„Die spürst du nicht“ ist ein abwechslungsreich geschriebener Roman, der aufregt, berührt und zum Nachdenken bringt.
Werbung, da Rezensionsexemplar
Inhalt
Zwei befreundete Familien machen Urlaub in einer Villa bei Castagneto Carducci in der Toskana. Die 14-Jährige Sophie Luise darf ihre gleichaltrige Klassenkameradin Aayana mitnehmen, die ihre erste Ferienreise überhaupt erlebt. Zwei Welten treffen aufeinander in Glattauers neuestem Roman „Die spürst du nicht“ – und ein Unglücksfall verändert alles.
Die Beteiligten
Oskar Marinek, chronischer Besserwisser, ist dagegen: Aayana, das Flüchtlingskind aus Mogadisch, das seit zwei Jahren in Österreich lebt, soll nicht mitkommen in die Toskana. Seine Ehefrau Elisa, Grünen-Abgeordnete im Nationalrat, und seine in der Handywelt lebende Tochter Sophie Luise haben jedoch andere Pläne. Schließlich hat auch Töchterchen Lotte einen Spielgefährten: den neunjährigen Sohn der Binders, mit denen die Familie den Urlaub verbringt. Oskar hat keine Chance: Aayana fährt mit.
Die Strobl-Marineks sind wohlsituiert, die Binders um den Biowinzer Engelbert ebenfalls. Aayana ist die Ausnahme, wie immer. Sophie Luise gibt Aayana einen Einblick in ein Leben, das sie nicht kennt: in ein privilegiertes. Sie will der Jugendlichen im Pool das Schwimmen beibringen und Fotoserien mit ihr aufnehmen.
Die Personen sind nicht fehlerfrei, sie werfen mit bedenklichen Aussagen um sich, handeln fragwürdig, regen auf. Das ist gewollt. Und das ist gut so. Mit untadeligen Charakteren hätte die Story nicht funktioniert.
Ich mochte den Anwalt der Ahmeds, das Finale, das er abliefert. Dass er nicht immer mustergültig daherredet, macht das Ganze besonderes interessant und aussagekräftig.
Gut gemeint, aber…
Früh wird deutlich, dass die Gründe, Aayana mitzunehmen, haarsträubend sind. Sophie Luise ist scharf auf die Fotos und Videos, die herausspringen werden, wenn das ungleiche Paar posiert. Sie kennt das stille Mädchen nicht. Sie meint es gut mit ihr, will ihr Dinge zeigen. Eine Win-win-Situation?
Fakt ist: Alle doktern ständig im Leben anderer herum, ohne die nötigen Qualifikationen zu haben. Sollte das so praktiziert werden? Ist das okay? Solange man die/der Gutmeinende ist, fühlt es sich zumindest danach an. Um was geht es? Um das eigene Gewissen? Oder um das Gegenüber?
Daniel Glattauer zeigt beide Seiten. Elisa, deren Engagement bereits vor Reiseantritt rabiat ausfällt, spricht später
"Die Plumpheit, mit der sie in ihre Gefühlswelt treten und darin herumtrampeln."
(Pos. 2304/3934)
an. Ich fand es großartig, wie wir die Absurdität vor Augen geführt bekommen, die sich dort – und seien wir ehrlich: nicht nur dort – abspielt.
Scharfzüngig
„Die spürst du nicht“ ist ein Buch, das brisante Themen behandelt. In erster Linie geht es darum, auf die aufmerksam zu machen, die nicht wahrgenommen werden, denen, die keine Stimme haben, eine zu geben.
"Wir alle haben sie übersehen. Sie war nämlich fast unsichtbar."
(Pos. 1349/3934)
Und es geht in dem Roman um die Frage, ob es „Menschen dritter Klasse“ gibt. Es geht um Moral, darum, wie viel Stillschweigen in einer Freundschaft erwartet, in welcher Dosis „Vitamin B“ eingesetzt werden darf.
Das Ganze ist scharfzüngig verpackt. Der gesellschaftskritische Roman nimmt sich einiges heraus. Es gibt Hate Speech. Zweimal fällt das N-Wort. Hier – oder lange vorher – hätte mich das Buch verlieren können.
Aber.
Es gibt Gegenstimmen. Derlei Äußerungen bleiben selten unkommentiert, sie werden nicht durchgängig als normal verkauft und stillschweigend akzeptiert. Das finde ich wichtig, auch in solchen Geschichten. Die Story erscheint maßlos überspitzt, die Kompensationen sorgten dafür, dass ich von der Palme, auf die ich immer wieder gebracht wurde, herunterschauen und kurzzeitig sogar -kommen konnte. Das Buch wagt viel, aber nicht zu viel. Es verschafft sich Gehör, schlägt erfolgreich ein. Dass es sich um einen schwierigen Roman handelt, der Themen wie die Doppelmoral behandelt, lässt sich dem Klappentext und der Beschreibung entnehmen. Ich wusste in etwa, was mich erwartet, war dennoch schockiert, fassungslos, unangenehm berührt – aber es fühlte sich richtig an. Es wird klar, worum es geht, weshalb diese Form gewählt wurde, worauf der Autor abzielt. Ich finde „Die spürst du nicht“ gelungen, gerade wegen der zynischen Einschläge. Und das geht mir bei Texten dieser Art beileibe nicht immer so.
Abwechslungsreich
Abwechslungsreicher und unterhaltsamer kann man einen solchen Roman kaum schreiben. Es gibt Szenen, die an einen Film erinnern, Zeitungsartikel, Kommentare, Chatverläufe, Interviews. Der Autor hat mich mit dem Aufbau von „Die spürst du nicht“ überrascht – und überzeugt. 100%ig. Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen, war jede Sekunde gespannt dabei.
Der Roman besteht aus 18 Kapiteln. Im ersten Kapitel geht es um den 12. Juli, wir befinden uns in der Toskana. Das zweite Kapitel ist eines von mehreren, das die mediale Berichterstattung und deren Resonanz behandelt. Ich bin sicher, dass uns allen Kommentare wie die, die dort aufgeführt werden, bekannt vorkommen – und das ist furchtbar. Daniel Glattauer hat das perfekt eingefangen, die Zeilen lösten in mir die Gedanken und Gefühle aus, die die traurigen Vorbilder hervorrufen.
Ab dem dritten Kapitel sind die Strobl-Marineks zurück in Wien, die Binders in Fels am Wagram, Niederösterreich.
Fazit
Das Buch hat mich aufgeregt, so richtig. Und es hat mich berührt. Es hat mich bis zum letzten Satz gefesselt. Und ich habe alles gespürt. Ehrlich.
Die spürst du nicht – Daniel Glattauer
Originaltitel: –
Übersetzung: –
Verlag: Hanser Literaturverlage/Paul Zsolnay Verlag
Erschienen: 20.03.2023
Seiten: 304
ISBN: 978-3-552-07333-3
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