Inhalt
Als Andreas Egger 1902 in das österreichische Bergdorf kommt, ist er vier Jahre alt. Ungefähr. Bauer Hubert Kranzstocker, der Schwager seiner Mutter, nimmt ihn auf, widerwillig und lieblos. Nur kurz verlässt er den Ort, verbringt größtenteils hier sein einsames Dasein. „Ein ganzes Leben“ schildert das, was der Titel verspricht: Eggers Geschichte. Diese ist zwar alles andere als lückenlos, aber abgeschlossen.
Ein untypischer Protagonist?
Die meisten Hauptfiguren, die uns präsentiert werden, sind auffällig. Sie sind leidenschaftlich, lehnen sich auf. Sie sind mutig, erleben etwas Außergewöhnliches. Egger ist nicht so, er ist kein Kämpfer – und er ist es doch.
Egger ist ein unauffälliger Charakter, grundanständig. Durch sein Hinken macht er noch am ehesten auf sich aufmerksam – ungewollt. Dennoch funktioniert er als Protagonist. Ich mochte ihn. Warum?
Er ist authentisch. Er nimmt sein Schicksal an. Weder sucht er nach Schuldigen, noch trägt er überhaupt Wut in sich. Er drängt sich nicht auf, nicht den Menschen im Buch, nicht den Leser:innen. Er ist jemand, den man schnell übersieht, einer, von dem man denkt, er würde alles hinnehmen – und das tut er. Einerseits. Andererseits kämpft er. Er widersetzt sich Kranzstocker, als er es kann. Nicht laut, sondern auf seine Art. Er bemüht sich um Arbeit, um Marie, um seinen Platz im Leben. Er zeigt Initiative, wenn es darauf ankommt, zaghaft – und effektiv.
Er könnte sich als Verlierer fühlen, denn ihm wird vieles genommen: seine Mutter, seine Kindheit, sein Heim, seine große Liebe. Er könnte sich als Opfer sehen: als Opfer von Bauer Hubert Kranzstocker, der Umstände, der Natur, des Lebens. Aber er tut es nicht. Er ist genügsam, bleibt sich treu, egal, was die anderen von ihm denken.
"Narben sind wie Jahre, meinte er, da kommt eines zum anderen und alles zusammen macht erst einen Menschen aus."
(eBook S. 19/82)
Dass er ein Leben wie seines rückblickend als ein gutes bezeichnen kann, schockiert. Und dass ich ihm diese Bewertung abnehme, ist beeindruckend.
Auf den ersten Blick überrascht es, dass Egger eine gelungene Hauptfigur ist, auf den zweiten nicht.
Unaufgeregt
„Ein ganzes Leben“ ist ein langsames und ruhiges Buch, das wenig spannend, aber sehr eindrücklich daherkommt. Und das passt zu Egger und seiner Art.
Auf 160 Seiten werden Kindheitserlebnisse, Todesfälle, die Liebe, Naturgewalten und Verluste behandelt. Das ganze entbehrungsreiche Leben von Egger findet Platz. Entsprechend viel wurde ausgelassen. Der Autor schafft es, sich auf das Wichtigste zu konzentrieren – und das in präzise Sätze zu packen. Es artet nichts aus, es ufert nichts aus in diesem Werk.
Obwohl der Roman in den Bergen spielt und der Protagonist sich hier verwurzelt fühlt, ist es keine Geschichte, die sich in Naturbeschreibungen und -schwärmereien verliert. Allgemein ist der Schreibstil distanziert, von großen Emotionen liest man wenig, sie kommen höchstens auf, wenn man über Eggers Schicksal nachdenkt. Mich hat das Buch während des Lesens nicht tief berührt, ich habe es eher unbeeindruckt verfolgt. Hinterher sah das Ganze anders aus. Ich bin ein Fan der vollen Gefühls-Dröhnung, auch wenn ich den zurückgenommenen Stil hier passend finde. Hätte ich mich nach Beenden nicht noch einmal intensiv mit dem Gelesenen auseinandergesetzt, hätte mir einiges gefehlt.
Fazit
„Ein ganzes Leben“ ist für alle, die ruhige Romane mögen, die sich auf das Wichtigste beschränken. Eine einfache Geschichte, schlicht erzählt, schnell gelesen – und hinterher liegt sie schwer im Herzen.
3/5!
160 Seiten / ISBN: 978-3-446-24645-4