Ein klarer Tag – Carys Davies

Ein klarer Tag - Carys Davies

„Ein klarer Tag“ ist eine – für mich – komplett überraschende Geschichte über einen presbyterianischen Prediger, seine empathische Frau und einen einsamen Inselbewohner.
Ruhig, fesselnd, unvorhersehbar.
Ich habe die allergrößte Lust, mehr von Carys Davies zu lesen!

4.5/5

Werbung, da Rezensionsexemplar

Inhalt

Reverend John Ferguson hat sich der schottischen Freikirche angeschlossen. Aus Geldnot nimmt er den Auftrag an, den einzig verbliebenen Bewohner von einer vierhundert Meilen entfernten Insel zu holen, auf der 1.500 Schafe angesiedelt werden sollen. Die bezahlte Reise und der als schwachsinnig geltende Einsiedler werden Ferguson mehr abverlangen als die Überwindung sprachlicher Barrieren – und sein Leben verändern.

Eine behutsame Annäherung

„Ein klarer Tag“ beginnt damit, dass wir Johns Reise verfolgen. Zunächst wissen wir nur, dass er auf die Insel muss, um mit Ivar zu reden, aber nicht warum und worüber. Immer wieder gibt es Andeutungen, kleine Geheimnisse, die erst im Verlauf gelüftet werden.

Es ist ein Herumschleichen um die Charaktere, wir lernen sie gemächlich kennen, jeden einzeln, ohne dass uns klar ist, worauf alles hinausläuft. Abwechselnd schauen wir auf das, was Ivar macht, der so einsam ist, dass er es nicht einmal merkt, und lesen, wie John ankommt – und verunglückt; ein Ereignis, das ich nicht erwartet habe – es sollte nicht das einzige bleiben.

Inklusive Plot-Twist

Ich weiß in etwa, um was es geht in „Ein klarer Tag“, dachte ich, sehe alles vor mir, samt Botschaft und so weiter.

Ich wusste gar nichts. 

Gegen Ende bewegt sich die Geschichte in eine Richtung, die ich nicht einmal in Betracht gezogen habe. Der Teil verwirrte mich, ich saß staunend da. Echt jetzt? Wo kommt das plötzlich her? Im Nachhinein fallen mir Sätze ein, die ich ernster hätte nehmen sollen. Da sie mich nur kurz und sanft stutzen ließen, überlas ich sie quasi – und so überrumpelte mich das Ganze. Schlimm fand ich das nicht, vielmehr interessant. Die Entwicklungen machten umso gespannter auf den Ausgang. Und der setzt tatsächlich noch einen drauf.

Ein mutiges Ende

Wenn man dem Buch eines nicht vorwerfen kann, dann ist es Vorhersehbarkeit.
Ich hatte Möglichkeiten vor Augen. Keine davon trat ein. Das muss nicht negativ sein, Überraschungen sind (zumindest in Geschichten) etwas, das ich sehr schätze. Allerdings musste ich mich mit dem Ausgang anfreunden.

Für mich sah es so aus, als hätte die Autorin den einfachen Weg eingeschlagen, indem sie „Ein klarer Tag“ auf diese Weise enden lässt. In Schreibratgebern heißt es: Schick deine Figuren durch die Hölle, mach sie fertig, pack das Mitleid weg. Hätte sich Carys Davies daran gehalten, hätten wir etwas anderes gelesen über John Ferguson. Über Ivar. Etwas Abschließendes. Oder? Stattdessen haben wir hier ein Ende, das unerwartet, entweder als offen oder jedenfalls vorläufig zu betrachten ist. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto passender erscheint es mir. Denn dies ist Johns Geschichte. Es ist Ivars. Und Marys!

Eine starke Frau

Es beginnt mit dem Trip, den der seekranke Ferguson, der nicht schwimmen kann, unternimmt. Es ist seine Reise – und es ist Marys. Als seine Ehefrau steckt sie mit drin.

Mary ist eine clevere Frau, die die Contenance wahrt. Obwohl sie gegen die Aktion ist, lässt sie ihren Mann ziehen. Doch sie ist auch entschlossen: Als sie den Auftrag nicht mehr nur für eine schlechte, sondern gefährliche Idee hält, begibt sie sich an Bord der „Laura“. Sie tritt ebenfalls eine Reise an, an deren Ziel sie etwas anderes vorfindet als befürchtet.

Es ist Mary, die sagt:

"Ob eine Entscheidung richtig war, konnte man vorher nie wissen. Man konnte nur versuchen, sich die Zukunft vorzustellen, und anhand dieser Vorstellung musste man in schwierigen Situationen wählen. Und wenn man kein Bild von der Zukunft hatte - tja, selbst in dem Fall kam man um eine Entscheidung nicht herum."

Sie trifft eine Entscheidung. Und sorgt für das Ende, das vielleicht (auf den ersten Blick?) nicht jeden Geschmack treffen wird, aber doch von der Stärke zeugt, die sie in sich trägt. Sie steuert damit, wie auch die anderen, ihren Teil zum (vor allem im Original so vieldeutigen) Titel bei, denn sie ist eine Frau mit Durchblick – und egal, ob sie an diesem Tag die Auswirkungen klar vor sich sieht oder nicht, sie muss etwas tun. Und sie tut es. Beherzt und gütig. Ich jedenfalls bin versöhnt mit Davies letzten Zeilen.

Unterhaltsam

Ich mochte die Herangehensweise der Autorin sehr. Die Kapitel sind von Anbeginn an kurz, werden in spannenden Situationen noch knapper. Plötzlich fällt der Begriff „Pistole“ und wir horchen auf, die Erklärung dazu folgt zu einem anderen Zeitpunkt – und viel später kommt sie zum Einsatz.
Davies legt Wert darauf, dass wir die Dinge verstehen, indem wir die Geschichte dahinter erfahren. Als John das Bild von Mary verliert, lesen wir, wie es entstanden ist und können problemlos nachvollziehen, welche Bedeutung es für ihn hat. Auch wie Ivar reagiert, ist berührend und nicht befremdlich, weil wir wissen, wie er in den letzten Jahren lebte: ohne Mitmenschen. Das ist gut gemacht, ebenso die Tatsache, dass es später in einen Konflikt eingebunden wird. Alles wirkt gut überlegt, integriert und ausgenutzt.

„Ein klarer Tag“ beginnt und endet mit einer Reise – und für die drei Charaktere geht sie weiter. Alle machen eine Entwicklung durch, Reverend John Ferguson etwa, indem er hinterfragt, was wirklich Gottes Wille ist und was nicht. Das ist das Leben, oder? Man weiß nie, wie sich ein Plan entwickelt, ein Projekt ausgeht. Insofern sind wir wieder bei dem doch stimmigen Ende.

Die Schrift ist groß, der Roman locker innerhalb eines Sonntags ausgelesen. Ich fühlte mich zu jedem Zeitpunkt gut unterhalten. Einerseits ist es eine ruhige Geschichte, andererseits ist sie packend erzählt, hält Geheimnisse und Überraschungen bereit. Ich habe die allergrößte Lust, mehr von Carys Davies lesen.

Ein (Wort-) Schatz

Es ist nicht nur, dass die Autorin mit Wörtern umgehen kann, denn ihr knapper Stil begeistert. Sie baut die Faszination auch in die Geschichte ein.

Ferguson und Ivar können schwerlich miteinander sprechen, kommunizieren und verständigen sich dennoch, finden eine Ebene, ihren eigenen Mischmasch aus Gesten, Sprache, Emotionen. John fängt an, einzelne Wörter des Inselbewohners zu lernen und festzuhalten. Dies könnten wir in einem einfachen, eher unbedeutenden Satz erfahren, aber so ist es nicht bei Davies. Alles hat ein Gewicht. Und deshalb schreibt er sie hier auf:

"Doch jene Wörter, bei denen er sich sicher war, schrieb er so, wie er sie hörte, mit Bleistift auf die fleckigen, meergewaschenen Seiten, auf denen früher sein Evangelium, die Rede des Schulmeisters und Lowries Räumungsbefehl gestanden hatten."

Unüberlesbare Veränderungen.

Dabei gibt es besondere Wörter wie diese:

"Es gab zum Beispiel eines für den Zustand eines Wollknäuels, das noch nicht aufgewickelt ist; für den Ursprung in der Mitte, um den das restliche Garn sich windet. Liki. Wenn es noch nicht das ist, was es am Ende sein wird."

Die vielen verschiedenen Wörter der nordgermanischen Sprache für das, was Ferguson nur als „raue See“, „Wolken“, „Wind“, „Nebel“ oder „Dunst“ bezeichnen kann, sind faszinierend. Da ist immer mehr, als man denkt. Schau noch einmal hin. Ich habe gerne darüber gelesen. Vermag der Text gar ein wenig den Blick auf die Welt zu verändern? Hätte dieses oder jenes nicht einen eigenen Namen verdient?

Wahre Hintergründe

Am Ende des Buches finden sich die „Anmerkungen der Autorin“. Wie Carys Davies verrät, spielt die Geschichte 1843 zur Zeit der Disruption, der Abspaltung der Free Church of Scotland von der Church of Scotland. Auch Johns Auftrag beruht auf wahren Begebenheiten: Räumungen dieser Art gab es im Zuge der „Highland Clearances“ zum Vorteil der Schafzucht tatsächlich. Und Ivars Sprache ist an eine angelehnt, die es einmal gab: Norn.

Fazit

„Ein klarer Tag“ ist eine – für mich – komplett überraschende Geschichte über Einsamkeit und Verbundenheit, einen presbyterianischen Prediger, der sich der Freikirche anschließt und aus Geldnot den Auftrag annimmt, einen Mann von einer Insel zu schmeißen. Eine Reise, die das Leben aller verändert. Ruhig, aber fesselnd und unvorhersehbar. Mit einigem, über das es sich nachzudenken lohnt.

Ein klarer Tag - Carys Davies

Ein klarer Tag – Carys Davies

Originaltitel: CLEAR (2024)

Übersetzung: Eva Bonné

Verlag: Luchterhand, Penguin Random House

Erschienen: 14.08.2024

Seiten: 224

ISBN: 978-3-630-87770-9

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Deine Meinung

5 Antworten

  1. Hallo liebe Jessica,
    ich finde, du hast hier sehr gut geschildert, was an diesem Buch zu überraschen und was dich zu begeistern wusste.

    Du hast mich mit deinen Worten unglaublich neugierig machen können.

    Was offene Enden betrifft, so muss ich sagen, dass ich diese manchmal sogar sehr gerne mag. Es kommt auf die Geschichte an. Mal funktioniert es, mal weniger. In den besten Fällen empfand ich diese Geschichten mit offenem Ende als realistischer, wie das Leben selbst, das eben auch nie einen Punkt schreibt sondern mit sehr vielen Kommas klarkommen muss.

    Sehr überzeugt hast du mich auch mit deinen Worten betreffend der vielen überraschenden Wendungen. Ich weiß eine unvorhersehbare Geschichte sehr zu schätzen.

    Ich danke dir für diesen wirklich informativen Einblick.

    Liebe Grüße
    Tanja

    1. Liebe Tanja,

      danke für deinen Kommentar.

      Ich habe offene Enden jahrelang gehasst. Inzwischen bin ich – meist – okay damit. Manchmal passt es wirklich gut. Und es stimmt, dass sie realistischer sind. Du schreibst: „(…) wie das Leben selbst, das eben auch nie einen Punkt schreibt sondern mit sehr vielen Kommas klarkommen muss.“ – Ja! Das hast du schön und treffend gesagt. :)

      Liebe Grüße

  2. Guten Morgen Jessica

    Deine Art Rezis zu schreiben ✍️ gefällt mir unglaublich gut. Bei diesem Buch hast du mich dazu gebracht, dass ich es nun unbedingt lesen will. Ich erstelle mir gerade einen Adventskalender. Da bekommt es ein Türchen. Mein Mann packt ein und nummeriert.

    Ich wünsche dir eine gute Woche.

    1. Liebe Gisela,

      vielen Dank für deinen Kommentar. :)

      Ich bin gespannt, wie es dir gefällt. Mir hat der Aufbau sehr gefallen, das Feinfühlige und – nach einigem Nachdenken – auch das Ende.

      Wie schön, dass du so einen tollen Adventskalender kriegst. Da freut man sich doch direkt auf die kalte Jahreszeit (okay, mache ich eh).

      Viele Grüße

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