Inhalt
„Das Flüstern der Bäume“ beginnt im Jahre 2038 auf einer abgelegenen Insel vor der Pazifikküste von British Columbia. Hier arbeitet die Waldführerin Jacinda „Jake“ Greenwood. Während alle mit den Folgen des Großen Welkens, das letztlich für tödliche Staubwolken sorgt, kämpfen, ist Kanada wegen der Bäume ein attraktiver Ausweg. Viele Pilger besuchen die Baumkathedrale von Greenwood, wo Staubmasken und Luftfilter noch keine Rolle spielen. Jake gibt Führungen, erzählt den Pilgern die Geschichte um diesen Primärwald, der als einer der letzten noch besteht. Sie kennt die Zahlen, Daten und Fakten in- und auswendig. Nur ihre eigene Geschichte, die kennt sie väterlicherseits nicht einmal in groben Zügen. Wie ist sie in dieser Welt verwurzelt?
Natur
Wie der Titel schon vermuten lässt, spielt das Thema Natur eine große Rolle in diesem Buch. Insbesondere geht es um Bäume, die in ganz unterschiedlicher Art und Weise das Leben der Menschen dieser Familiensaga bestimmen.
Man lernt nach und nach die verschiedenen Generationen kennen, nicht der Reihe nach, sondern ganz vermischt, und liest, wie wichtig die Bäume für sie waren – und warum. Auch unsere Protagonistin Jake liebt die Natur, hat für die Bäume schon einiges aufgegeben – und wird es wieder tun. Die Verbundenheit und Wichtigkeit wird also überaus deutlich – und dann gibt es da das andere Thema: Das Große Welken. Dadurch, dass man die Bedeutung der Natur für die Greenwoods in aller Ausführlichkeit kennen lernt, hat diese Naturkatastrophe eine noch viel größere Auswirkung auf die Leser*innen.
Das Große Welken, das in dem Roman die Natur und Gesundheit aller zerstört, zieht viele Konsequenzen nach sich. Es ist absolut erschreckend. Zwar nimmt die Gegenwart um 2038 gar keinen so großen Teil ein, denn die Aufarbeitung der Familienkonstellation steht im Fokus, aber das, was man liest, von Zerstörung, Klimaflüchtlingen etc., ist definitiv aufrüttelnd.
Figuren
Es gibt wahnsinnig viele tolle Menschen in diesem Buch. Und alle sind so gut gezeichnet, so gut vorstellbar. Ich bin absolut begeistert von den Charakteren!
Die Protagonistin des Buches ist Jake, obwohl wir sie gar nicht übermäßig lange und oft begleiten, aber sie ist die Schlüsselfigur, weil sie etwas über ihre Vorfahren erfährt und die Geschichte um sie herum aufgebaut wird.
Sie ist Dendrologin, also eine Botanikerin, die auf Bäume spezialisiert ist. Seit 9 Jahren arbeitet sie als Waldführerin und hat so ihre Schwierigkeiten im Leben. Sie hat Schulden, ist mit vielen Punkten ihrer Arbeit nicht einverstanden, hat sich nie so richtig verwurzelt gefühlt. Und genau darum geht es im Verlauf schwerpunktmäßig: Um die Vergangenheit, um ihre unbekannten Wurzeln. Denn ihr Ex-Verlobter, ein Anwalt, steht plötzlich mit einem alten Tagebuch vor ihr, das Licht ins Dunkel und eine ganz neue Perspektive zum Vorschein bringt.
Unabhängig von dem Tagebuch springen wir in den Zeiten hin und her. Wir lesen von Jakes Vater Liam, den sie nie kennen gelernt hat. Wir lesen, wieso es nicht geklappt hat mit Meena, Jakes Mutter, und welche Beziehung Liam zum
Thema Holz hatte.
Wir lesen von Liams Mutter Willow, einer Umweltaktivistin, der Demut unglaublich wichtig war und die sich von ihrem Vater Harris nie verstanden gefühlt hat.
Wir lesen sogar bis ins Jahr 1908 zurück, lesen die Anfänge der Familie Greenwood um Harris und Everett, wie sie zu Geschwistern und Holzfällern wurden.
Harris wurde letztlich zu einem Holzmagnat, Everett musste für lange 38 Jahre ins Gefängnis. Der Strang um Everett hat mir am allerbesten gefallen. Er hat etwas gefunden, das sein ganzes Leben verändert hat. Es lag eine tiefe Zartheit in diesen Zeilen. Ich habe das alles so, so gerne gelesen und so gespannt mitverfolgt!
Es gibt noch viele weitere Menschen, über die wir lesen und die alle ihre Berechtigung haben. Ganz besonders mochte ich auch Temple Van Horne, eine herzensgute, absolut vorurteilsfreie Frau, die eine Weizenfarm betrieben hat und Armen Essen und Schlafplätze gegen Feldarbeit gegeben hat. Ihre Geschichte zeigt, dass es sich lohnt, gut zu anderen zu sein, weil es dann zurückkommt, wenn man es am meisten braucht und am wenigsten damit rechnet.
Stil
Michael Christie hat seinen Roman ruhig und unaufgeregt erzählt, gleichzeitig aber wahnsinnig fesselnd. Ich konnte das Buch überhaupt nicht weglegen. Ich denke, dass man in der richtigen Stimmung sein muss für „Das Flüstern der Bäume.“ Die Geschichte entwickelt sich nämlich ganz langsam. Trotzdem habe ich mich zu keinem Zeitpunkt gelangweilt. Der Autor kann mit Worten umgehen, findet die treffendsten Beschreibungen. Es gibt ganz vieles, das man sich markieren könnte, weil es so schön formuliert ist. Ich habe es sehr genossen, dieses Buch zu lesen!
Bedeutung
Es ist nicht einfach nur eine Geschichte über einzelne Menschen, es ist so viel mehr.
Zunächst einmal haben wir hier eine Familie der Macher, der Veränderer, es sind Leute, die quasi aus dem Nichts heraus etwas bewirken, was ich unheimlich stark und ermutigend fand.
Letztlich, auch wenn das im Einzelfall nicht immer auf den ersten Blick klar wird, kann man auch sagen, dass es hier um Werte geht. Darum, was wirklich zählt – und das ist nicht das große Geld, auch wenn es manchmal eine Menge Mut braucht, um nach dieser Erkenntnis zu leben.
Ganz besonders sagt mir die Geschichte, dass es sich lohnt, auf sich selbst zu vertrauen und seinen Weg zu gehen, für seine Überzeugungen zu kämpfen, egal, was und wie viel auch immer dazwischenkommt. Denn ja, verdammt, es passieren schlimme Dinge – aber genauso geschehen unverhofft gute Dinge und immer geht es weiter. Es ist eine Geschichte, die zeigt, dass es das perfekte, makellose Leben nie geben wird. Der beste Weg wird nicht immer der leichteste, aber keine Anstrengung ganz umsonst sein.
Und ohne die Gesundheit der Natur sind wir früher oder später verloren. Der Roman stimmt diesbezüglich nachdenklich, ohne belehrend zu wirken.
Entwicklung
Die Figuren sind alle gelungen und entwickeln sich, alle haben sie ihre Einsichten.
Um ein Beispiel zu nehmen, wähle ich mal die Hauptfigur aus: Es ist toll zu sehen, wie Jake nach und nach klar wird, wie sie auf diese Erde gelangt ist, welche Entscheidungen, Zufälle und Wunder, aber auch Fehler dazu geführt haben, dass ihre Familie entstehen konnte und dass sie als ein Teil davon existiert. Sie versteht, was Familie wirklich heißt, dass es nämlich in erster Linie um die Verbindung miteinander geht – egal, wie diese entstanden sein mag.
Fazit
„Das Flüstern der Bäume“ hat mich wahnsinnig begeistert. Die Figuren sind großes Kino, die Liebe zur Natur und deren Wichtigkeit kommt absolut rüber. Der Autor hat ein riesiges Erzähltalent und ihm ist hier für mich der wohl beste Generationenroman überhaupt gelungen!
5/5!
560 Seiten / ISBN: 978-3-328-60079-4 / Übersetzung: Stephan Kleiner