Inhalt
In „Dschinns“ von Fatma Aydemir geht es um die Familie Yılmaz. Hüseyin arbeitete 30 Jahre lang in Deutschland, opferte sich auf für seine Angehörigen, nahm jede Überstunde mit, immer sein Ziel vor Augen: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Eine Woche vor seinem 60. Geburtstag, vor der ersehnten Frührente, hat er es geschafft – und erleidet am Tag der Fertigstellung einen Herzinfarkt.
Hüseyin hinterlässt den ungelebten Traum, seine geliebte Frau Emine, mit der er 33 Jahre lang verheiratet war, und seine Kinder. Nach und nach kommen alle zu Wort, erzählen von ihrem Leben als Einwanderer in Deutschland, sprechen aus, was sie nie miteinander geteilt haben.
Ungewöhnliche Perspektiven
Ich bin ein Fan der Ich-Form – und die kriege ich in „Dschinns“. Allerdings anders als üblich. Die Autorin setzt den Ich-Erzähler sparsam – und dadurch umso wirkungsvoller – ein. Ich werde nicht vorwegnehmen, wer sich hinter dem „Ich“ verbirgt, nur so viel: Die Perspektive mischt etwas Mysteriöses unter diese lebensechte Story.
„Dschinns“ hat keinen klassischen Ich-Erzähler, stattdessen lässt uns Fatma Aydemir die Geschichten der (erwachsenen) Kinder der Familie in der dritten Person kennen lernen. Bei den Eltern geht sie einen ungewöhnlichen Weg: Die Kapitel von Hüseyin und Emine sind in der Du-Form geschrieben. Ich fand das interessant. Man trifft nicht oft auf diese Perspektive. Die Namen der beiden werden dabei ständig wiederholt. Was mir zunächst störend erschien, bewirkt, dass der Inhalt noch eindringlicher rüberkommt.
Mir hat die außergewöhnliche Wahl der Erzählperspektiven gefallen.
Jede Menge Probleme
„Dschinns“ ist kein Feel-Good-Roman. Es ist eine tragische Geschichte, bei der wir Einblick in die Köpfe mehrerer Familienmitglieder bekommen, die allesamt mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen haben. Gemeinsam haben sie ihre Herkunft, der Rest ist individuell. Es sammelt sich einiges an, unzählige gesellschaftliche und schwerwiegende Themen wurden verarbeitet. Zu viele? Ist der Roman überladen? Vielleicht.
Fatma Aydemir hat keiner ihrer Figuren ein einfaches Leben geschenkt. Sie hat alles an Möglichkeiten ausgeschöpft, um Konflikte zur Sprache zu bringen. Es geht um die Schwierigkeiten, auf die man als Ausländer in Deutschland trifft, um Traditionen, die eigene Identität. Es geht um den Mut, den es braucht, um auszubrechen: aus vorgezeichneten Wegen, Rollenvorstellungen, dem seit Generationen anhaltenden Schweigen. Gesucht und selten gefunden: Akzeptanz.
Es ist verständlich, dass sich eine Menge aufsummiert, wenn jedes Familienmitglied über seine eigenen Themen spricht. Jeder Mensch hat Probleme, jede Romanfigur soll welche haben, um real und interessant zu erscheinen. Allerdings wirkt es etwas erschlagend. Das Ende hätte es für mein Empfinden nicht gebraucht, auch wenn ich sehe, dass es ein paar eindrucksvolle letzte Sätze erlaubt.
Charaktere
Hüseyin
Zunächst lernen wir Hüseyin kennen. Er kam aus einem Dorf der Osttürkei nach Deutschland, um zu arbeiten. Jahre später holte er Emine und die jüngeren Kinder nach. Sie lebten im fiktiven Rheinstadt in Süddeutschland.
Hüseyin hat alles gegeben, erst in der Metallfabrik, und als diese schloss, ihm die Frührente verwehrt blieb, fünf weitere Jahre in einer Kartonfabrik. Nun hat er endlich genug geschuftet – und die Eigentumswohnung in Istanbul wird real. Wenn sein jüngster Sohn Ümit, 15, die Schule abschließt, will Hüseyin endgültig herkommen, unbedingt. Doch daraus wird nichts. Noch an dem Tag, an dem er alles fertig einrichten lässt, erliegt er einem Herzinfarkt.
Ich fand es hart, Hüseyins Kapitel zu lesen. Er hat jahrzehntelang für seine Familie und seinen Traum geackert, doch noch bevor er sein Ziel genießen konnte, lief seine Zeit ab. Plötzlich war das Ende da. Es ist unfair – und kein Einzelfall. Wie viele Leben enden, ohne richtig gelebt worden zu sein? Wie oft hört man von Menschen, die sich auf ihren Ruhestand freuen, nur um kurz vorher aus dem Leben gerissen zu werden? Hüseyins Schicksal hat mich getroffen. Durch die intensive Erzählweise kommt das Geschriebene an. Man fühlt es. Das „Du“ gilt Hüseyin, der Name wird immer wieder genannt, aber das „Du“ wirkt dennoch anders auf mich als Leserin, als ein „Er“ es getan hätte. Hüseyins Kapitel rüttelt auf.
Ümit
Ümit ist der jüngste Sohn der Familie. Der 15-Jährige hat noch keine Sommerferien, deshalb bereitet Hüseyin die Wohnung in der Türkei vor, um sie seinen Lieben zu zeigen. Doch die erhalten stattdessen die Nachricht seines Todes. Ümit kommt kaum klar damit. Er hat sowieso zu kämpfen, muss sich nun in einer weiteren Rolle zurechtfinden, die er sich nicht ausgesucht hat. Er hasst die Wohnung, weil sein Baba in ihr starb, ist überfordert mit der Trauer seiner Mutter und seiner Schwester Peri. Ümit will sich an Hakan orientieren, dem älteren Bruder, doch der lässt auf sich warten. Der Tod seines Vaters verändert alles, er erfährt Dinge, über die vorher nie gesprochen wurde. Seine Mutter versteht Kurdisch, antwortet sogar in der fremden Sprache – was bedeutet das für die Kinder? Ümit ist auf der Suche nach seiner Identität, findet weder sich noch seine Tränen.
Ümits Geschichte hat etwas in mir ausgelöst: Sie hat mich wütend und traurig gemacht. Was fällt dem Trainer ein, was denkt sich Dr. Schumann? Einerseits erscheint das Verhalten der Erwachsenen unvorstellbar – und andererseits leider nicht. Die Handlung spielt 1999 – und selbst heute würden manche Menschen den empfindsamen Jungen nicht so annehmen, wie er ist, würden ihn nicht herausfinden lassen, was er fühlt, was er machen will mit seinen Emotionen. Ümits Gedanken, seine Überforderung und Unsicherheiten haben mich gekriegt. Ich fand seinen Part gelungen, auch wenn die weiblichen Charaktere härter für sich einstehen und kämpfen, ihnen mehr Stärke verliehen wurde. Er ist ein Jugendlicher, der sich verloren fühlt – und das bringt er authentisch rüber.
Sevda
Sevda war zwölf, als ihr Vater ihre Mutter nach Deutschland holte – und sie bei ihren Großeltern in dem türkischen Dorf zurückließ. Erst kurz vor ihrem 15. Geburtstag kam sie nach. Vieles wurde über ihren Kopf hinweg entschieden, auch wenn sie sich kleine Siege erkämpfte. Sie heiratete, landete im fiktiven Salzhagen in Niedersachsen, wurde zweifache Mutter. Doch Sevda wollte schon immer mehr: Sie wollte Geschäftsfrau werden. Und den Traum hat sie sich erfüllt.
Sevdas Story hat mich beeindruckt. Sie rebellierte gegen das, was von ihr erwartet wurde, kämpfte – gegen unsichtbare Gefahren, die Sorgen ihrer Verwandten und die einer nicht wertgeschätzten Frau. Sie will nicht die Fehler ihrer Mutter wiederholen. Ihr Wunsch, ihre Kinder zu Erwachsenen zu machen, die gebraucht und nicht hinterfragt werden, ist vor ihrem Hintergrund nachvollziehbar, entschuldigt ihre teils knallharten und schonungslos ehrlichen Gedanken. Ich habe ihr Kapitel gerne verfolgt. Ihr Auftritt in Emines Teil zeigt ihre Stärke, unterstreicht aber auch das, was wir in Bezug auf ihren Ex Ihsan gesehen haben: Sie hat ein großes Herz. Sie will – wie alle anderen – nur alles richtig machen.
Perihan
Peri weiß, dass Ümit etwas verschweigt. Sie will ihn nicht drängen, schließlich hat sie ebenfalls ein Geheimnis vor ihm und allen anderen.
Bereits in Ümits Part deutet sich an, dass Perihan etwas verbirgt, das ihr in Frankfurt, wo sie seit fünf Jahren studiert, passierte. Ich war gespannt, zu erfahren, was dahintersteckt. Tatsächlich haben mir an ihrem Kapitel andere Inhalte besser gefallen als die eigentliche Offenlegung: Die Annäherung mit Ümit, das vorsichtige Herantasten. Was kann er sie fragen? Wie viel wird sie ihm sagen? Und wie wird er im Gegenzug reagieren? Die Autorin bringt die Situation feinfühlig rüber.
Auch Perihans Versuche, ihrer Mutter andere Wege aufzuzeigen, fand ich gelungen.
Dass Peris Begegnung später eine Bedeutung bekommen würde, war mir klar. Immer wieder nehmen wir Puzzleteile aus den einzelnen Erzählungen mit, ehe sich am Ende das ganze Bild der Familie zeigt.
Hakan
Der ältere der beiden Söhne handelt mit gebrauchten Autos. Er wohnt heimlich mit Lena zusammen, einer guten Seele, die ihm Halt gibt. Hakan hat gelernt, sich anzupassen, obwohl er innerlich unangepasst ist. Er schauspielert, präsentiert die Version von sich, die sein Gegenüber braucht oder erwartet.
Die Autorin hat versucht, ihren Charakteren eigene Stimmen zu geben. Hakans fällt durch ihre vulgäre Ausdrucksweise besonders auf. Ich lese Texte dieser Art nicht gerne, hier ist es für mich okay, weil es passend erscheint. Dass jede Figur anders klingt, ist eine Stärke des Buches.
Hakans Kapitel hat mich nicht umgehauen, aber die Autorin konnte Themen unterbringen, die in den anderen Teilen keinen Platz gefunden hätten.
Die Einblicke in die Leben der Protagonistinnen sind meiner Meinung nach interessanter und stärker.
Emine
Ist Emine depressiv? Perihan stellt die 50-Jährige, die gelernt hat, nicht zu widersprechen, so dar. Doch was geht in ihr vor? Warum ist sie, wie sie ist, wieso handelt sie in „Dschinns“, wie sie es tut?
Emine ist in jungen Jahren etwas geschehen, das mir unbegreiflich ist, und das beweist, wie fremdbestimmt und festgefahren ihre Denkweisen schon immer waren. Ich fand es schlimm, ihre Geschichte zu lesen, zu erfahren, was man ihr angetan hat. Zwar hat mich „Dschinns“ nie zu Tränen gerührt, aber es war schmerzhaft, ihre Erlebnisse zu verfolgen. Man würde es gerne ändern, rückgängig machen.
Nach und nach versteht man, weshalb ihr der Umgang mit Sevda schwerfällt, welche unausgesprochenen Gefühle in die Beziehung hineinspielen. Die Auseinandersetzung am Ende hat mich bewegt, die Konfrontation kommt glaubhaft rüber und stellt eine der kraftvollsten Szenen des Romans dar.
Aufbau/Stil
Fatma Aydemir hat nicht nur viele kluge Einfälle in Sätze verpackt, nein, sie hat bewiesen, wie gut sie mit Wörtern umgehen kann. „Dschinns“ bietet ein mitreißendes und intensives Leseerlebnis, die Stimmungen kommen an. Mit der Zeit wird jedes Gefühl und jeder Konflikt nachvollziehbar, all die harten und ehrlichen, ungefilterten Gedanken werden verständlich.
Wir lernen die Charaktere und das, was sie beschäftigt, neben der Handlung rund um Hüseyins Tod im Jahre 1999 kennen. Es fühlt sich natürlich an, ich hatte nicht den Eindruck, unnötige Rückblicke oder ermüdende Innenschauen zu lesen. Der Autorin ist ein tolles Verhältnis geglückt, sie hat gekonnt das Hier und Jetzt, die Gefühlswelten und Vergangenes verbunden.
Hüseyins Lebenstraum, die Eigentumswohnung in der Türkei, wird zur Trauerwohnung. Der Roman beginnt und endet hier, wird zum Treffpunkt all der unausgesprochenen Gedanken und Gefühle, die unter der Oberfläche brodeln. Die aufgeladene Atmosphäre ist spürbar, die eine oder andere Aussprache unausweichlich. Das durch den Tod erzwungene kurzfristige Treffen in der kleinen Wohnung ist die Einengung, die die Beteiligten brauchen, um Teile ihrer lange verdrängten Emotionen aus ihrem inneren Gefängnis zu entlassen.
Fazit
Ein realistisches und schonungsloses Buch über die Suche nach sich selbst, Liebe und Akzeptanz. Die gewählten Perspektiven sind ungewöhnlich und interessant, der Roman hält ein intensives Leseerlebnis bereit. Es gibt Klischees und das Ganze ist etwas überladen, insgesamt ist „Dschinns“ aber ein mitreißender und lesenswerter Titel von der Longlist für den Deutschen Buchpreises 2022.
4/5!
368 Seiten / ISBN: 978-3-446-26914-9
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