Die Phantome des Hutmachers – Georges Simenon

Die Phantome des Hutmachers - Georges Simenon

In „Die Phantome des Hutmachers“ von Georges Simenon lesen wir von dem betuchten Hutmacher, der alte Frauen erwürgt, und vom armen Schneider, der weiß, was Labbé treibt – und doch nicht zur Polizei geht.

4/5

Inhalt

Vor 20 Tagen, am 13. November, wurde die erste alte Frau ermordet. Inzwischen sind es fünf. Es war Monsieur Labbé, der Hutmacher, der nur einen schmalen Straßengraben entfernt wohnt von Kachoudas, dem Schneider, der Bescheid weiß – und doch nicht zur Polizei geht, obwohl er die 20.000 Franc Belohnung für seine ständig wachsende Familie gut gebrauchen könnte.

La Rochelle im Dauerregen

"In sämtlichen Hausfluren trockneten nahe dem Ofen Regenmäntel und Hüte, und wer über keine Wechselkleidung verfügte, lebte in einer beständigen klammen Feuchtigkeit."

Nicht schön. Man möchte nicht tauschen, nicht hinsehen, schon gar nicht hinfühlen. Da ist ein Widerwille, da ist ein Ausgeliefertsein – und weil es den Figuren des Buches an vielen Stellen so geht, ist dieser Satz eine gelungene Einstimmung in den Roman und die vorherrschende Atmosphäre.

Der Selbstsichere …

Wir folgen den Gedanken des vermögenden Hutmachers, der anfangs eine Figur darstellt, die sich sicher ist in dem, was sie tut. Léon Labbé ist überzeugt, nicht aus einer Krankheit, sondern aus einer Notwendigkeit heraus zu handeln:

"Ich habe sie umgebracht, so wie die anderen, weil es sein musste. Aber das will keiner begreifen. Wieder wird man sagen und schreiben, ich sei ein Verrückter, ein Wahnsinniger, ein Sadist, ein Besessener, aber das stimmt nicht."

Es gefällt ihm nicht einmal:

"Er hatte sich entschieden. Er hatte sich nicht feige für den einfachsten Weg entschieden. Er hatte sämtliche Möglichkeiten in Betracht gezogen, und das, wozu er sich entschlossen hatte, war nicht sonderlich angenehm.
Ich schwöre, dass ich keinerlei krankhaftes Vergnügen dabei empfunden habe (...)"

Auch als mehrfacher Mörder folgt er weiterhin seinen starren Routinen, die seinen Bekannten vertraut sind. Doch ab einem gewissen Zeitpunkt wendet sich das Blatt.

… der Angst hat und nur eines will

Die Angst gewinnt die Oberhand, sie verwirrt ihn, führt ihn zur Unzeit an die falschen Orte.

Léon Labbé ist – sind wir das nicht alle? – auf der Suche nach Verständnis. Sein Bedürfnis, sich für seine Taten zu rechtfertigen, erfüllt er, indem er dem engagierten 19-jährigen Journalisten Jeantet, der auf eigene Faust ermittelt, Briefe aus ausgeschnittenen Buchstaben zukommen lässt.
Den Doktor, er ist sein Freund, schätzt er für seinen Verstand, weshalb er zwar Angst hat, dass er auf die Wahrheit kommt, es sich gleichzeitig aber fast wünscht.
Und Kachoudas, der Schneider, alarmiert nicht die Polizei, obwohl er Bescheid weiß. In ihm sieht er eine Art Verbündeten, der sich anguckt und akzeptiert, was vor sich geht.

Die Wahrheit des Schneiders

Er ist fast immer hinter dem Hutmacher, ihm folgend wie ein Schatten: der Schneider, ein schüchterner Armenier, der, so sieht es für Labbé aus, stillschweigendes Einverständnis zeigt.

Im zweiten, deutlich kürzeren Teil erfahren wir mehr über sein Leben und seine Motive. Denn es sind zwei Geschichten mit denselben Charakteren, die in dem Buch erzählt werden: „Die Phantome des Hutmachers“ (1948) und „Der kleine Schneider und der Hutmacher“ (1947).

Zwei Geschichten – zwei Enden

Ich hätte mir gewünscht, dass beide Teile auf ein Ende – auf das des Romans – hinauslaufen. Dass wir einmal die Sichtweise des Hutmachers kennen lernen und anschließend die des Schneiders, wobei es zwangsläufig Unterschiede gibt, die das Ganze noch interessanter machen. Aber hier haben wir zwei einzelne Geschichten, die sich in vielem überschneiden, am Schluss jedoch etwas komplett anderes zeigen. Jeder kriegt „sein“ Ende, es wird das aufgelöst, das für die Person im Fokus steht. Der Ausgang des Romans ist dabei stärker und überzeugender als der der Erzählung (alles beginnt in dieser düsteren und ungemütlichen Atmosphäre und endet in dem Gegenteil).

Unblutig, beklemmend, wiederholend

Der Hutmacher erwürgt alte Frauen. Man könnte meinen, man hätte es mit einem brutalen Buch zu tun, in dem es viele Gewaltszenen gibt. Dies ist nicht der Fall.
Bei den meisten Morden sind wir nicht anwesend, die anderen geschehen „nebenbei“, Details und Blut gibt es wenig.
Vordergründig wird das Innenleben der Figuren behandelt, zunächst das des Hutmachers, später das vom Schneider. Es geht um Komplizenschaft, Verbundenheit. Man darf hier keinen temporeichen Thriller erwarten. Die Spannung ergibt sich vor allem aus dem Lauern.

Es gibt viele Wiederholungen, was in manchen Situationen, etwa beim „Verfolgen“, aufregend, in anderen eher ermüdend wirkt. Angebracht fand ich sie immer, weil sie Labbés Gedankenkarussell gut widerspiegeln.

Nachwort

Ich geb’s zu: Die meisten Vorwörter überfliege ich, Nachwörter lese ich an und entscheide spontan, ob sie mich reizen oder nicht.

Hier gibt es ein Nachwort des Übersetzerduos, das einige bedenkenswerte Punkte (z. B. zur Namensgebung) enthält. Manches ist mir aufgefallen, anderes war eine interessante Ergänzung. Ich empfehle, es zu lesen.

Fazit

„Die Phantome des Hutmachers“ enthält zwei Geschichten und Wahrheiten über den Hutmacher und den Schneider aus der Rue du Minage.

Ich mag, wie der Autor seine Figuren darstellt und die beklemmenden Momente einfängt.
Für mich war es das erste Buch von Georges Simenon, aber ich werde mehr lesen, vielleicht als Nächstes einen seiner Maigret-Romane.

Die Phantome des Hutmachers - Georges Simenon

Die Phantome des Hutmachers – Georges Simenon

Originaltitel: Les Fantômes du chapelier (1949)

Übersetzung: Juliette Aubert, Mirko Bonné

Verlag: Atlantik

Erschienen: 04.09.2023

Seiten: 288

ISBN: 978-3-455-00804-3

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