
In „Die Briefeschreiberin“ von Virginia Evans lesen wir von Sybil, die sich zunächst hinter ihren sorgsam ausgewählten Worten verschanzt – bis sie erkennt, dass sie stark genug ist, um mit ihnen eine Brücke in die Freiheit zu bauen.
Werbung, da Rezensionsexemplar
Inhalt
Durch Briefe teilt die 73-jährige Sybil van Antwerp ihre Erlebnisse, ihren Ärger, ihre Begeisterung. Dabei wägt sie jedes Wort ab, egal ob sie der Dekanin die Meinung geigt, sich mit Joan Didion über Trauer austauscht, einem Familienmitglied oder ihrem Nachbarn Theodore Lübeck schreibt. Sie ist die Königin der Sätze, hat alles im Griff – bis sie sich Wahrheiten stellen muss, die bisher zu schmerzhaft waren, um sie zu teilen.
Ein Briefroman
Ich LIEBE Briefromane. Das ist vor dem Hintergrund, dass sie es nicht regelmäßig schaffen, mich zu begeistern, komisch, aber ich gebe die Hoffnung niemals auf – und hier hatte ich endlich wieder Glück: „Die Briefeschreiberin“ ist wunderbar.
Sybil van Antwerp
Sybil van Antwerp wurde mit 14 Monaten weggegeben. Sie wuchs bei den Stones auf, die später ein weiteres Kind adoptierten: Felix.
Verheiratet mit Daan, bekam sie drei Kinder: Bruce, Gilbert und Fiona.
Sie wusste schon immer, was sie wollte – und was nicht. Trotz der Tatsache, dass sie eine erfolgreiche Anwältin war, gab sie sich damit zufrieden, Richter Guy D. Donnelly als persönliche Referentin zuzuarbeiten. Sie war glücklich damit – so glücklich jedenfalls, wie sie sein konnte.
"Briefe sind die Konstante in meinem Leben, während die Juristerei nur circa dreißig Jahre umfasst hat. Die Tätigkeit im Gericht war Arbeit; die Briefe sind das, was mich ausmacht."
Die Briefeschreiberin, S. 175
Sie korrespondiert seit jeher. Wir steigen im Juni 2012 ein – mit einem Brief an ihren Bruder, der mit seinem Partner Stewart nach Frankreich gezogen ist.
Sätze, die Grenzen überwinden
Sybil, die nahe Annapolis in Maryland lebt, kommt womöglich nicht sofort sympathisch rüber. Sie wird als stur und rechthaberisch beschrieben. Ihre Tochter Fiona kann nicht mit ihr – und umgekehrt. Aber: Gebt ihr eine Chance!
„Sie lebt in ihren Briefen“, heißt es in der Einleitung (S. 10). Und das tut sie. Sie wird lebendig. Wir sind dabei, während sie von der Person, die alles durchdenkt, stets sorgfältig überlegt, wie viel sie preisgibt, zu jemandem wird, der gezwungen ist, sich verletzlich zu zeigen.
Auch von den übrigen Figuren bekommen wir eine Vorstellung. Auffällig ist, dass sie alle in irgendeiner Art und Weise gefangen sind:
- Sybil geht sehr dosiert mit Nähe um und versagt es sich, zu verreisen.
- Fiona kann sich ihr nicht anvertrauen.
- Rosalie, Sybils Schwägerin und Vertraute, pflegt ihren Mann und Sohn - und gerät zwischen die Stühle.
- James Landy, ehemaliger Richter und Kollege, nun Freund, hat eine psychisch kranke Frau und einen labilen Teenagersohn (Harry, sie schreiben sich monatlich und teilen „Steine“ miteinander).
- Theodore Lübeck will mehr sein als Sybils Nachbar.
Sie stecken fest, sei es durch die eigene Zurückhaltung, Krankheit oder Schicksalsschläge. Indem sie Briefe austauschen, sich offenbaren, wohlüberlegt Worte wählen, die sie niederschreiben, aber nicht aussprechen können, brechen sie ein Stück weit aus ihren Gefängnissen aus. Die Wörter überwinden nicht nur Stadt- oder Landesgrenzen, sie überwinden auch die Grenzen, die in ihren Leben existieren. Sie sorgen dafür, dass plötzlich mehr möglich, dass Ungesagtes offenbart, ja, dass Gefühltes zugegeben und Schreckliches eingestanden wird. Sybil lebt lange in ihrer selbst erschaffenen Briefwelt – bis sie merkt, dass das nicht länger ausreicht.
Der Bruch
Wir haben hier keine verletzliche Protagonistin, nicht am Anfang. Sie kommt unerschrocken und resolut rüber. Wenn sie etwas will (etwa von der Dekanin), dann setzt sie alles daran, es zu erreichen. Ihr Unfall ist ihr zunächst nur eine kleine Erwähnung in einem Nachsatz wert. Sie spielt die Dinge herunter, bleibt die Starke.
Doch sie schreibt auch andere Briefe, ehrlichere. An eine Person namens „Pferdchen“. Es war für mich kein großes Geheimnis, wer sich dahinter verbirgt. Darum geht es nicht. Wenn man einen Brief schreibt, hat man Zeit, man kann sich Gedanken machen, Sätze zurücknehmen, Wörter streichen. Man kann, wie Sybil es tut, vorformulieren und nur das, was man wirklich in der Welt haben will, dorthin entlassen. Briefe können eine Schutzmauer aufrechterhalten, hinter der man sich verstecken kann. Das passiert hier. Doch der Bruch kommt – und trifft so richtig.
Für mich geht es in erster Linie um das Ab-/Aufgeben (von Kontrolle, Distanz) – und um das Zulassen (von Umständen, Vergangenem, Zukünftigem, von Schwäche, Nähe und Hilfe).
Sybil hat anfangs alles durchdacht und vorbereitet, sie hat es beherrscht. Sie ist eine Person, für die es kaum etwas Schlimmeres gibt, als die Kontrolle abzugeben. Doch sie hat eine Idee davon, was sie erwartet, ob sie will oder nicht. Sie lässt nach und nach ein wenig mehr Nähe zu – und gewinnt so vieles. Sie zeigt sich verletzlicher, als sie je wollte – und erlangt dadurch eine Freiheit, die sie sich ihr Leben lang versagt hat. Die 1,56m kleine Frau, die selbst von sich sagt, „innerlich Format“ zu haben (S. 279), wächst meilenweit über sich hinaus. Mich berührte das.
Die Themen Schuldgefühle und Vergebung, Herkunft und Familie werden einfühlsam angesprochen. Sybil hat Fehler gemacht und tut es noch immer, wie wir alle. Doch letztlich ist sie bereit, sich ihnen zu stellen – und man kann nur hoffen: wie wir alle.
Aufbau
Es gibt eine knappe Einleitung, alles Weitere erfahren wir aus den Briefen und E-Mails, die sie schreibt und erhält. Anfangs hatte ich Sorge, durcheinanderzukommen, weil Sybil sich mit vielen Menschen austauscht, aber das legte sich schnell.
„Die Briefeschreiberin“ kam zu einem seltsamen Zeitpunkt zu mir. Ich musste an manchen Stellen lachen, weil es etliche Parallelen zu meinem Leben gerade gibt (z. B. stürzt sie – und tja, ich habe vor zwei Wochen ebenfalls deswegen in der Notaufnahme gesessen, obwohl ich mich tagelang dagegen gewehrt habe. / Durch ihre Briefe habe ich den letzten Anstoß gekriegt, selbst endlich wieder einen zu schreiben. / Sybil liest viel – und so kriegt man nebenbei eine Menge Buchempfehlungen. Sie preist „Unter Frauen“ an – das ist mein vorangegangener Post auf dem Blog. / Und hey: „Weg in die Wildnis“ ist grandios – und was sie sagt, stimmt absolut! Ich habe es als „Unberechenbarkeit“ in meiner Rezension erwähnt. / Da ist noch mehr, aber belassen wir es dabei).
Virginia Evans hat mich dazu gebracht, in Rekordzeit durch das Buch zu fliegen. Es gibt einiges zum Mitfiebern, sei es im Hinblick auf die Beziehung zu Sybils Tochter, ihre Gesundheit oder die Liebe. Zwar ist vieles vorhersehbar, aber das hat mich nicht daran gehindert, zu jubeln, als … na ja, das liest du besser selbst.
Fazit
„Die Briefeschreiberin“ ist ein leiser und berührender Roman, der zeigt, dass Verletzlichkeit keine Schwäche ist, sondern eine Stärke: die Tür zur Freiheit.
Zusammenfassung Die Briefeschreiberin von Virginia Evans
Dieses Buch ist für dich, wenn du
- leise, nachdenkliche Geschichten magst, gerne zwischen den Zeilen liest
- mit einem Briefroman (und dadurch: episodenhafter Lektüre) klarkommst
- eine ältere, vielleicht nicht sofort sympathische Protagonistin akzeptierst

Die Briefeschreiberin – Virginia Evans
Originaltitel: The Correspondent
Übersetzung: Regina Rawlinson
Verlag: Goldmann
Erschienen: 27.08.2025
Seiten: 384
ISBN: 978-3-442-31784-4
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