In „Einer geht noch“ von Hannes Finkbeiner erleidet Alos Vater einen Herzstillstand. Nicht so schlimm, findet sein 93-jähriger Opa Fidus, der schon dreimal gestorben sein will – aber ein guter Anlass, um seinem Enkel und der Familie die Geschichte seines Lebens anzuvertrauen.
Werbung, da Rezensionsexemplar
Inhalt
Alo Bergmann, Ende 20, versteht die Welt nicht mehr: Die Ärzte kämpfen um das Leben seines Vaters, doch Opa Fidus ist entspannt – er war schon dreimal tot, keine große Sache, lieber will er über Bintou sprechen, Alos neue Freundin aus den USA.
Während sich Alfred fluchend von dem Herzstillstand erholt, kriegt Alo einen Einblick in die Vergangenheit seines 93-jährigen Großvaters. Kann das wirklich passiert sein – oder ist er bloß ein Geschichtenerzähler?
Eine Familiengeschichte
Das Cover war’s, denn der Titel, der an einen Trinkspruch erinnert, hätte mich nicht angesprochen. So habe ich die Inhaltsangabe des Verlags gelesen, die in Fettdruck Hoffnung und Liebe verspricht – da bin ich dabei.
In „Einer geht noch“ lernen wir die Bergmanns kennen. Der sprunghafte Student Alo ist der Ich-Erzähler, sein Vater Alfredo/Alfred/Fred derjenige, der sich nach seinem Herzstillstand mit Koprolalie herumschlägt. Alos Mutter Marie kehrt der Umstände wegen in das vormals gemeinsame Heim in Bad Dürkheim zurück.
Der wahre Protagonist aber ist Opa Fidus, der anfängt zu sprechen über das, was er erlebt hat. Mit 15, vor fast 80 Jahren, sollte er in den Krieg ziehen, doch es kam anders – und diese Erlebnisse prägten sein ganzes Leben.
Ich mag Geschichten, in denen Kinder etwas über ihre Eltern oder Enkel über ihre Großeltern erfahren. Das ist ein Thema, das uns wohl alle betrifft: Wenn plötzlich etwas lange Zurückliegendes offenbart wird, über das vorher nie gesprochen wurde; wenn sich die Beziehung zwischen den Generationen in eine andere verwandelt, eine ebenbürtigere, nicht mehr der Erwachsene und das Kind, sondern Menschen, die über die Dinge sprechen, die sie geprägt haben.
"Warum erzählst du mir diese ganzen Geschichten eigentlich erst jetzt?"
"Man hat immer noch genügend Jahre, bis man irgendwann nicht mehr genügend Jahre hat", sagte Opa.Pos. 2027/3876, 52 %
Die Zeit
Den Tod hält er für überbewertet, doch dass die Zeit immer weiterläuft, kann Fidus nicht leugnen. Er hat alles durchlebt: Es war Zeit, Klara näherzukommen, in den Krieg zu ziehen. Es war Zeit, abzuhauen, sich versteckt zu halten und durchzubeißen, zurückzukehren, sich loszusagen. Zeit zu reisen, sich (wieder) zu finden, Eltern zu werden, einzusehen, dass die Vergangenheit immer ein Teil sein wird. Es gab kleine und große Kämpfe auszufechten – und irgendwann war es an der Zeit, loszulassen. Das Leben ist nicht planbar, es macht, was es will, unabhängig davon, ob man bereit ist. Und selbst wenn man es ist, sogar dafür, das Zeitliche zu segnen, tja, dann kommt es anders – und manchmal ist das das Beste, was passieren kann.
Starker Anfang
Zu Beginn war ich voll dabei: Da ist Alo, der um seinen Vater bangt, sein Großvater, der den Stress nicht versteht. Diese Situation, die irritiert und viele Fragen aufwirft, hat mich gepackt. Dazu kommt die dicke Luft, irgendetwas ist los in dieser Familie, doch die Gründe bleiben lange unausgesprochen, sodass man dranbleibt, um herauszufinden, was vorgefallen ist.
Ich mochte vor allem die Schilderungen aus dem Hier und Heute, all das Ungesagte, das an die Oberfläche muss, die seltsam-witzigen, die zarten Momente.
Fidus‘ Geschichte packte mich am Anfang. Die Annäherung an Klara, der Krieg, die Höhle, das habe ich gespannt verfolgt. Nach der Hälfte langweilte mich das Buch. Es kam mir zu lang und ereignisarm vor, lieber hätte ich ins Jetzt umgeschaltet, von dem ich mehr wissen wollte. Aber so ist das nicht, die Vergangenheit gehört dazu, gehört erzählt, gehört gehört.
Es überrascht nicht, dass der Ausgang in „Einer geht noch“ offen ist. Das passt zur Hauptfigur, die mehr Wert auf den Verlauf legt als auf das Ende.
Aufbau/Stil
„Einer geht noch“ besteht aus vier Kapiteln. Der Schreibstil ist einfach, die Sätze sind kurz.
Alo ist der einzige Ich-Erzähler des Romans. Dennoch fiel mir das Umschalten ab und an schwer. Die Vergangenheit, bestehend aus Fidus‘ Einblicken und Briefen, wird lediglich durch drei Sternchen (die manchmal allerdings auch einen Sprung innerhalb derselben Zeit anzeigen) vom Heute getrennt. Es kam teils überraschend und ich brauchte ein paar Momente, um zu realisieren, dass wir zurück bei Alo sind. Wenn man möchte, kann man das positiv sehen, weil es wieder zeigt, wie nah das Geschehene dran ist an der Gegenwart, wie sehr beides zusammengehört. Aber ich hätte mir eine deutlichere Trennung gewünscht, um meinen Lesefluss nicht ständig auf die Probe zu stellen.
Fazit
So unberechenbar und wechselhaft wie das Leben:
Anfangs war ich begeistert, die Story wirkte originell und rätselhaft. Manches mochte ich sehr, sehr gerne, etwa Alos Gedanken und Unsicherheiten, die gefühlvollen Momente. Hannes Finkbeiner hat glaubhafte Charaktere geschaffen, denen man bereitwillig folgt.
Nach der Hälfte langweilte ich mich stellenweise, hatte das Gefühl, es gibt zu viele unwichtige Details und zu wenig Interessantes, wollte lieber ins Hier und Heute um Alo springen.
Das offene Ende harmoniert mit dem Inhalt.
Insgesamt kein schlechtes Buch, im Gegenteil, streckenweise hatte ich viel Spaß beim Lesen. Ich würde wieder zu einem Roman des Autors greifen, sofern es thematisch passt, würde mir dabei mehr von den herrlich irritierenden, humor- und gefühlvollen Stellen wünschen, denn hier ist Hannes Finkbeiner für mich stark.
Zusammenfassung Einer geht noch – Hannes Finkbeiner
Dieses Buch ist für dich, wenn du lesen möchtest über:
- Familiengeheimnisse
- skurrile/irritierende Momente
- Deutsche Geschichte
- Perspektivwechsel mit Schwerpunkt in der Vergangenheit
- verletzliche Charaktere
- offene Enden
Einer geht noch – Hannes Finkbeiner
Jetzt zu Amazon:
Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.
7 Antworten
Hallo Jessi,
also mich hat jetzt sowohl das Cover als auch der Titel neugierig gemacht und der Klappentext klingt doch skuril, interessant.
Deshalb hätte ich mir schon auch vorstellen können, dass es was für mich ist, aber wenn die Geschichte sich irgendwann verliert, ist es doof und auch, wenn es ein offenes Ende gibt, das mag ich nämlich eigentlich gar nicht. Auch wenn es oftmals zur Art der Geschichte passt, so wie es hier zu sein scheint, bin ich ein Typ, der gerne abgeschlossene Enden hat und nur, weil es vorrangig um die Vergangenheit geht, kann man doch aber die Geschichte trotzdem zu einem Ende bringen. Für mich klingt das oftmal nur halbfertig, bzw. so als wollte man sich über den Rest keine Gedanken mehr machen.
Aber danke für den interessanten Einblick :)
Liebe Grüße,
Steffi vom Lesezauber
Liebe Steffi,
danke für deinen Kommentar. :)
Es ist ein bisschen schwer zu erklären, ohne zu spoilern, aber ich würde sagen, dass dieser Ausgang besonders deshalb so gut zum Buch passt, weil die gesamte Geschichte für mich zeigt, dass es eben immer weitergeht und es kein richtiges Ende gibt.
Ich verstehe, dass du abgeschlossene Enden magst, ich hatte früher eine extreme Abneigung gegen offene Ausgänge, inzwischen kann ich sie hin und wieder verkraften.
Insgesamt ist es für mich ein gelungenes Buch, das mir in vielen Bereichen wirklich gut gefallen hat.
Liebe Grüße
Liebe Jessica,
das Buch klingt super. Deine Anmerkung zu den Zeitsprüngen teile ich. Das Problem hatte ich mit „Leuchtfeuer“ – da sind die Zeitsprünge (zumindest im Hörbuch) auch nicht deutlich gekennzeichnet, was mich immer wieder irritiert hat.
Ich werde mir das Buch auf jeden Fall mal auf die Leseliste packen.
Liebe Grüße
Marie
Liebe Marie,
ja, mir hat vieles an dem Buch gefallen. Ich bin auf deine Meinung gespannt, solltest du es lesen. :)
Ich glaube, so oft wie hier haben mich die Zeitsprünge noch nie verwirrt. Ich musste wirklich oft zurück und den Satz mit der richtigen Person vor Augen nachlesen.
Viele Grüße
Koprolalie hab ich noch nie gehört. Interessant, dass es da einen Begriff gibt.
Ich höre älteren Leuten gerne zu, wenn sie über ihre Vergangenheit reden. Als meine Tante noch lebte, haben das sie, meine Mutter und Schwiegermutter immer gemacht. Da sie ähnlich alt sind/waren, hatten sie die selbe Erlebnisse gemacht. Schade, dass es dann aber doch bisschen abgeflacht ist. Trotzdem war es bestimmt interessant.
Ich hab auch immer mal Probleme wenn verschiedene Zeitebenen, oder auch Erzähler nicht so richtig von einander getrennt werden. Da brauch ich auch immer bisschen Zeit um mich zu finden.
Liebe Grüsse
Ha, so ging es mir auch. War für mich ebenfalls ein neuer Begriff.
Das ist schön, dass bei euch über die Vergangenheit gesprochen wird/wurde. In meiner Familie ist das nicht der Fall – und es zieht sich so durch, was ich total schade finde. Aber es ist natürlich zu akzeptieren. Ich glaube, dass mich deshalb so Geschichten wie diese, in denen es anders ist, oft berühren.
Liebe Grüße