„Die Taube“ zeigt eindrucksvoll, wie ein von der Allgemeinheit als banal angesehenes Ereignis das Leben eines Einzelnen erschüttern und die bewährteste Strategie als fragil entlarven kann.
Inhalt
Jonathan Noel, Wachmann bei einer Bank, vermeidet alles, das seine Ordnung und Ruhe stört. Sein Alltag ist durchstrukturiert, die Kontakte zu seinen Mitmenschen sind auf ein Minimum beschränkt, Veränderungen unerwünscht. Er lebt in einer kleinen Kammer, die er nur verlässt, um seine Arbeit zu verrichten. Über viele Jahre hinweg funktioniert dieses Leben, die wenigen Ausnahmen kann er auf den Tag genau benennen. Doch nun, im August 1984, geschieht etwas, das ihn komplett aus der Bahn wirft: Vor seiner Zimmertür, hinter der er sich stets sicher fühlte, sitzt eine Taube.
Na und?
Vor Zimmer Nummer 24 im sechsten Stock, der Kammer, die Jonathan Noel seit Jahrzehnten bewohnt und die er zum Jahresende abgezahlt haben wird, sitzt eine Taube. Das mag unscheinbar klingen, ist für den Protagonisten allerdings ein Ereignis, das er nicht erwartet hat – und das sein Leben auf den Kopf stellt. Er ekelt sich. Sie sieht ihn an, erbarmungslos. Er weiß nicht, wie er jemals wieder in seine schützenden vier Wände kommt, sollte er imstande sein, sie an dem Tier entlang zu verlassen. Und werden sie dann noch immer ihre Funktion erfüllen? Kann sein Leben je werden wie zuvor?
Hört sich seltsam an? Ist es auch. Aber nur, bis wir uns die Hauptfigur genauer anschauen:
Jonathan Noel
Jonathan Noel ist Anfang 50. Er hat in seiner Kindheit einiges erlebt, insbesondere, dass ihn Menschen, die zu ihm gehörten, verließen. Seine Mutter? Abgeholt. Sein Vater? Ebenfalls. Seine Schwester, nachdem er aus dem Krieg, in den ihn sein Onkel schickte, zurückkehrte? Weg. Seine Zukünftige, von seinem Onkel ausgewählt? Durchgebrannt. Er ist nicht mehr imstande, anderen zu vertrauen. Er kann keine weiteren Verluste ertragen. Die Entscheidung, nach Paris zu gehen, war seine eigene. Und es war eine, die seinen Bedürfnissen entsprach. Er hat in der Kammer gefunden, wonach er suchte: Schutz. Hier kann er sich abschotten von der Welt, seine Verletzlichkeit ist gut versteckt, niemand durchkreuzt seine Routinen – bis an diesem Freitagmorgen die Taube auftaucht. Sie passt nicht in seine Pläne, macht ihn zu einem Gefangenen, einem Geflüchteten, jemandem, der die Oberhand verloren hat.
Eine Charakterstudie
Die Erzählung bietet keine besonders spannende Handlung. Jonathan ist kein Kämpfer. Schon im Krieg war er mehr verwundet als alles andere. Er will bloß seine Ruhe. Aber er ist gezwungen, sich durchzuschlagen: Er muss sich aus der Wohnung, durch den Tag und zu einer Lösung kämpfen. Und er tut es – auf seine Art.
Die Geschichte funktioniert, weil der intensive Blick auf die Hauptfigur sie interessant macht. Wir lesen, was der Protagonist sieht, hört, fühlt, denkt. Die Taube hat ihn aus seiner Erstarrung gerissen. Es ist mächtig was los in Jonathan – und das spürt man. So absurd das Ganze ist: Ich konnte mit ihm fühlen, konnte nachvollziehen, wieso ihn die Taube so mitnimmt. Ich war gespannt, was passieren würde, denn dass er sein Leben nicht wie zuvor weiterleben könnte, stand fest. Er muss den Tatsachen ins Auge blicken, sich seinen Ängsten stellen, hinnehmen, dass man nicht alles kontrollieren kann. Ich war beeindruckt davon, wie sehr seine Verzweiflung bei mir ankam.
Schnelle Lektüre
„Die Taube“ hat 112 Seiten. Wir begleiten Jonathan von einem Morgen zum nächsten. Ich habe die Geschichte ohne Unterbrechung weggelesen, es hat keine zwei Stunden gedauert. Dass der Protagonist die gesamte Zeit über unter Stress steht, beschleunigt die Lektüre zusätzlich. Ich bin durch die Zeilen gehetzt, die Wörter sitzen, die bedrohliche Atmosphäre und Emotionen kommen rüber.
Fazit
„Die Taube“ zeigt eindrucksvoll, wie ein banales Ereignis das Leben eines Einzelnen erschüttern und die bewährteste Strategie als fragil entlarven kann. Jonathan bewegt sich zwischen dem Wunsch, nicht aufzufallen, Pflichtbewusstsein und innerem Aufruhr durch den drückenden Sommertag – und ich habe mit ihm gefühlt. Mich hat die Novelle gepackt.
Die Taube – Patrick Süskind
Originaltitel: –
Übersetzung: –
Verlag: Diogenes
Erschienen: 24.04.1990
Seiten: 268
ISBN: 978-3-257-21846-6
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