Tylers „Der Sinn des Ganzen“ stand auf der Longlist für den Booker Prize 2020 – und konnte mich doch nicht so begeistern wie „Drei Tage im Juni“.
Inhalt
An einem Montagmorgen im Oktober gerät das strukturierte Leben von Micah Mortimer aus der Bahn: Eine Kundin ruft an, sodass er sein Frühstück unterbrechen muss. Zwar nimmt er danach seine Gewohnheiten wieder auf, doch auch die folgenden Tage halten einige Überraschungen für ihn bereit: Der Sohn seiner College-Liebe Lorna sucht ihn auf – und will bleiben. Und seiner Partnerin Cass droht die Zwangsräumung, da sie eine Katze hält. Von allen Seiten prasseln die Veränderungen auf ihn ein – was wird das mit ihm und seinen strikten Plänen machen?
Der Tech-Eremit
Micah Mortimer, 43, selbstständiger Computer-Fachmann und Hausmeister aus Govans, Baltimore, lebt sein Leben nach Zeitplan. Er geht jeden Morgen um 7.15 Uhr joggen, wischt montags die Böden in Küche und Bad, hat für alles ein System. Dennoch ist er nicht die soziale Katastrophe, die man in Romanen oft antrifft, nein, er kommt einigermaßen zurecht mit seinen Mitmenschen, auch wenn er das anders sieht:
"Im Umgang mit Menschen kam es ihm manchmal so vor, als würde er einen Greifer bedienen, einen dieser Spielzeugautomaten an Strandpromenaden, mit denen man einen Preis zu grapschen versuchte, was jedoch fast nie gelang, weil sich die Kralle nur ungenau bewegen ließ und man viel zu weit weg stand."
S. 187, 188
Keine Bange, so schlimm ist es nicht. Er hat sogar seit drei Jahren eine Partnerin: die Lehrerin Cassia Slade. Für ihn ist alles in Ordnung … bis es das nicht mehr ist – und er gezwungen wird, darüber nachzudenken, weshalb seine Beziehungen scheitern.
Ich fand Micah okay. Nicht über alle Maßen sympathisch, auch nicht das Gegenteil. Ein netter Kerl, den ich allerdings sofort nach Beendigung dieses Beitrags vergessen werde.
Mein zweites Buch der Autorin
Ich habe den Roman bestellt, weil ich von „Drei Tage im Juni“ angetan war. Ich mochte, dass die Story ernst, witzig, melancholisch und hoffnungsvoll ist, dass es Spaß macht, sie zu lesen – und dass sie berührt. „Der Sinn des Ganzen“ ist eine andere Geschichte. Ich war nicht so begeistert dabei, fand es nicht annähernd so lustig. Mir fehlte der Pep, es wirkte alles lasch. Die Sache mit Brink habe ich ihr nicht abgekauft. Und ehrlich gesagt hat mich das Buch auch nicht berührt.
Dennoch mag ich die Themen, die die Autorin aufgreift. Und die Familien, die sie entwirft. Der pingelige Micah ist in einem chaotischen Haushalt aufgewachsen, die Szenen mit seinen Schwestern bringen Schwung in seinen Alltag, was ihm wenig behagt. Ich habe weitere Werke von Anne Tyler auf meiner Liste – und ich werde sie lesen, auch wenn ich an dieser Stelle nicht ins Schwärmen kommen werde (weil ich „Drei Tage im Juni“ so mochte UND weil ich feststellen will, ob es bei Tyler immer Katzen sind, die die großen Veränderungen anstoßen).
Der Titel
Es kommt immer mal vor, dass der deutsche Titel vom Original abweicht – und dann werde ich neugierig. Warum wurde er nicht einfach übersetzt? Passt er dennoch zum Buch? Auch hier habe ich nachgeschaut:
„Der Sinn des Ganzen“, der deutsche Titel, findet sich hier:
"Geht er jemals in sich und denkt über sein Leben nach, über den Sinn, den Witz des Ganzen? Bedrückt es ihn, dass er wahrscheinlich die nächsten dreißig, vierzig Jahre so leben wird?"
S. 7
Im Original heißt der Roman „Redhead by the Side of the Road“ – und die wichtigste Stelle dazu gibt es auf Seite 121, wenn er – wie jeden Tag – ohne Brille Joggen geht:
"Wieder verwechselte er den Hydranten eine Sekunde lang mit einem rothaarigen Menschen und schüttelte wie immer den Kopf über die ständige Wiederkehr des Gedankens, über die ständige Wiederkehr aller Gedanken, über die Endlosschlaufe, in der sie und im Grunde sein ganzes Leben gefangen waren."
Ja, darum geht es in dem Buch: Um seine Ahnungslosigkeit, seine Untätigkeit, seine unklare Sicht – sagen wir: seine Kurzsichtigkeit. Darum, dass er die Dinge hinnimmt, weil sie schließlich nicht schlimm sind – bis er feststellt, dass sie es vielleicht doch sind, weil keine Veränderung auch keine Verbesserung bedeutet.
Beide Titel sind gerechtfertigt.
Aufbau
Die Geschichte wird in acht Kapiteln erzählt. Ein Kapitel entspricht einem Tag, wir folgen Micah von Montag bis Montag – und somit die wohl aufregendste Woche seines Lebens lang.
Anne Tyler schreibt unkompliziert und fesselnd, sodass nicht nur die Seitenzahl dafür sorgt, dass man schnell am Ende ankommt.
Fazit
Mir hat „Der Sinn des Ganzen“ nicht so gut gefallen, wie erhofft. Es war aber auch keine Enttäuschung, sondern nette Unterhaltung für zwischendurch über einen missverstandenen Menschen, der eigentlich nur alles perfekt machen will – und echt in Ordnung ist.
Zusammenfassung Der Sinn des Ganzen von Anne Tyler
Dieses Buch ist für dich, wenn du
- Geschichten magst, die den Fokus auf den Charakter statt den Plot legen, und keine großen Überraschungen brauchst
- etwas Bodenständiges, Gemütliches, aus dem Leben Gegriffenes lesen möchtest, nichts Abgehobenes
- Lust auf ein kurzes Buch hast, das unkompliziert geschrieben ist, fesselt und sich flott auslesen lässt
Der Sinn des Ganzen – Anne Tyler
Originaltitel: Redhead by the Side of the Road (2020)
Übersetzung: Michaela Grabinger
Verlag: Kein & Aber
Erschienen: 09.09.2021
Seiten: 224
ISBN: 978-3-0369-6129-3
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