Werbung, da Rezensionsexemplar
Darum geht’s
Könnte der 64-jährige Protagonist aus „Das geheime Leben des Albert Entwistle“, Postbote bei der Royal Mail, sich eine Superkraft aussuchen, dann wäre es wohl die, sich unsichtbar zu machen. Beobachten: ja, gerne; mit Menschen interagieren: nein, danke. Es geht ihm gut in seiner tröstlichen Routine, die ihm garantiert, dass seine Geheimnisse niemals ans Licht kommen – bis all seine gut geplanten Gewohnheiten wegzubrechen drohen: Er soll in Rente gehen. Seit seinem 16. Lebensjahr ist er Postbote – wer ist er denn noch, wenn sein Beruf wegfällt? Und vor allem: was – außer einsam? Seine große Liebe George hat er seit fast 50 Jahren nicht mehr gesehen, Freunde hat er auch keine. Ob es wohl zu spät ist, daran etwas zu ändern?
Der Protagonist
Der queere Protagonist Albert sieht nach mehreren Hiobsbotschaften die große Einsamkeit auf sich zukommen – und will diese nach anfänglicher Melancholie unbedingt abwenden. Dazu muss er seine Schüchternheit überwinden und aus sich herauskommen.
Albert hat mir als Hauptfigur gut gefallen. Er hat natürlich ein riesengroßes Potential für eine Weiterentwicklung – und schöpft dieses auch voll aus. Ich fand ihn so gut geschildert, dass man sein – oberflächlich betrachtet – eigentümliches Verhalten durchaus nachvollziehen kann. Er ist sympathisch und hat im Verlauf einige liebenswürdige Ideen. Ich fand es toll, dass seine Vergangenheit an ihm nagt, seine herzensgute Art aber nicht von ihr aufgefressen wurde. Ich habe mir für ihn ein Happy End gewünscht und seine Veränderungen gespannt mitverfolgt.
Die anderen Figuren
Eine weitere große Rolle in dem Buch spielt Nicole Ashton. Sie ist eine 19-jährige alleinerziehende Mutter, die eine Ausbildung macht und sich nicht sicher ist, wieso ihr Freund sie hinhält. Zwar fand ich die Lösung ihres Problems zu einfach, insbesondere, weil die beiden selbst nicht darauf gekommen sind, aber insgesamt hat mir auch ihr Strang ganz gut gefallen, weil man ein bisschen miträtseln kann, wie ernst es ihr Freund mit ihr meint.
Nicole entwickelt im Verlauf eine Beziehung zu Albert, die ich ganz niedlich fand. Außerdem ist sie ihm mit ihrer noch jungen und frischen Sicht auf die Dinge eine große Hilfe.
Daneben gibt es viele weitere Personen, beispielsweise die Kollegen von Albert, die mich teilweise mit ihrem Verhalten wirklich genervt haben. Insbesondere für Jack hatte ich wenig Verständnis, seine Verwandlung wirkte dann leider ebenfalls überzogen. Auch das große Trara um die neuen Nachbarn war mir zu unnatürlich. Insgesamt waren mir die Figuren fast alle zu übertrieben, um authentisch zu sein. Auch die Dialoge kamen manchmal sehr künstlich rüber.
Stil
„Das geheime Leben des Albert Entwistle“ lässt sich schnell und flüssig durchlesen. Das Tempo ist dabei eher gemächlich.
Es ist eine lockere und moderne Geschichte mit einer ordentlichen Portion Humor. Dieser Humor war allerdings nicht wirklich meiner. Er basiert zu nicht unerheblichen Teilen auf plumpen Anzüglichkeiten. Das trifft nicht unbedingt meinen Geschmack, insbesondere in der hier vorherrschenden Summe, aber das ist natürlich eine sehr persönliche Sache, die jede*r Leser*in anders empfinden dürfte.
Wahrscheinlich hätte es für mich noch besser funktioniert, verstärkt auf die ernstere Gefühlsschiene zu setzen. Denn die traurigen Themen rund um Gracie, seine Eltern, seine Ängste usw., all das kam richtig bei mir an. Da konnte ich etwas fühlen. Das verlor sich durch die für mich nicht durchgehend vorhandene Glaubwürdigkeit dann zwischendrin immer mal wieder. Aber der Autor wollte eben auch ganz viel Leichtigkeit und Auflockerung mit reinbringen – und das wird sicherlich auch bei vielen punkten.
Coming-out
Als Teenager hat Albert seine erste (und einzige) große Liebe erlebt. Und zwar mit George. Einem Mann. Leider endete die vor allen verheimlichte Beziehung in einem Desaster und er hat George seit fast 50 Jahren nicht mehr gesehen.
Ich finde, dass mit dem Thema gut umgegangen wird. Zu dem Zeitpunkt, als die beiden Teenager waren, war Homosexualität zwar legal, allerdings erst ab 21. Aber auch sonst hätten sie sich verstecken müssen, denn Albert hatte auch von anderer Seite mit extrem vielen Vorurteilen und Abscheu zu kämpfen.
Während George ganz anders mit seinem Schwulsein umgehen will, igelt sich Albert ein. Das Ganze ist so gut aufgebaut, dass man verstehen kann, warum er so verschlossen geworden ist und nie wieder etwas in die Richtung gewagt hat. So ist er eben auch mit 64 noch ohne Coming-out. Ob das so bleibt?
Ein Weihnachtsdrama
Die Geschichte fängt um Weihnachten herum an. Ist das denn überhaupt etwas Passendes für den Sommer/Herbst? Hier durchaus. Mich hat nicht gestört, dass die Story zunächst um die Festtage herum aufgebaut ist. Man muss nicht in Weihnachtsstimmung sein, um den Roman zu lesen – und er wird einen auch nicht in eine solche versetzen. Es ist quasi Alberts ganz persönliches Weihnachtsdrama, das wir hier lesen. Gerade anfangs herrscht eine sehr bedrückte Stimmung, der Protagonist wird von mehreren Seiten gleichzeitig hart getroffen. Außerdem hat der Ausgang ein ganz besonderes Datum/eine spezielle Jahreszeit vorgegeben.
Verlauf und Ende
Den Aufbau fand ich zunächst sehr gelungen. Man erfährt, dass Albert sehr zurückgezogen lebt, dass sein Verhältnis zu seinen Eltern nicht besonders gut war. Die Gründe dafür bleiben aber lange verborgen. Ebenso erfährt man, dass die Beziehung zu George zu Ende ging, ja, dass womöglich sogar Hass daraus wurde. Die Umstände, die dazu geführt haben, bleiben aber bis fast ganz zum Schluss unaufgeklärt. Ich wollte unbedingt erfahren, was hinter den ganzen Andeutungen steckt, insofern hat der Aufbau für mich gut funktioniert.
Nicht ganz so gelungen empfand ich den Verlauf und das Ende. Einmal in Schwung gekommen, verlief mir alles ein wenig zu rund und glatt. Das Ende von „Das geheime Leben des Albert Entwistle“ dürfte Harmoniesüchtige wunschlos glücklich machen. Ich hätte mir zumindest bis dahin noch ein paar größere Stolpersteine gewünscht.
Der Verlauf ist grundsätzlich recht vorhersehbar, große Überraschungen blieben zumindest bei mir aus.
Botschaften
Ängste spielen in dem Buch eine große Rolle. Das bringen die Themen einfach mit sich. Es geht um Angst vor der Einsamkeit, davor, dazu zu stehen, wer man wirklich ist. Es geht um die Furcht vor den Vorurteilen und Meinungen anderer.
Die Geschichte zeigt, wie sehr einen Menschen seine Vergangenheit prägt, aber auch, dass man sich dieser stellen, dass man sich von der Qual, die sie einem bereitet, befreien kann.
Ganz besonders wird durch Alberts Beispiel deutlich, dass es sich lohnt, mutig und offen zu dem zu stehen, was man fühlt – und dass es dafür nie zu spät ist.
Ich finde, dass die Geschichte durchaus eine sensibilisierende Wirkung hat – und das ist gut.
Fazit
„Das geheime Leben des Albert Entwistle“ enthält einige wichtige Botschaften. Die Geschichte ist zunächst traurig, dann aber vor allem voller Mut und Hoffnung, niedlich, modern und humorvoll. Die Figuren waren mir teilweise zu übertrieben, der Verlauf zu glatt. Aber insgesamt ist es durchaus ein schönes Buch für zwischendurch.
3/5!
Das geheime Leben des Albert Entwistle: Roman
432 Seiten / ISBN: 9783843725583 / Übersetzung: Marie Rahn