Inhalt
In „Ein wenig Leben“ begleiten wir vier Männer, die eine lebenslange Verbindung zueinander haben. Einer sticht heraus, obwohl es das ist, was er nicht will: Jude St. Francis. Er spricht nicht über seine Vergangenheit, macht ein Geheimnis daraus. Was verbirgt er? Warum fällt es ihm so schwer, sich seinen Freunden anzuvertrauen? Was hat er erlebt?
Die Protagonisten
Zu Beginn des Buches sind die Hauptfiguren in ihren Zwanzigern: Jude St. Francis, Willem Ragnarsson, Malcolm Irvine und Jean-Baptiste Marion, genannt JB, vier junge Männer in New York, die das Leben noch vor sich haben. Nach und nach erfahren wir mehr von ihnen, lernen sie kennen.
Jude St. Francis
Jude St. Francis ist im Kloster aufgewachsen. Er wurde als Baby gefunden, hat keinerlei Erinnerung an seine Eltern. Seine Kindheit war ein Alptraum, den er nicht abschütteln kann. Und doch sind da diese drei Freunde, die ihm etwas bedeuten, die ihn so akzeptieren, wie er ist, mit all seinen Geheimnissen.
Jude leidet unter Schmerzanfällen, wird immer wieder aus der Bahn geworfen. Mich hat das fertiggemacht. Er hat viel Traumatisches erlebt in den ersten 15 Jahren seines Lebens – und kommt auch danach nie zur Ruhe. Ich habe mit ihm gelitten.
Willem Ragnarsson
Willem ist der Sohn eines Rancharbeiters. Drei seiner Geschwister starben in ihrer Kindheit. Das Verhältnis zu seinem Bruder Hemming hat mein Herz berührt.
Willem ist ein guter Freund, der sein Wort hält. Seine Gedanken und sein Verhalten Jude gegenüber haben mich gekriegt. Ich mochte diesen bescheidenen und warmherzigen Menschen.
Malcolm Irvine
Malcolm fühlt sich benachteiligt, sein Vater scheint Malcolms Schwester Flora stets den Vorzug zu geben. Häuser faszinieren ihn, sie sind das, womit er sich auskennt, denn ansonsten hängt vieles in der Schwebe: Er kennt seine sexuelle Orientierung nicht, will seine Eltern stolz machen und sich gleichzeitig von ihnen lösen, ohne dass eines der beiden Vorhaben gelingt.
Malcolm ist großzügig, hat durch seine Familie die finanziellen Möglichkeiten dazu. Von der Clique fand ich ihn zunächst am uninteressantesten, aber ich erkannte sein gutes Herz und die Mühe, die er sich gibt, um es allen recht zu machen.
JB Marion
JB ist Künstler. Sein Vater starb, als JB drei war, seine Großmutter Yvette, seine Mutter, seine Tante und deren Freundin, alle haben ihn aufgefangen und angehimmelt, ihm ihren Glauben geschenkt, ihn bestärkt. So ist er trotz allem zu einem kleinen König herangewachsen. Er scheint von sich überzeugt zu sein, neigt zu theatralischem Verhalten.
JB ist eine komplexe Person, die nicht hätte fehlen dürfen. Er liebt und braucht die Aufmerksamkeit, ist abhängig von ihr – und gerät dadurch in die eine oder andere Schwierigkeit. Ich fand es gut, dass er ein Teil der Geschichte ist.
Weitere Figuren
Nicht nur die Protagonisten überzeugen, auch die anderen Charaktere erscheinen real. Insbesondere Harold hat mir gefallen. Gegen Ende hat mich beispielsweise die Szene mit dem Sandwich Tränen gekostet, als Jude die Beherrschung verliert – und Harold und Julia reagieren, wie sie reagieren. Sie haben nicht nur Judes Herz berührt, sondern auch meins.
Dr. Andy Contractor hat ebenfalls etwas mit mir gemacht. Ich konnte seine Zerrissenheit nachvollziehen.
Einzig Caleb hat mir – nicht nur wegen seines Verhaltens – nicht gefallen. Ich habe mich ab einem gewissen Zeitpunkt gefragt, ob die Geschichte durch ihn Glaubwürdigkeit einbüßen, ob sie mich verlieren würde. Ich war froh, als er sich aus dem Fokus scherte.
Ein schonungsloses Buch
Es ist nicht so, dass ich das noch nie geschrieben hätte: Dies ist ein schonungsloses Buch. Es gibt einige, die ich in diese Kategorie einordne. Aber bei „Ein wenig Leben“ sollte man sich den Satz in Großbuchstaben denken.
Der Roman ist hart. Ich hatte teilweise Schwierigkeiten, weiterzulesen. Einerseits ist der Stil der Autorin herausragend, andererseits ist die Story düster und schmerzhaft, sie ist herzzerreißend. Es gibt Lichtblicke, aber größtenteils hatte ich das Gefühl, es wird mit jeder Seite schlimmer. Ich fragte mich, wo und wie die Geschichte enden würde – und auch wenn ich nicht alles kommen sah, war mir der Grundablauf klar. Es schien unausweichlich. Und das machte es nur noch schrecklicher.
Ich möchte nicht vorgreifen, aber es ist ein deprimierendes Buch. Es zeigt die dunkle Seite, es wird am Ende nichts schöngefärbt. Darauf sollte man eingestellt sein.
Beim Lesen kommen Fragen auf: Wie weit geht die Verantwortung, die die Freunde, die Harold, die Andy als Arzt gegenüber Jude tragen? Tun sie genug? Machen sie zu viel? Sie wissen oft nicht weiter, fühlen sich hilflos – und ich habe ihre Gefühle geteilt. Gleichzeitig kommt man zum Nachdenken, denn: Was würde man selbst tun?
Lang
Ich habe gefühlt ewig gebraucht, um „Ein wenig Leben“ zu beenden – und zwar nicht nur, weil das Buch 960 Seiten hat. Ich hatte immer wieder Probleme damit, weiterzulesen. Wenn ich mich aufgerafft habe, fiel es mir schwer, einen Ausstieg zu finden, aber der Weg dahin war manchmal lang. Ab und zu habe ich gedacht, ich wäre außerstande, den Roman zu bewältigen. Er brauchte meine volle Aufmerksamkeit, weil ich während des Lesens so viel gefühlt habe, so viel ertragen musste. Man muss ihn ernsthaft lesen wollen, sonst kommt man nicht durch.
Trotzdem ist der Umfang meiner Meinung nach gerechtfertigt. Nur durch die Tatsache, dass wir die vier Protagonisten über diesen Zeitraum begleiten, ist es möglich, ihnen derart nahezukommen – und das macht – für mich – das Werk aus.
Stil
Ich mochte Hanya Yanagiharas Schreibstil. Der Text liest sich absolut flüssig, ich bin, sobald ich das Buch zur Hand genommen habe, ungebremst durch die Seiten gerauscht. Sie schafft es, Dinge, die andere in einen einzigen Satz packen, über Absätze zu strecken, ohne dass ein Wort überflüssig erscheint. Es gibt viele Details, das Geschriebene wirkt aber nicht überladen. Wenn „Ein wenig Leben“ fröhlicher/leichter wäre, würde ich sagen: Der Schreibstil macht Spaß ohne Ende.
Mir hat gefallen, dass nicht sofort alles preisgegeben wird. Anfangs wird beiläufig erwähnt, dass Jude Probleme mit der Treppe hat, und ich dachte: Wieso? Was ist da los? Es folgen weitere Andeutungen, ehe es später eine Annäherung an die Wahrheit gibt – und schließlich die ganze Geschichte.
Auch die Vorwegnahmen, die mich gespannt weiterlesen ließen, werden gekonnt eingesetzt, ebenso die verschiedenen Perspektiven.
Fazit
„Ein wenig Leben“ ist ein Buch voller Schmerz, für das man Zeit braucht. Und es ist eines, über das ich hinwegkommen muss. Ich bereue nicht, es gelesen zu haben; ich mag Bücher, die etwas auslösen, die ich fühlen kann. Aber der Roman ging mir echt nahe.
4,5/5!
Ein überwältigender Roman:
960 Seiten / ISBN: 978-3-446-25471-8 / Originaltitel: A Little Life / Übersetzung: Stephan Kleiner