Ein Verkehrsunfall, drei Kinder, die gerettet werden – und doch gefangen bleiben.
„Kerbholz“ von Carl Nixon ist ein harter Roman, den man aushalten wollen muss.
Inhalt
Da John eine neue Stelle in Wellington gefunden hat, machen sich die Chamberlains daran, von London nach Neuseeland zu ziehen – doch die Familie kommt mit dem Auto von der regennassen Fahrbahn ab und stürzt die Klippen hinab. Der Vater stirbt, die Mutter war nicht angeschnallt, auch Baby Emma überlebt den Unfall nicht – und so sind die drei Kinder Maurice, Katherine und Tommy, 14, 12 und 7, in einem fremden Land auf sich gestellt. Teils schwer verletzt, gelingt es ihnen nicht, einen Weg zur Straße zu finden. Zwei Tage später werden sie endlich entdeckt – doch die Rettung wird zur Gefangenschaft.
Damals und heute
Die Familie stürzt am 04. April 1978 ab. Wir verfolgen den Unfall und die „Rettung“, spüren sofort, dass hier etwas wartet, das nicht dem Erhofften entspricht.
"Jeder Ort, den sie erreichten, schien erst durch ihre Ankunft ins Leben gerufen zu werden. Und sobald sie weitergingen, war dieser Teil des Waldes auch schon wieder aus der Welt verschwunden.
Nein, sie würde niemals allein zurückfinden, nicht in hundert Jahren."eBook, Kap. 9, 29,5 %
Wir lesen über das Leben, das die Geschwister fortan im Hinterland ohne Strom bei Martha und Peters führen (müssen). Darüber hinaus gibt es einen zweiten Strang, der die Story noch interessanter macht:
Die Tante der drei, Suzanne, hat lange nach der verschollenen Familie ihrer Schwester Julia gesucht, sogar ihre Ehe aufs Spiel gesetzt, weil sie nicht aufhören konnte, in Neuseeland nach Spuren zu suchen. Nun, 32 Jahre später, erhält sie die Nachricht, dass die sterblichen Überreste von Maurice gefunden wurden. Das Brisante: Er ist nicht bei dem Verkehrsunfall gestorben. Was bedeutet das? Lebt gar noch ein anderes Familienmitglied?
Im ersten Kapitel befinden wir uns im Jahr 1978, im zweiten springen wir in den November 2010. Es gibt etliche Zeitsprünge, was schnell verwirrend werden kann. Dies ist hier nicht der Fall. Die Sprünge sind so gut gemacht, dass man zu keinem Zeitpunkt durcheinanderkommt, die Struktur fesselt, weil man immer neue Bröckchen erhält und es auf allen Ebenen interessant bleibt.
Es geht um Schuld
Fangen wir vorne an:
John Chamberlain fühlt sich schuldig, weil er zu viel gearbeitet, seine Frau hintergangen und die Familie in dieses Land gebracht hat. Das Thema zieht sich durch das gesamte Buch.
Suzanne hat das Gefühl, es ihrer Schwester und deren Familie schuldig zu sein, nicht aufzugeben, weiterzusuchen, auch wenn ihr Ehemann William dagegen ist und sie ihre eigenen Söhne zurücklässt.
Maurice ist gezwungen, etwas Schlimmes zu tun, wenn er frei sein will, eine Schuld, die er mit sich herumschleppt.
Am stärksten trifft es auf Katherine zu.
Martha bringt das Thema durch das titelgebende Kerbholz ins Spiel, indem sie Katherine eine Schuld einredet, um sie zum freiwilligen Bleiben zu bewegen. Die Wirkung auf das Mädchen ist enorm, wie sich auch im Verlauf lesen lässt, etwa in der Szene um Sean Mulligan (S. 250, 80,6 %). Es ist erschreckend, wie ihre Erfahrungen ihr eine völlig falsche Vorstellung von Schuld gegeben haben. Es schmerzt, wenn sie auf S. 283, 90,8 %, jemanden zu Unrecht entlastet, weil sie es tatsächlich nicht (mehr) besser weiß.
Ich mochte, wie Carl Nixon dieses Motto innerhalb der Story umgesetzt hat.
Und es geht um Familie
Das zweite Kernthema des Buches ist die Familie. Eine zerbricht – die Kinder bleiben allein zurück. Eine andere hätte entstehen können, wenn sie nicht von Martha und Peters gefunden worden wären, oder? Sie hätten zu Tante Suzanne gehen oder es hätte alles ganz anders kommen können. Ein Neuanfang. Doch indem Maurice an den brutalen Peters gerät, entsteht nichts Gutes für ihn.
Bei Katherine gestaltet sich die Sache komplizierter. Sie verbringt die Zeit im und um das Haus herum mit Martha, die eine komplexe Figur mit besseren und schlechteren Seiten ist. Obwohl auch sie ihren eigenen Vorteil nie aus den Augen verliert, gelingt es ihr, das Mädchen emotional an sich zu binden. Wir stempeln sie nicht so leicht als Bösewicht ab wie den Mann mit den Dreadlocks.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Martha eine Tochter zu haben scheint, zu der allerdings kein regelmäßiger Kontakt besteht.
Auch der Verbindung zwischen Martha und Peters fehlt das stabile Fundament.
Suzanne hat ebenfalls Entscheidungen zu Lasten ihrer eigenen Familie getroffen, um eine andere zu retten.
Familie ist eine Frage des glücklichen Zufalls, oder? Man wird meistens in eine hineingeboren. Und es kann immer irgendwie eine entstehen. Aber ob das etwas Gutes ist, hängt davon ab, was die Betroffenen im Sinn haben. Denn wenn man eine Person von sich abhängig macht (erneut das Thema Schuld), ist das letztlich für beide ein sehr fragiles und fragwürdiges Konstrukt.
Was ist Familie? Und was nicht?
Auch dieses Thema, das sich so gut mit dem ersten verbinden lässt, hat Nixon geschickt über die Figuren und Seiten verteilt. Das Buch regt durchaus zum Nachdenken an.
Aufbau/Stil
Der Roman besteht aus vier Teilen und 36 Kapiteln.
Die Figuren sind gelungen.
Für mich ist Katherine die Protagonistin des Buches. Sie ist diejenige, die nach dem Unfall die Führung übernehmen muss, sodass sie häufig im Fokus steht. Auch die Tatsache, dass sich der Autor dafür entschieden hat, ihre Entwicklung durch unterschiedliche Namen zu kennzeichnen, zeigt, dass er sich viele Gedanken um sie gemacht hat.
Das Buch liest sich unangenehm. Es ist gut geschrieben, aber thematisch hart. Die Umgebung wird eindrucksvoll geschildert, sie und alles, was geschieht, wirkt bedrückend, düster und derb. Es gibt wenig Hoffnung. „Kerbholz“ ist eine Geschichte, die man aushalten wollen muss.
Wer am Schluss alle Fragen detailliert beantwortet haben möchte, wird mit dem Roman vermutlich nicht glücklich. Es gibt einige Lücken, die es selbst zu füllen gilt.
Fazit
„Kerbholz“ ist ein Roman, der gut aufgebaut und geschrieben, aber schwer zu ertragen ist.
Zusammenfassung Kerbholz von Carl Nixon
Dieses Buch ist für dich, wenn du
- damit klarkommst, dass den Charakteren, die noch Kinder sind, schlimme Dinge geschehen/angetan werden
- einen gut aufgebauten und geschriebenen, aber harten/groben Roman lesen willst
- es aushältst, dass nicht jede Frage geklärt wird, sodass du einzelne Lücken selbst füllen musst
Kerbholz – Carl Nixon
Originaltitel: The Tally Stick (2020)
Übersetzung: Jan Karsten
Verlag: Unionsverlag
Erschienen: 08.07.2024
Seiten: 304
ISBN: 978-3-293-71012-2
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Eine andere Rezension
Marie von Wörter auf Papier:
"Kerbholz ist ein beeindruckendes Buch, das sowohl unterhält als auch zum Nachdenken anregt und noch lange nachhallt."