Katze hielten (was stimmen könnte, Myers saugt in der Anfangsszene die Haare weg) und (eventuell) in deren persönlichen Sachen wühlten. Das könnte sein oder nicht, denn als Schriftsteller muss man in das Leben der Figuren eintauchen, alles von ihnen kennen, ja, sogar den Musikgeschmack. Allerdings schreibt ein Schriftsteller eben nicht wahllos über jede hingeworfene Idee, wie die Morgans erkennen müssen. Vieles ist Fantasie – wie sie auch das Paar hat.
Die Geschichte spielt zur Weihnachtszeit, Kinder sind unterwegs, um zu singen und Häuser zu segnen – zu dem der Morgans gehen sie nicht, was Hilda in Tränen ausbrechen lässt (es wurde in ihre Privatsphäre eingedrungen, ein Haussegen verspricht Schutz).
In Vorbereitung des Fests packt Mrs. Morgan Geschenke ein – und das größte geht an Myers, ohne dass sie es ihm machen wollte. Denn im Laufe des Abends wandelt sich Myers, seine Stimmung. Anfangs lustlos und mürrisch, ist er letztlich fröhlich, lacht, kriegt sich kaum ein. Im letzten Satz heißt es: „Er war ganz am Ende einer Geschichte.“ (S. 212)
Abschließen möchte ich mit der Stelle, an der er seinen Namen an die Fensterscheibe schreibt. Das ist interessant. Denn es ist das Versetzen in die Lage aller, das Füllen von Lücken, von dem, das man nicht sieht; es ist sein Blick auf die Dinge, seine Deutung der Geschehnisse, die es ihm ermöglichen, die Geschichte niederzuschreiben, so dass ein Buch entsteht, auf dem sein Name prangt.
Originaltitel: Jerry and Molly and Sam
Der 31-jährige Al will den Familienhund Suzy (und eigentlich seine Probleme) loswerden.
Protagonist Al hat sein Leben nicht im Griff: Sein Arbeitgeber entlässt im großen Stil, im Übrigen hat er eine Affäre, die er weder beenden noch weiterführen will. Alles, wirklich alles entzieht sich seiner Kontrolle: „Er sah sie an, mit einem starren Ausdruck in seinem geschwollenen Gesicht, den er spürte, aber nicht verändern konnte.“ (S. 224)
Obwohl seine Kids Alex und Mary an dem Hund hängen, beschließt er, ihn loszuwerden. Es macht den Eindruck, als würde Al seine Sorgen und Ängste, den ganzen Ärger auf Suzy projizieren. Er verspricht sich viel davon, wenn sie weg ist. „Jedes Handeln war besser als Untätigkeit, davon war er immer mehr überzeugt.“ (S. 213) Das „Verschwinden“ des Hundes ist eine der wenigen Sachen, die er entscheiden kann.
Dass sein Arbeitgeber, der die Kündigungen ausspricht, Aerojet ist, dass er zu einem Getränk namens „Lucky“ greift, das halte ich nicht für einen Zufall. Er droht seinen Antrieb zu verlieren, sucht seine Lebensfreude. Und hier kommt der Titel ins Spiel:
Nachdem er Suzy weggebracht hat, trifft er in einer Bar auf Jerry und Molly. Letztere ist eine junge Frau, er bezeichnet sie als Mädchen, womit sie die Jugend symbolisiert, die er sich wünscht, während er überlegt, wie er seine kahle Stelle überkämmen soll. Er will sie mitnehmen (so hat es mit Jill, seiner Affäre, angefangen). Der Barmann, Jerry, ist gut im Reparieren. Das wäre Al auch gern. Und mit Sam haben wir den Irischen Setter seiner Kindheit, einen Jagdhund, einen Familienhund, ein Tier, das ihn an glücklichere – sorgenfreie – Tage erinnert. All das will er. Ein bisschen von Jerry und Molly und Sam. Und nicht das: „Sandy! Betty und Alex und Mary! Jill! Und Suzy, der gottverdammte Hund! Das war Al.“ (S. 215) Das ist Al – und er will es nicht sein.
Seltsam mutet die Szene an, in der er bei seiner Geliebten, die er eingangs ebenfalls als Mädchen bezeichnet, auftaucht. Denn Jill drückt ihm mit ihren starken Fingern einen Mitesser aus. Tja, sie ist diejenige, die alles im Griff hat, ihn ablenkt, ihn seine Makel kurzzeitig vergessen lässt, oder?
Letztlich, von Schuldgefühlen überwältigt, geht er auf die Suche nach Suzy. Er hat seiner Familie das angetan, das ihm widerfährt: Er hat ihnen den Hund weggenommen, sie können ihn rufen, solange sie wollen, nur Al hat eine grobe Ahnung, wo er ist.
Tatsächlich findet er Suzy. Aber die hat andere Pläne. Und er erkennt: „Die Welt war voller Hunde. Es gab solche Hunde, und es gab solche. Nur daß man mit manchen Hunden nichts anfangen konnte.“ (S. 231)
Es gibt solche Entscheidungen und solche, es gibt solche Phasen und solche. Mit manchen kann man nichts anfangen, aber man kann andere Entscheidungen treffen – und es werden andere Zeiten kommen.
Originaltitel: Why, Honey?
Eine Frau bekommt einen Brief von einem Unbekannten. Wir lesen in „Warum, mein Schatz?“ ihre Antwort – und kriegen damit einen Einblick in ihre Erlebnisse, als ihr Sohn ein Teenager war.
Ihr Sohn ist ungefähr 15, als es anfängt. Zunächst, so muss es wohl sein, tötet er Trudy, die Katze der Familie. Ständig lügt er über Kleinigkeiten – und verheimlicht Großes.
Die Erzählerin findet ein blutiges Hemdknäuel in seinem Kofferraum, ein paar Tage später verschwindet er. Sie sieht ihn nie wieder, zumindest nicht von Nahem.
Ihr Sohn wird ins Amt des Gouverneurs gewählt und berühmt. Über seine Vergangenheit und dunkle Seite wird nichts bekannt. Bezeichnend, dass sie sich hier zu sorgen beginnt und aufhört, ihm zu schreiben, was sie zuvor häufig getan hat, ohne eine Antwort zu bekommen.
Obwohl sie umgezogen ist, ihren Namen geändert hat und niemand weiß, dass sie mit ihm verwandt ist, bemerkt sie Autos, bekommt Anrufe, ohne dass sich jemand meldet. Sie hat Angst.
Die Story ist düster und für mich die spannendste aus der Sammlung „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“. Dass die Frau sie quasi als Ich-Erzählerin erzählt, da sie ja einen Brief schreibt, war die richtige Entscheidung.
Nun könnte man meinen: Sie drückt sich so vage aus, siezt den Unbekannten, dem sie ihre Zeilen widmet, sie weiß nicht, an wen sie ihre Worte sendet, sie will einfach ihr Herz ausschütten, an wen auch immer. Ich glaube das nicht.
Ich bin überzeugt davon, dass sie weiterhin versucht, herauszufinden, was ihren Sohn angetrieben hat. Weshalb er nicht einmal ihr gegenüber ehrlich sein konnte.
Wir haben hier diese Sätze, die sie damals zu ihrem Sohn sagt:
„Warum lügt er, würdest du dich fragen, was hat er davon, ich verstehe es nicht. Ich frage mich immer wieder, warum, aber ich weiß keine Antwort. Warum, mein Schatz?“ (S. 238)
In ihrem Brief schreibt sie nun:
„Wenn Sie ein mächtiger Mann sind und jemanden finden wollen, dann finden Sie ihn auch, es dürfte gar nicht so schwer sein.“ (S. 239)
UND letztlich:
„Ich wollte Sie auch fragen, wie Sie meinen Namen bekommen haben und wußten, wohin Sie mir schreiben mußten, ich habe gebetet, daß niemand es erfährt. Aber Sie haben es herausgekriegt. Warum? Bitte sagen Sie mir, warum.“ (S. 240)
Sie ist noch immer voller Unverständnis und auf der Suche nach einer Erklärung. Könnte ihr ein Fremder diese geben? Nein. Der Einzige, der das könnte, ist ihr Sohn.
Die Szene, in der er ihr befiehlt, auf die Knie zu fallen, sagt es voraus: Er steht über den Dingen. Über ihr. Sein Aufsatz (über die Beziehungen zwischen dem Kongress und dem Supreme Court) weist ebenfalls in diese Richtung. Er kennt sich aus mit den Machtverhältnissen.
Ihr Sohn ist ihr fremd geworden und inzwischen berühmt. Sie fürchtet ihn, hat das Gefühl, er beobachtet sie, wie sie auch niederschreibt. Das kann er ruhig wissen, das soll er sogar, er soll diesen Zustand beenden und sich ihr anvertrauen.
Dass sie den Mann in ihren Zeilen siezt und sich auffallend förmlich ausdrückt, zeigt ihre Distanz. Indem sie betont, dass er ein guter Junge war (abgesehen von…), macht sie deutlich, dass er ihr noch immer viel bedeutet. Dass sie nicht nur die Schattenseiten sieht.
Die namenlose Frau unterschreibt den Brief nicht. Dort steht: „Hochachtungsvoll, Ihre“ (S. 240) Man könnte wild spekulieren: Wird ihr etwas angetan, ehe sie ihn beenden konnte? Von ihm? Ich glaube das kein bisschen. Ich denke, dass sie hier „Ihre Mutter“ schreiben müsste. Aber das geht ja nun wirklich nicht. Also lässt sie es offen. Ihre … – er kann sich den Rest denken. Was auch immer er für akzeptabel hält.
Originaltitel: The Ducks
Durch den Tod seines Vorgesetzten wird ein Mann an seine eigene Sterblichkeit erinnert – und zweifelt an seinem Leben.
Wir haben in „Enten“ von Raymond Carver zwei namenlose Figuren: „Er“, ein Mann, „sie“, seine Frau. Und um die beiden, insbesondere ihre (gemeinsame?) Zukunft geht es hier.
Die Geschichte beginnt damit, dass „Enten in schwarzen Explosionen vom See“ (S. 241) aufgescheucht werden. Die meisten von ihnen fliegen zu zweit. Ich habe Google befragt, weil ich dachte: Hey, geht es hier um das Thema Monogamie? Die Antwort ist: Enten leben im Gegensatz zu vielen anderen Vogelarten nicht dauerhaft monogam. Überwiegend hält die Verbindung nur eine Saison. Ein Hinweis? Möglicherweise, denn im Verlauf wird erwähnt, dass sie ihre Menstruation hat – ein Zyklus ist zu Ende gegangen, ein neuer beginnt.
Das Wetter spielt eine große Rolle, der Wind bringt alles in Bewegung, es „knallten Laken und Decken wie Schüsse im Wind“. (241) Es regnet stark. Die Atmosphäre ist unheilvoll.
Es fällt auf, dass die beiden zunächst kaum zusammen sind. Eingangs zerteilt er Holz (was für die Spaltung, Entzweiung stehen kann), es steht im Raum, dass er jagen will, er fährt zur Arbeit. Sie spricht es sogar aus: „Es kommt mir so vor, als wärst du dauernd fort.“ (S. 242) Sie sagt es nicht zu ihm, sondern durch ein Fenster (das die Distanz und Trennung unterstreicht), wobei sie ihren Atem auf dem Glas verschwinden sieht (Vergänglichkeit).
Sie ist ihm zugewandt, sucht seine Nähe und spricht ihre (positiven) Gefühle aus.
Er hingegen geht auf Abstand.
Ich glaube, dass ihn der Vorfall in der Sägemühle (sein Vorgesetzter stirbt unerwartet) aufweckt. Er ist seine „schwarze Explosion“. Ein Todesfall kann uns aus dem Leben werfen, aber er kann uns auch hineinschmeißen. Er fängt an, alles zu hinterfragen. Ob er sie liebt. Ob er weggehen soll. Er sagt: „Ich würde gern da hingehen, wo ich herkomme, und meine Leute sehen.“ (S. 247) Es gibt zu diesen Überlegungen, ausgelöst dadurch, dass er mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert wird, mehrere Sätze – und immer sagt er „ich“, nicht „wir“.
Auffällig ist, dass sie ihn ständig ablenkt. Sie bringt ihn stets wieder auf Kurs. Aber in der Schlussszene schläft sie und wacht auch nicht auf, als er sie zu wecken versucht. Nun liegt er allein da mit dem Regen, den er überall hört, mit der Dunkelheit vor dem Fenster, in der er nichts zu erkennen vermag, mit dem Geräusch, das er draußen wahrnimmt – mit seinen Gefühlen und den Gedanken an die unklare Zukunft.
Originaltitel: How About This?
Ein Paar entflieht der Stadt und seinen Problemen – mit Erfolg?
Harry, ein Stadtmensch, flüchtet mit seiner Frau Emily in das leerstehende Haus ihres Vaters. Sie, eine Malerin, ist hier, es steht im nordwestlichen Teil des Staates Washington, aufgewachsen.
Über ihn erfahren wir: „Er war zweiunddreißig Jahre alt und war sozusagen Schriftsteller, aber er war auch Schauspieler und Musiker.“ (S. 251) Sozusagen ein Schriftsteller, okay. Sein Schauspieltalent zumindest beweist er im Verlauf.
Schon auf der Fahrt überfällt ihn die Hoffnungslosigkeit. Er kann sie kaum ansehen – und es wird deutlich, dass es nicht nur um einen Umzug geht, es geht auch um die Zukunft ihrer Beziehung. Das wird von dem „halbfertigen schattigen Porträt von einem Mann und einer Frau“ (S. 252), an dem sie arbeitet, unterstrichen. Dass sie ihn dauernd ansieht, signalisiert mir, dass sie es fertigmalen will. Sie versucht, seine Signale zu lesen. Sie erwartet eine Entscheidung.
Er hatte den Wunsch, ein neues, einfacheres Leben zu beginnen – und ist doch schockiert über die Zustände des Hauses. Er hatte sich einen Kamin vorgestellt, den es genauso wenig gibt wie Elektrizität oder eine Toilette.
Ich glaube, dass das Haus für die Beziehung der beiden steht. Zwar bemerkt er die soliden Grundmauern, muss aber seine Enttäuschung verbergen. Er weiß, dass es harte Arbeit ist, die Beziehung zu retten. Wie viel Wahrheit steckt darin, wenn er zuversichtlich klingt, etwa wenn er die „verkümmerten Apfelbäume“ „wieder zum Tragen“ kriegen will (S. 252)?
Im Gegensatz zu Emily fällt es Harry schwer, etwas zu beenden. Seinen Roman, den er vor drei Jahren begonnen hat, die Beziehung. Sie signalisiert ihm, dass er derjenige ist, der sich entscheiden muss: Will er bleiben (in dem Haus, in der Gegend, in der Beziehung) oder gehen (zurück in die Stadt, womöglich allein). Doch obwohl er für sich einen Entschluss gefasst hat, bringt er es nicht über sich, ihn auszusprechen.
Er weiß, dass sie, die Hochseilakrobatin voller Lebenskraft, über ihm steht. Sie wird akzeptieren, was immer kommt, wird ihre Freude wiederentdecken (Räder schlagen), sich ausbalancieren („Sie ließ sich locker in einen Handstand fallen, gewann ihr Gleichgewicht und begann sich zittrig und schwankend in seine Richtung zu bewegen.“). Doch er … er wird möglicherweise daran zerbrechen.
Originaltitel: Bicycles, Muscles, Cigarettes
Ein verschwundenes Fahrrad bringt Vater und Sohn näher zusammen.
Diese Geschichte aus dem Sammelband „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ hat mich berührt.
Es geht um Evan Hamilton, der vor zwei Tagen mit dem Rauchen aufgehört hat. Er kann kaum an etwas anderes denken, riecht den Qualm an seinen Händen. Seine Frau Ann kennt das und prophezeit ihm, dass der dritte Tag besser wird – doch es geht schneller.
An diesem Novemberabend wird Evan von einem fremden Jungen abgeholt. Er soll zum Haus der Millers kommen, da sein Sohn Roger mit einem verschwundenen Fahrrad in Verbindung gebracht wird.
Dort angekommen, trifft er auf drei beschuldigte Kinder: seinen Neunjährigen sowie dessen Freund Kip und einen weiteren Jungen. Letzterer, er heißt Gary Berman, soll Roger sogar gewürgt haben. Hier kriegen wir einen Vorgeschmack auf das, was kommt. Denn die Väter geraten aneinander: Evan geht auf Mr. Bermans Sticheleien ein und sie enden auf dem Rasen.
Vielleicht hätte der Kampf sowieso stattgefunden, vielleicht ist Evan wegen des Nikotinentzugs reizbarer. In jedem Fall sind hinterher alle Beteiligten (die Kinder haben zugeschaut, obwohl sie gehen sollten) schockiert.
Es fällt auf, dass der Vater keine Ahnung vom Leben seines Sohnes hat. Zum einen kennt er Gilbert, der offenbar ein Freund von Roger ist, nicht, weder dem Namen nach noch erkennt er ihn, als sie im Haus der Millers aufeinandertreffen. Zum anderen sagt ihm die Straße, in der Gilbert wohnt, nichts, obwohl diese nur zwei Blocks entfernt ist.
Sie leben in verschiedenen Welten.
Ich glaube, dass der Streit wegen des Fahrrads die beiden näher zueinander bringt. Zunächst legt Evan auf dem Rückweg den Arm um seinen Sohn, wobei auffällt, dass er ihn wegnimmt, als sie zu ihrem Block zurückkommen. Er ist in seinem Verhalten festgefahren, hat nur in diesem fremden Gebiet anders reagiert als sonst.
Dann will Roger Evans Muskeln spüren.
Anschließend bekommt „Fahrräder, Muskeln, Zigaretten“ ein paar einfühlsame Zeilen:
Roger ist besorgt, schließlich hätte der andere ein Messer ziehen können. Dann gehen sie zur Haustür hinauf und „Es rührte sein [Evans] Herz, als er die erleuchteten Fenster sah.“ (S. 271)
Er setzt sich auf die Veranda und kann sich nur an den einen Kampf seines Vaters erinnern, den er einst beobachtete, nicht an mehr von ihm, obwohl er ihn geliebt hat. Ich glaube, dass er befürchtet, dass es seinem Sohn einmal so gehen könnte. Ihm wird bewusst, dass er keine tiefe Verbindung zu Roger und dessen Leben hat.
Am Schluss führt er ein Gespräch mit seinem Sohn, der nicht einschlafen kann. Es endet damit, dass Roger sagt: „Dad? Du denkst bestimmt, ich bin ein bißchen verrückt, aber ich wünschte, ich hätte dich gekannt, als du klein warst. Ich meine, ungefähr so alt, wie ich jetzt bin. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber wenn ich daran denk, hab ich so ein einsames Gefühl. Es ist – es ist so, als ob ich dich schon vermisse, wenn ich jetzt daran denke.“ (S. 274)
Er bittet ihn, die Tür aufzulassen. Evan entscheidet sich dagegen, er lehnt sie bloß an.
Ich glaube, der Vater erkennt, wie groß Roger schon ist, wie weit, wie viel er weiß und spürt. Und er will für ihn da sein, ihm helfen, zu wachsen, ihn unterstützen, wie er ihn an diesem Tag unterstützt hat – in jeder Hinsicht.
Dass der Geruch an seinen Händen weg ist, zeigt eine Änderung an. Diesen Kampf hat er gewonnen. Er hat jetzt andere Dinge zu tun, wird sich nun mit anderen Gedanken als mit denen an Nikotin befassen. Er hat Wichtigeres zu tun. Denn er hat einen Sohn, der mit jedem Tag ein bisschen größer wird – und von dem er will, dass er sich an etwas anderes erinnert als an diesen Kampf, den er mitansehen musste.
Originaltitel: What Is It / Are These Actual Miles
Leo und Toni stecken in finanziellen Schwierigkeiten. Vor der Anhörung am Montag wollen sie auf Rat ihres Anwalts Tonis Cabrio verkaufen, damit es nicht gepfändet wird.
Wir haben in „Was ist denn“, im Original „Are These Actual Miles“, eine verschuldete Familie, bestehend aus Leo, der in einer Glasfaserfabrik arbeitet, Toni, eine Vertreterin, und den Kindern, die die gesamte Geschichte über bei seinen Eltern sind.
Bei den Großeltern bekommen sie einen Hund, „Mr. six“, was mich nicht losgelassen hat. Was soll dieser Name bedeuten? Hier ist nichts zufällig. Also? Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Vielleicht weil sechs die Hälfte von zwölf, einem Dutzend ist, das am Ende auftaucht? Abgeleitet von der Dutzendware (und davon nur ein halber Teil) stellt es das Gegenteil der Luxusartikel dar, die die Mutter braucht, um glücklich zu sein. Schließlich müssen sie den Gürtel nun zweifellos enger schnallen, was die Kinder nicht stören wird – sehr wohl aber den Rest der Familie.
Das Paar ist in einer Notlage, weil es über seine Verhältnisse lebt. Dabei ist es vor allem Tonis Konsumverhalten, das unangemessen erscheint. Sie gibt viel Geld für Essen aus, um den Kindern mehr zu bieten, als sie früher hatte. Während Leo einen kleinen Wagen fährt, muss ihr großes rotes Cabrio verkauft werden, in dessen Handschuhfach Blue-Chip-Marken herumliegen. Um bei den Verkaufsgesprächen einen guten Eindruck zu machen, zieht sie ein Outfit an, das aus neuen und hochwertigen Stücken besteht. Sie will auf der Sonnenseite des Lebens stehen, es muss schon Eidechsenleder sein.
Als Toni aufbricht, heißt es auf Seite 280: „Ihm wird klar, daß er gern tot wäre.“ Er ist in einer schwierigen Lage, die der Grund seiner Verzweiflung sein könnte. Aber es könnte auch eine Art Vorahnung sein. Denn während sie versucht, ihr Cabrio an den Mann zu bringen, ist Leo angespannt, verspannt: „Er setzt sich aufs Sofa, aber seine Schultern sind, wie er jetzt merkt, so steif, daß er sich nicht zurücklehnen kann.“ (S. 281) Er vertraut ihr nicht. Seine Schultern wurden vorher schon einmal erwähnt, als er an seinen eigenen Fehltritt erinnert wurde.
Die Story wird in kurzen Sätzen erzählt, es kommt hektisch rüber, der innere Aufruhr Leos ist spürbar. Er steht davor, noch mehr zu verlieren, als wir eingangs vermuten.
Die Tatsache, dass sie den Verkaufsleiter eingeweiht hat in ihre finanzielle Misere, ist spannend. Er könnte das ausnutzen. Zumal er ihr gesagt hat, er „würde sich lieber zum Räuber oder Vergewaltiger erklären lassen als bankrott.“ (S. 282)
Aber sie könnte es ihm auch erzählt haben, weil sie Verständnis sucht für ihre Lage. Unterstützung. Eine Fluchtmöglichkeit.
Ich schätze die Beziehung generell nicht besonders stabil ein. Der Ton zwischen Leo und Toni ist schroff, viele Fragen bleiben unbeantwortet, sie stichelt gegen ihn. Es gibt Misstrauen und Schuldzuweisungen.
Einerseits scheint er ihr untreu gewesen zu sein, was der Nachbar erahnt, dessen Anblick es ihm immer wieder vor Augen führt. Kurzzeitig will Leo es sogar hinausschreien, beichten, lässt es aber sein.
Andererseits hat er solche Angst, dass Toni ihn mit dem Verkaufsleiter betrogen hat, dass er ihren Slip untersucht.
Ist es Liebe – oder war es ein weiteres Geschäft, das sie nicht mehr bedienen wollen (sie) bzw. können (er)? Er schwört Veränderungen herauf: „Montag fangen wir neu an. Im Ernst“ (S. 278), ruft er ihr hinterher. Ein Versprechen, der Versuch, sie bei der Stange zu halten? Der Verkauf des Cabrios, das Cabrio selbst, hat eine immense Bedeutung.
Um den Titel zu verstehen, sind zwei Stellen wichtig, denn zunächst hieß die Kurzgeschichte „What Is It“ – und das finden wir auf Seite 285, als Toni schon schläft und Leo auf den Käufer trifft: „Was ist denn, was wollen Sie?“ sagte der Mann. „Schauen Sie“, sagte der Mann, „ich muß weiter. Nichts für ungut. Ich kaufe und verkaufe Autos. Klar? Die Dame hat ihr Make-up vergessen. Sie ist eine feine Dame, sehr kultiviert. Was ist denn?“
Ja, was ist denn? Was war? Das ist die Frage. Toni, die Vertreterin, hat sich quasi selbst verkauft. Und für den Mann scheint es normal zu sein, seine Geschäfte so abzuwickeln. Keine große Sache.
Hier ist auch das „Montag“ von Bedeutung, das zwischen Leo und dem Käufer fällt. An dem Tag wird sich alles entscheiden.
Der Name der Kurzgeschichte wurde später in „Are These Actual Miles“ geändert. Im Text fragt der Käufer Leo: „Unter Freunden, ist das tatsächlich der Meilenstand?“(S. 286) Freunde sind sie sicher nicht. Konkurrenten? Der Mann kriegt keine Antwort, aber es ist ihm auch egal. Die Vergangenheit des Autos, Tonis Vergangenheit spielt für ihn keine Rolle.
Dass Leo die Tür abschließt und das Ganze kontrolliert, unterstreicht seine Sorge, dass er in ihr Leben eindringen könnte.
Als er neben Toni im Bett liegt, erkennt er in ihren Schwangerschaftsstreifen Wege. Auch sie werden nun einen neuen Pfad beschreiten müssen. Zunächst hatten sie mehr Knete, als sie ausgeben konnten, dann haben sie alles auf Raten gekauft. Das Glück kann nicht länger bezahlt werden – und ich fürchte, dass Leo Toni ohne Geld nicht halten wird.
Originaltitel: Signals
Zu ihrem 37. Geburtstag gehen Caroline und Wayne in ein neues Restaurant – ein Abend, der über ihre (gemeinsame?) Zukunft entscheidet?
Es ist Carolines 37. Geburtstag, an dem sie mit Wayne, mit dem sie seit geraumer Zeit zusammen ist (sie sagt: „Ich hab dir die besten Jahre meines Lebens geschenkt.“ (S. 295)) in ein neues Restaurant geht. Zunächst sind beide fasziniert von dem Ambiente (es gibt eine Voliere), auch die Geschichte des Besitzers, Aldo, beeindruckt sie. Doch die Stimmung hält nicht: Wayne ist zunehmend irritiert von den ungewohnten Klängen und Speisen, unzufrieden mit der Tischwahl und dem Ober, der wenig Englisch spricht.
Der Titel kommt ins Spiel, als der Kellner die Wünsche notieren will. Wayne schüttelt den Kopf und schickt ihn weg, indem er sagt: „Ich geb Ihnen ein Zeichen, wenn wir soweit sind.“ (S. 290)
Dadurch bringt er ihn in eine ähnliche Lage wie die, in der er sich befindet, denn ich glaube, dass auch er auf ein Zeichen wartet. Zwar behauptet er ständig, es sei ihm egal, aber einmal fragt er Caroline offen: „Also, was meinst du? Gibt es eine Chance für uns, oder nicht?“ (S. 294)
Es kriselt gewaltig, die Stimmung ist gereizt und angespannt. Sie blickt ihn kaum an und wenn doch, wird er nervös (großartig dargestellt).
Um auf den Titel zurückzukommen: Meiner Meinung nach gibt es viele Zeichen – und die zeigen nicht in Richtung einer gemeinsamen Zukunft.
Man könnte den Eindruck kriegen, Caroline hätte etwas getan mit jemandem, dem er sich unterlegen fühlt. Er sagt zu ihr, er ist „Nicht wie die Leute, mit denen du neuerdings verkehrst“ (S. 292). Wollte er deshalb dieses elegante Lokal testen? Um ihr zu zeigen, dass er mithalten kann?
Gleichzeitig (und das halte ich für äußerst wichtig) bekundet er, sich mehr Mühe geben zu wollen, macht ihr aber direkt wieder einen Vorwurf: „Ich bin nicht der, der … der …“ Auch auf Nachfrage führt er es nicht aus. Steht etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen? Hat sie ihn hintergangen? Möglich. Ich glaube nur nicht daran. Meiner Vermutung nach hat sie nichts getan. Sie ist das Opfer seiner (in dem Fall) grundlosen Eifersucht.
Dass er zu übertriebenem Verhalten neigt, wird dadurch deutlich, dass Wayne anfangs beeindruckt ist und die Beziehungen des Besitzers herausstellt. Später, in seiner Eifersucht, spricht er ihm die Verbindungen ab. Er reagiert irrational, wenn er sich unzulänglich fühlt. Ein schönes Beispiel bietet die Verabschiedung von Aldo, der sehr liebenswürdig zu Caroline ist. Dass er das mit jeder anderen Person, die den Laden betritt, ebenfalls tut, sieht er nicht.
Die Distanz zwischen ihnen wird besonders deutlich, als sie das Restaurant verlassen. Aldo verfüttert Körner an die Vögel, Wayne kann es kaum mitansehen, wendet sich ab, um dem Handschlag zu entgehen (für mich symbolisieren die (Samen-) Körner das Neue, das der Abend „gepflanzt“ hat und das er nicht sehen/wahrhaben, mit dem er nicht in Berührung kommen will).
Auf die Frage des Besitzers, ob sie wiederkommen, antwortet Caroline: „Sooft ich kann.“ (S. 296) „Ich“, nicht „wir“. Ich glaube, um auf die Vögel zurückzukommen, die eines der extravaganten Dinge des Ladens sind: Mit ihm ist sie gefangen. Aber sie erkennt, dass die Möglichkeit besteht, sich zu befreien.
Originaltitel: Will You Please Be Quiet, Please
Ralph Wyman drängt seine Frau Marian, ihm von der Party von vor zwei Jahren zu erzählen, bei der sie ihn, so meint er, betrogen hat.
Ralph und Marian, beide Lehrer und schon lange zusammen, sind verheiratet und haben zwei Kinder. In letzter Zeit trüben Befürchtungen darüber, was auf der Party vor zwei Jahren passiert ist, Ralphs Glück. Hat Marian ihn mit Mitchell Anderson betrogen?
Um Marian die Entscheidung, sich ihm zu offenbaren, zu erleichtern, gibt Ralph vor, nicht mehr zu wissen, wie viele Jahre die Party zurückliegt. Drei, vier. Dabei weiß er es genau, denn es quält ihn.
Auf sein Drängen hin gibt Marian zu, dass Mitchell sie ein paar Mal geküsst hat – unter anderem. Dieses Geständnis, das er doch so gern hören wollte, wirft ihn völlig aus der Bahn. Er ist so ziellos und überfordert wie damals, als er an seinem Tiefpunkt war und Schwierigkeiten hatte, sich für ein Studium zu entscheiden. Arzt? Rechtsanwalt? Beides war nicht das Richtige. Im dritten Collegejahr lernte er Dr. Maxwell kennen, der sein Leben veränderte. Ralph, fortan weniger Alkohol trinkend, wurde – wie er – Lehrer, geselliger, beliebter. Dass er nun, nach Marians Beichte, an Dr. Maxwell zurückdenkt, unterstreicht, wie hart ihn die Bestätigung seiner Vermutung trifft.
Sein Ausruf „Aber du bist immer so gewesen, Marian!“ (S. 307) ist übertrieben, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. Hier sind die eindrücklichen Sätze über die Hochzeitsreise nach Guadalajara von Bedeutung: Ralph, entsetzt von der „unverhüllten Begierde“ Mexikos, nimmt, sehr zu seiner Beunruhigung, einen „Moment von intensiver Dramatik, in den Marian durchaus hineinpaßte, er jedoch nicht“ wahr. (S. 302). Sie hat (symbolisiert auch durch ihren roten Schal) schon immer eine Leidenschaft und Anziehungskraft ausgestrahlt, der er (und wohl nicht nur er) erliegt.
Ralph läuft durch die Straßen und stellt fest, dass an jeder Ecke ein anderes Elend wartet: Verlockungen (Blake’s, wo er manchmal nachmittags einkehrt, bevor er die Kinder abholt, Kartenspieler), Erinnerungen (an einen Mann in Arcata – dazu mehr unter diesem Post, sowie an Marian in allen möglichen Situationen) und Ärgernisse (Streits, Gewalt). Es gibt keine Welt, kein Leben ohne. Wird ihm dabei, in der „Second Street, dem Teil der Stadt, den die Leute die ‚Straße zwei‘ nannten“ (S. 314), bewusst, dass eine zweite Chance durchaus eine Option ist?
Der Titel fällt, als er zurückkehrt und sich im Badezimmer einschließt. Sie will, dass er aufmacht, er will seine Ruhe, nichts mehr hören – und dann sagt er es: „Würdest du bitte endlich still sein, bitte?“ (S. 324)
Wie geht das Ganze aus? Haben sie eine Zukunft?
Ich glaube ja.
Er steht vorm Spiegel, schneidet Gesichter – und gibt auf. Er will kein anderer sein oder werden. Und in der Schlussszene lässt er ein bisschen los, wendet sich Marian zu. Zwar kann man das immer noch in die entgegengesetzte Richtung lesen, vor allem, weil er „über die unmöglichen Veränderungen, die, wie er spürte, über ihn kamen“ staunt. (S. 326) Aber ich glaube, dass es positive Veränderungen sind. Er hat erkannt, dass er („Ein Gesicht: nichts daran außergewöhnlich“, S. 317) und sein Schicksal nicht herausstechen, dass die Welt da draußen viel Böses zu bieten hat. Und dass er zu seiner Familie mit Marian und Dorothea und Robert zurückkehren kann (das Lohnenswerte, das sein Vater ihm neben all den Mühen prophezeite).
Auf Seite 301 heißt es: „Sie hatten einander am Abend vor ihrer Hochzeit die Hände gehalten und gelobt, für immer die Freuden und das Mysterium der Ehe zu bewahren.“ Seit er sie kennt, versteht er sich selbst. Er gibt das nicht auf. Vielmehr werden sie das Geheimnis ihres Fehltritts (und auch das seiner Reaktion darauf, damals und heute) bewahren – nun gemeinsam.
Ich bin überzeugt davon, dass nichts zufällig ist bei Carver. Insofern sind mir gewisse Überschneidungen aufgefallen, Themen, Orte, Symbole, die wiederkehren. Ein Beispiel aus der letzten Kurzgeschichte, die mir noch frisch im Gedächtnis ist: Der Mann in Arcata, an den Ralph in „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ denkt, hat einen Bezug zu „Was machen Sie in San Francisco?“: Er ist das abschreckende Beispiel davon, wie seine Zukunft aussähe, würde er Marian und seine Kinder verlassen.
Wenn ich die Sammlung noch einmal lese, werde ich sicher mehr Verbindungen entdecken. Und das fühlt sich gut an, wie ein harmonisches Ganzes. Diese Sammlung ist eine Wundertüte, nicht nur jede Story für sich, sondern auch das Buch insgesamt. Großartig!
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe die Ausgabe 3-442-76007-0 aus Dezember 2001 gelesen. Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich darauf.
Man merkt es, oder? Ich bin schwer begeistert. Ich werde mich nie auf ein Lieblingsbuch festlegen. Aber wenn ich müsste, … tja. ♡
Originaltitel: Will You Please Be Quiet, Please? (1976)
Übersetzung: Helmut Frielinghaus
Verlag: S. Fischer Verlage
Erschienen: 23.05.2012
Seiten: 304
ISBN: 978-3-596-90390-0
Jetzt zu Amazon:
Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.
Mehr von Raymond Carver
Der Beitrag Würdest du bitte endlich still sein, bitte – Raymond Carver erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>Der Beitrag Hotel – Arthur Hailey erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>„Hotel“ von Arthur Hailey (1965 im Original erschienen) ist ein überaus unterhaltsamer Roman. Die Geschichte ist abwechslungs- und temporeich, aber auch vorhersehbar.
Montagabend. Warren Trent, der seit über 30 Jahren das St. Gregory Hotel leitet, weiß, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt: Am Freitag wird eine zwanzig Jahre alte Hypothek fällig. Zwei Millionen Dollar, die er nicht hat – und auch nicht kriegt. Es sieht danach aus, als müsste er an die Kette von Curtis O’Keefe verkaufen. Wird er einen Ausweg finden?
Hinter den anderen Türen des größten Hotels New Orleans spielen sich andere Dramen ab, mit denen sich vor allem Peter McDermott, der 32-jährige stellvertretende Direktor, befasst. Er macht seine Sache gut, auch wenn er nicht viel von Trents Ansichten hält und oft gegen seine eigenen Überzeugungen handeln muss.
Die Hauptfigur spielt Peter McDermott. Er ist stellvertretender Direktor und sofort zur Stelle, wenn Hilfe benötigt wird. Er kennt das Hotel in- und auswendig, hat jeden Winkel inklusive Mitarbeiter gesehen, die vielen anderen verborgen bleiben. Über den Angestellten am Verbrennungsofen, der den Müll sortiert, heißt es:
"Aber in Gegenwart des jungen stellvertretenden Direktors fühlte sich Booker irgendwie mehr wie ein Mensch - wie ein Individuum."
eBook S. 522/590, 89 %
Und das kann man nachvollziehen.
Ich mochte Peter, den Singlemann, der plötzlich zwischen zwei Frauen steht, den Beschäftigten, der ständig gegen seine Überzeugungen handeln muss.
"'Ab und zu jedoch muss man das, was man sich wünscht, gegen das abwägen, woran man glaubt.'"
eBook S. 460/590, 78 %
Die übrigen Figuren sind ebenfalls vorstellbar. Gern hätte ich ein paar mehr Informationen zu Christine Francis, Trents persönlicher Assistentin, gehabt, aber wenn ich ehrlich bin, hat es gereicht: Ich wollte, dass Peter die richtige Entscheidung trifft und aus den beiden etwas wird. Somit habe ich sie wohl hinreichend kennen gelernt.
Es gibt keinen Ich-Erzähler, aber viele verschiedene Perspektiven. So lesen wir über Peter McDermott und Warren Trent, über die Gäste wie die Herzogin und den Herzog von Croydon, die in großen Schwierigkeiten stecken. Der Ex-Polizist und Hausdetektiv Theodore I. Ogilvie sorgt ebenso für einen interessanten Part wie Keycase Milne, der professionelle Hoteldieb.
Durch die wechselnden Einblicke bleibt es die ganze Zeit über spannend. Ich habe die Geschehnisse quasi als Serie vor mir gesehen und hatte wirklich Spaß.
Es handelt sich nicht um einen Kriminalroman, es muss kein Täter gesucht werden, auch wenn gewisse Ermittlungen eine Rolle spielen. Trotzdem empfand ich das Lesen als spannend. Das lag vor allem daran, dass so viel passiert. Die Geschichte umfasst fünf Tage auf knapp 600 Seiten – und ich hatte das Gefühl, dass sich in jedem Absatz etwas Neues ereignet. Durch die Perspektivwechsel wird man hier und da auf die Folter gespannt, aber der Autor zieht die Geheimnisse und sich anbahnenden Probleme nie unnötig in die Länge. Ich wurde die ganze Zeit über großartig unterhalten.
"Es war ein ereignisreicher Abend gewesen, dachte Peter, mit einem gehörigen Maß an Unannehmlichkeiten, obwohl das bei einem großen Hotel nichts Ungewöhnliches war. Das Leben bot sich hier oft in dramatischer Zuspitzung dar, und Hotelangestellte gewöhnten sich mit der Zeit an das Schauspiel."
eBook S. 68/590, 11 %
Außerdem laufen gefühlt zwei Countdowns. Zunächst der um die Zukunft des St. Gregory Hotels. Zum anderen der, der für das erschreckende Ende sorgt.
Das Buch ist (nahezu komplett) vorhersehbar. Am Anfang weiß man wenig, aber je mehr man erfährt, desto klarer kristallisieren sich die Lösungen heraus. Für mich waren die Überraschungen, die die Figuren in dem Roman überrumpeln, absolut nichts, das ich nicht hätte kommen sehen.
Dass die Geschichte derart voraussagbar ist, störte mich nicht. Sie hat mir Spaß gemacht und ich wollte lesen, dass es so kommt, wie ich es mir dachte. Für Fans undurchschaubarer Bücher ist dieses aber nichts.
Eine kleine Ausnahme bildet das Ende, das durch die gemächliche Vorbereitung allerdings auch nicht aus dem Nichts kommt. Inwieweit es sich in die heile und vorausgeahnte Welt fügt, muss man selbst entscheiden.
Das Buch besteht aus 592 Seiten und ist auf die fünf Wochentage (Montag bis Freitag) aufgeteilt.
Die Geschichte kommt durch die vielen Handlungsstränge flott voran. Die Perspektivwechsel und „Countdowns“ sorgen für Spannung.
Die Details zu den Hotelabläufen haben mir gefallen. Ich hatte das Gefühl, dass der Autor sehr gründlich recherchiert hat.
„Hotel“ erschien im Original 1965 und spielt kurz vorher. Es ist – wie die Ansichten Trents innerhalb der Geschichte – stellenweise veraltet. Themen wie die Rassentrennung sorgen für hitzige Diskussionen, das N-Wort fällt ebenfalls.
„Hotel“ von Arthur Hailey liest sich schnell weg und bleibt durch die Perspektivwechsel interessant und abwechslungsreich. Man merkt dem Roman sein Alter an – und vorhersehbar ist er auch. Dennoch ein Buch, das mich bestens unterhalten hat, ohne dass man irgendetwas investieren müsste. Ich würde weitere Werke des Autors lesen.
Übersetzung: Renate Steinbach
Verlag: Heyne
Erschienen: 13. 11.2017
Seiten: 592
ISBN: 978-3-453-42219-3
Jetzt zu Amazon:
Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.
Der Beitrag Hotel – Arthur Hailey erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>Der Beitrag Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen – Margaret Craven erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>„Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen“ von Margaret Craven ist eine sehr ruhige und einfühlsame Geschichte.
Der 27-jährige Vikar Mark Brian wird nur noch maximal drei Jahre leben. Im Gegensatz zu dem Bischof, der ihn aufgrund der Diagnose in das indianische Dorf Kingcome schickt, weiß er nichts davon.
Obwohl es wenig aussichtsreich erscheint und der Bischof von Anbeginn an klar macht, dass es ihm niemand danken wird: Mark findet einen Weg in die Herzen der Bewohner – und dafür braucht es nicht einmal Worte wie „Liebe“ oder „danke“.
Die Geschichte beginnt mit der Feststellung der nie genannten Krankheit Marks, die nicht heilbar ist und ihm nicht mehr als drei Jahre Lebenszeit lässt. Er wird nach Kingcome geschickt, das irgendwann aussterben wird, weil die jungen Menschen das Indianerdorf verlassen, um zur Universität zu gehen. Dort erwartet ihn ein ertrunkenes Kind – und es wird weitere Todesfälle geben.
Mark trifft immer wieder auf den Tod, ohne an seinen eigenen zu denken. Andere wissen um sein Schicksal, obwohl er keine gravierenden Probleme hat, er selbst gesteht sich erst am Ende ein, die Wahrheit verdrängt zu haben. Verwunderlich ist das nicht:
"In einer Welt, in der die Menschen eine künstliche Nebelwand zwischen sich und dem Wesentlichen errichteten, dessen Vorhandensein sie fürchteten und darum fast immer leugneten? Hier, wo der Tod hinter jedem Baum wartete, hatte er Freundschaft mit der Einsamkeit geschlossen, mit dem Tod und mit der Entbehrung, und als Rückenstütze hatte er die feste Mauer seines Glaubens gehabt."
S. 139
Es geht darum, Veränderungen, den Tod, ja, den natürlichen Lauf des Lebens zu akzeptieren und seinen Frieden damit zu schließen.
"Aber über eines müssen Sie sich klar sein: Die Leute werden es Ihnen nicht danken. Selbst wenn Sie das Dorf als gebrochener Mann verlassen, werden sie es Ihnen nicht danken. Die Kwákwala-Sprache kennt das Wort 'danke' nicht."
S. 19
Es geht in „Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen“ um Anpassung und Akzeptanz. Darum, sein Bestes zu tun, ohne etwas zu verlangen oder zu erwarten. Es geht um den Sinn des Lebens.
Mark respektiert die Menschen. Er passt sich den Einwohnern, ihren Ritualen, dem Leben in dem neuen Umfeld an, lauscht ihren Mythen, ist empathisch, auch wenn er nicht jedes Verhalten unterstützt (siehe Sam).
Er führt ein Gespräch mit seinem Freund Jim Wallace, das wichtig für dessen Zukunft ist – und in dem es darum geht, Dinge zu hinterfragen und für ein harmonisches Miteinander zu ändern.
Keetah und Gordon sind junge Menschen, die eine große Rolle spielen, da sie unterschiedliche Entscheidungen in Bezug auf ihr weiteres Leben treffen. Sie stehen vor der Frage, ob sie an den ihnen vertrauten Traditionen festhalten oder nicht. Es gibt kein Richtig oder Falsch, sowohl Gordons als auch Keetahs Erfahrungen und finaler Entschluss, die Heimat zu verlassen oder hierher zurückzukehren, werden von Mark (und letztlich allen anderen) akzeptiert.
Ein Gespräch zwischen dem Bischof und Mark fasst das Buch sehr gut zusammen, denn darum geht es:
"Daß es hier, wo nur das Wesentliche zählt, für mich immer leichter war, das zu lernen, was jeder Mensch dieser Welt lernen muß."
"Und das wäre, Hochwürden?"
"Den Sinn des Lebens so weit zu erfassen, daß man bereit ist, zu sterben."S. 138
Um die Hintergründe besser zu verstehen, schließlich spielt der Roman in Kingcome, British Columbia, einem tatsächlich existierenden Ort, den die Autorin besucht hat, habe ich im Anschluss ihre kleine Autobiografie gelesen. „Again Calls the Owl“ wurde leider nicht übersetzt. Obwohl ich ungern auf Englisch lese, kam ich problemlos zurecht.
Verlag: Dell Publishing
Erschienen: 1980/01.12.1983
Seiten: 128
ISBN: 978-0-440-30074-8
Bei Amazon:
Wir bekommen einen Einblick in das Leben von Margaret Craven, insbesondere als Studentin und Journalistin.
Kingcome kommt erst nach über der Hälfte ins Spiel.
Ich bin überrascht, wie nah sich die Geschichte an der Wahrheit entlangschlängelt. Viele Situationen, die mir aus „Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen“ vertraut waren, sind so oder so ähnlich wirklich passiert. Es ist faszinierend, wie sie die Realität mit der Fiktion verbunden hat.
"I knew that when the book reached the village Eric and the boys would stay up all night to see which Indians I had used for characters. All the village was in the book, but I changed their names."
S. 113 (Again Calls the Owl)
Ich glaube, die meisten fragen sich, was für eine Krankheit Mark das Leben kosten soll. Auch ich wollte wissen, was er hat. Und ja, es gibt eine (unbefriedigende?) Antwort in „Again Calls the Owl“:
"Often in the avalanche of letters I received after the novel was published, people asked me what disease killed Mark Brian. I don't know. What matters is that he learned more of love and life in his three years with the Indians than most men learn in a long lifetime, and that it was he who thanked them."
S. 113 (Again Calls the Owl)
Wem der Roman gefällt, der wird an den Anekdoten in der kurzen Autobiografie bestimmt seine Freude haben.
Der Roman besteht aus vier Kapiteln und wird auf 160 Seiten in schöner, der Umgebung würdiger Sprache erzählt. Er spielt in Kingcome, British Columbia, einem tatsächlich existierenden Ort, in den 1960ern.
„Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen“ ist eine sehr ruhige Geschichte, die (bis – vielleicht – auf das Ende) keine großen Überraschungen bereithält.
Mir sind in dieser 15. Auflage ein paar Fehler aufgefallen, beispielsweise „Tgen“ statt Tagen (S. 34), „Polatsch“ statt Potlatsch (S. 69). An solchen Stellen bleibe ich automatisch hängen, was immer ein bisschen ärgerlich ist.
„Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen“ ist eine sehr ruhige Geschichte. Wer hier sich überschlagende Ereignisse erwartet, wird enttäuscht. Ich fand den Roman wirklich nett – und mochte ihn vor allem in Kombination mit dem Wissen aus „Again Calls the Owl“ darüber, wie er entstanden ist.
Originaltitel: I Heard the Owl Call My Name (1973)
Übersetzung: Kai Molvig
Verlag: Rowohlt
Erschienen: 15. Auflage, November 2022
Seiten: 160
ISBN: 978-3-499-22786-8
Jetzt zu Amazon:
Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.
Der Beitrag Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen – Margaret Craven erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>Der Beitrag Die Frau in den Dünen – Kobo Abe erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>In „Die Frau in den Dünen“ von Kobo Abe will der Lehrer Jumpei Niki Insekten fangen – und gerät selbst in eine Falle.
Der 31-jährige Jumpei Niki bricht auf, um Insekten zu sammeln und in den Sanddünen am Meer neue Arten zu entdecken. Auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit trifft er auf einen hilfsbereiten Mann, der ihn zu einer Frau führt, deren Hütte in einem 20 Meter tiefen Sandloch steht. Der Lehrer klettert die Strickleiter hinab – und stellt am nächsten Morgen fest, dass die Konstruktion aus Seilen weg ist. Er ist gefangen. Für immer?
Der Anfang hat mir so gut gefallen!
"Eines Tages im August verschwand ein Mann."
eBook, Kap. 1, S. 12/291
So beginnt die Geschichte. Im ersten Kapitel gibt es wilde Spekulationen, was mit ihm geschehen sein könnte. Zudem die ernüchternde Nachricht: Seine Leiche wird zwar nicht entdeckt, doch nach sieben Jahren wird Jumpei Niki für tot erklärt.
Das hinterlässt natürlich viele Fragezeichen. Im nächsten Kapitel werden Teile aus dem vorherigen aufgegriffen – und wir machen uns auf den Weg, um die Wahrheit zu erfahren, das, was die Menschen, die er hinter sich gelassen hat, vielleicht nie zu hören kriegen werden. Dabei spürt die Leserschaft – auch durch die Hinweise – die sich anbahnende Gefahr deutlich, während sich der Protagonist lediglich wundert und den Blick sowieso die meiste Zeit auf den Sandboden gerichtet hat, wo er die Sandläufer zu finden hofft.
Er rennt in die Falle – und wir schauen zu.
Ich war von Anbeginn an gefesselt und gespannt, wie es weitergeht.
Sand, überall Sand, diese Körner mit einem mittleren Durchmesser von 1,8 mm, die nie zur Ruhe kommen. Das Dach der Hütte ist kaputt, die Wände sind zerfressen, es rieselt unablässig, die Körper und alles andere: in kürzester Zeit übersät.
"Gewiss, im Sand gedeiht kein Leben, aber gehört denn das Haften unbedingt zum Leben? Entsteht nicht gerade daraus, dass man unbedingt irgendwo haften will, der Kampf ums Dasein? Verzichtete man auf das Haftenwollen und überließe sich der Bewegung des Sandes, dann hätte dieser Kampf augenblicklich ein Ende."
eBook, Kap. 2, S. 22/291
Jeden Tag schaufelt die Frau den Sand weg, damit ihr Haus und die aller anderen nicht begraben werden. Aus Heimatliebe? Pflichtgefühl? Warum akzeptiert sie dieses eingesperrte Leben ohne Strom und fließend Wasser? Der Protagonist versteht die Welt nicht mehr.
"Mochte Sand auch noch so fließen, er war doch kein Wasser. Im Wasser kann man schwimmen, Sand hingegen umarmt den Menschen gewissermaßen und drückt ihn tot."
eBook, Kap. 13, S. 94/291
Wird es ihm gelingen, der Sandhölle zu entfliehen?
Die Angaben zu den Personen sind vage. Obwohl der Mann von einem Eintrag seines Namens in das entomologische Lexikon träumt, bleibt er lange namenlos, die Frau, die zwar unterwürfig, aber nicht schwach ist, sich in den entscheidenden Augenblicken zur Wehr setzt, gar die gesamte Zeit über. Als Ort wird eingangs der Bahnhof von S. erwähnt.
Der Protagonist war mir nicht sonderlich sympathisch. Er ist rätselhaft: Wer ist Jumpei Niki? Weiß er es überhaupt selbst? Es gibt viele Stellen, die die Selbstentfremdung verdeutlichen.
Fest steht, dass manche seiner Gedankengänge wirrer Art und einige seiner Aktionen wahrlich grausam sind. Er ist fast durchgängig schroff zu der Frau, die ihn umsorgt. Er hält sich für schlauer als die Dörfler – und hat doch ständig Unrecht. Alle seine Pläne scheitern – erst als er zufällig einen Erfolg erzielt, findet eine Wandlung statt.
Nein, Jumpei Niki ist kein charmanter Held. Und doch war ich gespannt, wie „Die Frau in den Dünen“ ausgeht, was mit ihm passiert, ob die Flucht gelingt.
Ich glaube, dass man die Geschichte verschiedentlich auslegen kann. Mir hat es geholfen, festzustellen, dass ein Tausch stattfindet. Jumpei Niki zieht los, um Insekten zu fangen. Er tut es zu seinem eigenen Vorteil: Er möchte seinen Namen in einem Lexikon hinterlassen. Doch der Ausflug endet in vertauschten Rollen: Er wird in eine Falle gelockt und eingesperrt. Er ist derjenige, der – ohne optische Verwandlung – selbst zu einem Tier wird, das unter Beobachtung steht. Die anderen halten ihn zu ihrem eigenen Vorteil gefangen. All das zu erkennen, hat mir geholfen, über die … ich nenne sie: sehr unangenehme Szene, durch die das Buch mich fast verloren hätte, hinwegzukommen. Wenn man das Ganze in das Tierreich verschiebt, wie verrückt kommt einem die Situation dann noch vor?
Jumpei Niki ist in diesem Moment bereit, Grenzen zu überschreiten. Tatsächlich für die Freiheit? Oder um der Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen? Welchen Sinn hatte sein Leben bisher? Es ist erstaunlich, welch seltsame Wege wir finden, um wenigstens irgendeine Art von Kontrolle auszuüben.
Die namenlose Frau hingegen begehrt keine Anerkennung für ihre Leistungen. Dennoch kann sie zweifellos die Frage beantworten, ob und welchen Sinn ihr Leben hat.
Der Sand und sein Fließen sind nicht zu stoppen – wie die Zeit. Auch dem messe ich eine Bedeutung bei.
Kobo Abe schreibt über Egoismus und Gemeinschaftsgeist, Wut und Akzeptanz, Triebhaftigkeit und Selbstbeobachtung, Impulsivität und Planung. Über Sinnhaftigkeit, Leben und Überleben.
Die Geschichte ist komplexer, als sie erscheint, und regt zum Nachdenken an. Und je länger ich das tue, umso besser gefällt sie mir.
„Die Frau in den Dünen“ wird in drei Teilen und 31 Kapiteln in der dritten Form erzählt. Ich mochte den knappen (und teils ironischen) Schreibstil, ebenso die Vorwegnahmen bzw. Hinweise, die die sich anbahnende Gefahr anzeigen. Gewöhnungsbedürftig fand ich die Dialoge. Es gibt unzählige Ausrufezeichen, egal, ob die Person aufgebracht ist oder ruhig spricht.
Die Wochen gehen gleichförmig dahin, ich war schwer verwundert, als plötzlich 46 Tage vorbei sein sollten.
Zur zeitlichen Einordnung: Die Hauptfigur (1924) verschwand 1955 und wurde 1962 für tot erklärt. Das verraten die familiengerichtlichen Meldungen am Ende. Dass sie erst so spät ins Spiel kommen, ist bezeichnend – denn der Jumpei Niki, um den es da geht, existiert längst nicht mehr.
In dem Roman gibt es verschiedene Ansätze, die Geschichte ist eine Mischung aus philosophisch, allegorisch, existenzialistisch und erotisch. Trotz der Eintönigkeit des Alltags ist sie spannend. Dazu kommt die einengende Atmosphäre, die ihren ganz eigenen Horror birgt. Es wundert mich nicht, dass es sich um einen Klassiker handelt.
Für mich ist „Die Frau in den Dünen“ eines der Bücher, die ich noch einmal lesen würde, weil ich sicher bin, beim zweiten Durchgang Neues zu entdecken. Eine düstere, interessante, teils bizarre und schockierende, seltsam fesselnde Geschichte. Man muss aber bereit sein, mehr in die Sätze hineinzulesen, als auf dem Papier steht, um mit dem Roman glücklich zu werden.
Originaltitel: Suna no onna (1962)
Übersetzung: Oscar Benl und Mieko Osaki
Verlag: Unionsverlag
Erschienen: 17.09.2018
Seiten: 256
ISBN: 978-3-293-20809-4
Jetzt zu Amazon:
Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.
Der Beitrag Die Frau in den Dünen – Kobo Abe erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>Der Beitrag Flussfahrt – James Dickey erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>„Flussfahrt“, im Original 1970 erschienen, ist der erste Roman des Lyrikers James Dickey. Ein fesselndes Debüt.
"'Ab geht's', sagte er, 'raus aus dem Schlaf der friedlichen Bürger, hinein in das schäumende Wildwasser.'"
S. 37
Klingt nach Spaß? Zumindest erhoffen sich die vier Städter eine Auszeit von ihren Routinen, wenn sie mit zwei Kanus den Cahulawassee, einen (fiktiven) wilden Fluss im ländlichen Nordosten Georgias, hinunterfahren, ehe er gestaut werden und einen See bilden soll. So viel sei gesagt: Sie erleben das komplette Gegenteil ihres Alltags – aber auch einen Albtraum, aus dem nicht alle lebend herauskommen.
Die Geschichte wird aus Eds Sicht erzählt – und ich bin froh darüber.
Zunächst scheint es, als wäre Lewis Medlock, Ende 30, der Held. Er ist der Fitteste von ihnen (vielleicht sollte ich sagen: Der einzig Fitte), der Spontanste, der Unerschrockene, der Anführer. Er ist derjenige, zu dem Ed Gentry, Ehemann, Vater und Art-Director, aufschaut. Lewis ist jemand, der nicht groß nachdenkt, sondern zur Tat schreitet und davon ausgeht, dass sich alles finden wird.
Ed ist hingegen ein scharfer Beobachter und ehrlich zu sich selbst, auch wenn er zu überspielen versucht, was in ihm vorgeht. Er ist in der Lage, sein Innenleben anschaulich zu beschreiben. So unterdrückt er etwa auf Seite 20 „das alte, tödliche, hilflose Gefühl des von der Zeit terrorisierten Menschen“ und spricht über die „enorme Last der Lethargie“.
Für mich stehen die beiden klar im Fokus, mit Bobby Trippe, dem geselligen Alleinstehenden, und Drew Ballinger, der als ruhiger Familienmensch beschrieben wird, konnte ich weniger anfangen, zu Beginn habe ich sie nicht einmal auseinanderhalten können.
Vier Männer – und eine schlechte Idee.
Zelte, Bogen, Pfeile, Jagdmesser, Schwimmwesten, Bier – was soll schon schiefgehen?
Sind wir ehrlich: Es ist ein selten dämlicher Einfall, das steht von Anfang an fest – und sie wissen es. Sie haben keine Ahnung von dem, was sie tun, sie kennen nicht einmal das genaue Ziel, sie verlassen sich auf Lewis, der als Kurzentschlossener gilt. Die Einheimischen verstehen ihr Ansinnen nicht, doch sie ignorieren die Warnungen. Sie wollen ihr Abenteuer, sie kriegen es.
Auf Seite 66 erblickt Ed, der hofft, während der Reise einen Hirsch zu erlegen, sein Spiegelbild und nimmt sich als „ein großer, hellgrüner Waldmensch, ein Forscher, ein Guerilla, ein Jäger“ wahr. Ihm gefällt, was er sieht.
Danach heißt es:
"Ich berührte den Griff des Messers an meiner Seite und erinnerte mich daran, daß alle Männer einmal Jungen waren und daß alle Jungen ununterbrochen nach Mitteln und Wegen suchten, Männer zu werden. Einige dieser Mittel und Wege sind leicht; man braucht sich nur damit zu begnügen, daß es geschieht."
S. 67
Interessant ist, dass Lewis Ed „mein Sohn“ nennt. Das ändert sich im Verlauf. Am Ende bezeichnet jemand anders ihn so.
Für mich signalisiert das (u.a.), dass es, so erwachsen man ist, so sehr man sich bewiesen hat, immer jemanden geben wird, der über einem steht. Er wollte frei sein, ist aber nur anders unfrei als vorher.
Dass er Bobby „Baby“ nennt, nehme ich auch ernst.
Das Thema Männlichkeit kommt immer wieder auf. Daneben gibt es weitere:
Weshalb unternehmen sie diese Kanutour genau jetzt? Weil der Fluss gestaut werden soll. Ein Eingriff in die Natur.
Sie wollen den Fluss hinunterfahren – der Versuch, ihn zu beherrschen.
Die Natur ist uns ausgeliefert – aber sie kann zurückschlagen. Sie ist unerbittlich.
Und da wir beim Thema Ausgeliefertsein sind: Die Städter, diese „ganz normalen Menschen“, müssen sich nicht nur mit dem wilden Fluss auseinandersetzen, sondern auch mit zwei unzivilisierten Bergbewohnern.
Auch darum geht es: Menschen sind verschieden, nicht alle Hinterwäldler sind grausam, nicht alle Städter unfähig.
Ihnen bleibt in „Flussfahrt“ keine Wahl: Sie sind gezwungen, mehr Mut aufzubringen als in all den Jahren zuvor. Sie werden zu Gejagten – und selbst zu Jägern, werden mit ihren Urinstinkten konfrontiert, ihren Stärken, ihrer Verletzlichkeit. Sie lernen neue Wahrheiten über sich, müssen Entscheidungen treffen, die sie nicht treffen wollen – und mit den Folgen leben.
„Flussfahrt“ ist ein fesselndes Buch, ich bin sofort ab- und erst am Ende wieder aufgetaucht, als dieses Abenteuer hinter ihnen liegt – mehr oder weniger. Zwar zieht sich der Anfang, der Teil, bevor es tatsächlich losgeht, aber er ist wichtig, um die Figuren, insbesondere Ed, kennen- und einschätzen zu lernen. Ich mochte Ed, ich wollte, dass er heil aus der Sache herauskommt. Sie alle.
Letztlich zeigt die Geschichte, wie schnell sich alles ändern kann: Der Fluss, der schon immer so dahinrauscht, soll gestaut werden, die Männer, die ihren harmlosen Alltag hinter sich gelassen haben, müssen Dinge verarbeiten, die sie sich vorher nicht einmal vorgestellt haben.
Es gibt ein „Vorher“ und ein „Nachher“, dazwischen liegt der Zeitraum vom 14. September bis 16. September.
James Dickey, der für seine Gedichte bekannt ist, hat mit „Flussfahrt“ seinen ersten Roman vorgelegt. Ich mochte seinen Schreibstil, er ist interessant, abwechslungsreich und unterhaltsam; raffiniert, aber unkompliziert.
Die Beschreibungen der Umgebung langweilen nicht, die Stärke des Flusses wird deutlich. Die Natur ist faszinierend – und gleichgültig bis gewaltig.
Ich empfand die Geschichte als sehr intensiv. Auch die Dialoge sind, insbesondere durch Eds Art, oftmals angenehm munter. Hier stimmt beides: Schreibstil und Handlung.
Das Buch wurde unter dem Titel „Beim Sterben ist jeder der Erste“ mit Burt Reynolds als Lewis und Jon Voight als Ed verfilmt.
„Flussfahrt“ ist ein fesselnder Abenteuerroman, zeitlos, sehr gut geschrieben, langsam aufgebaut, spannend zu Ende gebracht.
Originaltitel: Deliverance (1970)
Übersetzung: Jürgen Abel
Verlag: Rowohlt
Seiten: 251
ISBN: 9783499127229
Das Buch ist nur noch gebraucht erhältlich.
Gelesen aufgrund einer Erwähnung in
Der Beitrag Flussfahrt – James Dickey erschien zuerst auf BuchBesessen.
]]>