In „Die Frau in den Dünen“ von Kobo Abe will der Lehrer Jumpei Niki Insekten fangen – und gerät selbst in eine Falle.
Inhalt
Der 31-jährige Jumpei Niki bricht auf, um Insekten zu sammeln und in den Sanddünen am Meer neue Arten zu entdecken. Auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit trifft er auf einen hilfsbereiten Mann, der ihn zu einer Frau führt, deren Hütte in einem 20 Meter tiefen Sandloch steht. Der Lehrer klettert die Strickleiter hinab – und stellt am nächsten Morgen fest, dass die Konstruktion aus Seilen weg ist. Er ist gefangen. Für immer?
Einstieg
Der Anfang hat mir so gut gefallen!
"Eines Tages im August verschwand ein Mann."
eBook, Kap. 1, S. 12/291
So beginnt die Geschichte. Im ersten Kapitel gibt es wilde Spekulationen, was mit ihm geschehen sein könnte. Zudem die ernüchternde Nachricht: Seine Leiche wird zwar nicht entdeckt, doch nach sieben Jahren wird Jumpei Niki für tot erklärt.
Das hinterlässt natürlich viele Fragezeichen. Im nächsten Kapitel werden Teile aus dem vorherigen aufgegriffen – und wir machen uns auf den Weg, um die Wahrheit zu erfahren, das, was die Menschen, die er hinter sich gelassen hat, vielleicht nie zu hören kriegen werden. Dabei spürt die Leserschaft – auch durch die Hinweise – die sich anbahnende Gefahr deutlich, während sich der Protagonist lediglich wundert und den Blick sowieso die meiste Zeit auf den Sandboden gerichtet hat, wo er die Sandläufer zu finden hofft.
Er rennt in die Falle – und wir schauen zu.
Ich war von Anbeginn an gefesselt und gespannt, wie es weitergeht.
Sand
Sand, überall Sand, diese Körner mit einem mittleren Durchmesser von 1,8 mm, die nie zur Ruhe kommen. Das Dach der Hütte ist kaputt, die Wände sind zerfressen, es rieselt unablässig, die Körper und alles andere: in kürzester Zeit übersät.
"Gewiss, im Sand gedeiht kein Leben, aber gehört denn das Haften unbedingt zum Leben? Entsteht nicht gerade daraus, dass man unbedingt irgendwo haften will, der Kampf ums Dasein? Verzichtete man auf das Haftenwollen und überließe sich der Bewegung des Sandes, dann hätte dieser Kampf augenblicklich ein Ende."
eBook, Kap. 2, S. 22/291
Jeden Tag schaufelt die Frau den Sand weg, damit ihr Haus und die aller anderen nicht begraben werden. Aus Heimatliebe? Pflichtgefühl? Warum akzeptiert sie dieses eingesperrte Leben ohne Strom und fließend Wasser? Der Protagonist versteht die Welt nicht mehr.
"Mochte Sand auch noch so fließen, er war doch kein Wasser. Im Wasser kann man schwimmen, Sand hingegen umarmt den Menschen gewissermaßen und drückt ihn tot."
eBook, Kap. 13, S. 94/291
Wird es ihm gelingen, der Sandhölle zu entfliehen?
Rätselhaft
Die Angaben zu den Personen sind vage. Obwohl der Mann von einem Eintrag seines Namens in das entomologische Lexikon träumt, bleibt er lange namenlos, die Frau, die zwar unterwürfig, aber nicht schwach ist, sich in den entscheidenden Augenblicken zur Wehr setzt, gar die gesamte Zeit über. Als Ort wird eingangs der Bahnhof von S. erwähnt.
Der Protagonist war mir nicht sonderlich sympathisch. Er ist rätselhaft: Wer ist Jumpei Niki? Weiß er es überhaupt selbst? Es gibt viele Stellen, die die Selbstentfremdung verdeutlichen.
Fest steht, dass manche seiner Gedankengänge wirrer Art und einige seiner Aktionen wahrlich grausam sind. Er ist fast durchgängig schroff zu der Frau, die ihn umsorgt. Er hält sich für schlauer als die Dörfler – und hat doch ständig Unrecht. Alle seine Pläne scheitern – erst als er zufällig einen Erfolg erzielt, findet eine Wandlung statt.
Nein, Jumpei Niki ist kein charmanter Held. Und doch war ich gespannt, wie „Die Frau in den Dünen“ ausgeht, was mit ihm passiert, ob die Flucht gelingt.
Eine Umkehr
Ich glaube, dass man die Geschichte verschiedentlich auslegen kann. Mir hat es geholfen, festzustellen, dass ein Tausch stattfindet. Jumpei Niki zieht los, um Insekten zu fangen. Er tut es zu seinem eigenen Vorteil: Er möchte seinen Namen in einem Lexikon hinterlassen. Doch der Ausflug endet in vertauschten Rollen: Er wird in eine Falle gelockt und eingesperrt. Er ist derjenige, der – ohne optische Verwandlung – selbst zu einem Tier wird, das unter Beobachtung steht. Die anderen halten ihn zu ihrem eigenen Vorteil gefangen. All das zu erkennen, hat mir geholfen, über die … ich nenne sie: sehr unangenehme Szene, durch die das Buch mich fast verloren hätte, hinwegzukommen. Wenn man das Ganze in das Tierreich verschiebt, wie verrückt kommt einem die Situation dann noch vor?
Jumpei Niki ist in diesem Moment bereit, Grenzen zu überschreiten. Tatsächlich für die Freiheit? Oder um der Wahrheit nicht ins Auge sehen zu müssen? Welchen Sinn hatte sein Leben bisher? Es ist erstaunlich, welch seltsame Wege wir finden, um wenigstens irgendeine Art von Kontrolle auszuüben.
Die namenlose Frau hingegen begehrt keine Anerkennung für ihre Leistungen. Dennoch kann sie zweifellos die Frage beantworten, ob und welchen Sinn ihr Leben hat.
Der Sand und sein Fließen sind nicht zu stoppen – wie die Zeit. Auch dem messe ich eine Bedeutung bei.
Kobo Abe schreibt über Egoismus und Gemeinschaftsgeist, Wut und Akzeptanz, Triebhaftigkeit und Selbstbeobachtung, Impulsivität und Planung. Über Sinnhaftigkeit, Leben und Überleben.
Die Geschichte ist komplexer, als sie erscheint, und regt zum Nachdenken an. Und je länger ich das tue, umso besser gefällt sie mir.
Aufbau/Stil
„Die Frau in den Dünen“ wird in drei Teilen und 31 Kapiteln in der dritten Form erzählt. Ich mochte den knappen (und teils ironischen) Schreibstil, ebenso die Vorwegnahmen bzw. Hinweise, die die sich anbahnende Gefahr anzeigen. Gewöhnungsbedürftig fand ich die Dialoge. Es gibt unzählige Ausrufezeichen, egal, ob die Person aufgebracht ist oder ruhig spricht.
Die Wochen gehen gleichförmig dahin, ich war schwer verwundert, als plötzlich 46 Tage vorbei sein sollten.
Zur zeitlichen Einordnung: Die Hauptfigur (1924) verschwand 1955 und wurde 1962 für tot erklärt. Das verraten die familiengerichtlichen Meldungen am Ende. Dass sie erst so spät ins Spiel kommen, ist bezeichnend – denn der Jumpei Niki, um den es da geht, existiert längst nicht mehr.
In dem Roman gibt es verschiedene Ansätze, die Geschichte ist eine Mischung aus philosophisch, allegorisch, existenzialistisch und erotisch. Trotz der Eintönigkeit des Alltags ist sie spannend. Dazu kommt die einengende Atmosphäre, die ihren ganz eigenen Horror birgt. Es wundert mich nicht, dass es sich um einen Klassiker handelt.
Fazit
Für mich ist „Die Frau in den Dünen“ eines der Bücher, die ich noch einmal lesen würde, weil ich sicher bin, beim zweiten Durchgang Neues zu entdecken. Eine düstere, interessante, teils bizarre und schockierende, seltsam fesselnde Geschichte. Man muss aber bereit sein, mehr in die Sätze hineinzulesen, als auf dem Papier steht, um mit dem Roman glücklich zu werden.
Die Frau in den Dünen – Kobo Abe
Originaltitel: Suna no onna (1962)
Übersetzung: Oscar Benl und Mieko Osaki
Verlag: Unionsverlag
Erschienen: 17.09.2018
Seiten: 256
ISBN: 978-3-293-20809-4
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4 Antworten
Hm – reizen würde es mich jetzt nicht so. Ich denke aber es wäre ein Buch, das man mal anliest und sich dann am Ende wieder findet und merkt: gut dass ich es gelesen habe.
Schönes Wochenende
Ich habe es tatsächlich auch erst einmal nur anlesen wollen, aber konnte gar nicht mehr aufhören. :)
Schönes Wochenende für dich!
Das hört sich für mich wie ein intensives Leseereignis an, trotz dieser schockierenden Stelle – mir wurde es im Hals etwas enger, denn die Allegorie haut schon ziemlich gut hin. Die Sanduhr, das Verrieseln der Zeit, das jeden Tag von neuem stattfindet, eine Sisyphus-Arbeit. Ich werde mir das Buch zulegen und auch lesen. Danke für den Tipp. Ich nehme an, es ist sehr schwermütig?
Oh ja, ein sehr intensives Leseereignis. Ich bin ehrlich gespannt, wie es dir gefällt und was du dazu sagst.
Die Stimmung ist natürlich nicht gut, keine Frage, aber zuuuu schwer wird es nicht, wohl auch wegen der ironischen Stellen. Ich habe es gebannt gelesen. Auf meinen Newsletter kam eine E-Mail einer Leserin, die sich nach vielen Jahren noch gut an das Buch und den Lesesog erinnert – ich kann das verstehen.