Seltsame Blüten – Donal Ryan

Seltsame Blüten - Donal Ryan

„Seltsame Blüten“ von Donal Ryan ist ein berührender Roman, der mich mit seinen warmherzigen Figuren und dem außergewöhnlichen Schreibstil von Anfang bis Ende begeistert hat.

5/5

Inhalt

Als die 20-jährige Mary, genannt Moll, verschwindet, bricht für ihre Eltern eine Welt zusammen. Das einzige Kind von Kit und Paddy Gladney ist freiwillig gegangen. Aber warum? Und wohin?
Fünf Jahre später kommt sie wieder. Was hat sie erlebt? Und was hat es mit dem Mann auf sich, der nach ihr sucht?

Voller Einfühlungsvermögen

Ich nehme es vorweg: Ich habe „Seltsame Blüten“ mit den ersten Sätzen in mein Herz geschlossen. Besonders angetan hat es mir das Feingefühl, mit dem Donal Ryan seine Figuren und deren Gefühlswelt rüberbringt. Da sind der Knecht Paddy, dieser gute Mensch, ich mochte ihn so, und seine Frau Kit, die beiden, die versuchen, ihre Tochter zu finden und bis dahin ohne sie weiterzuleben. Da ist so viel Schmerz, dass das Lesen wehtut. Der stärkste Part für mich.
Dann kommt Moll wieder mit all ihren Geheimnissen – und sie stellen keine Fragen. Wie der Autor die Unsicherheit beschreibt, die Tatsache, dass niemand etwas Falsches sagen will, das fand ich großartig.

Es gibt so viele traurige Szenen – und noch mehr herzerwärmende. Da ist dieser gewaltige Berg Sanftmut in diesem Werk über Herkunft und Heimkehr. Ich liebe alles daran.

Eine Familiengeschichte

In dem Roman geht es nicht nur um Paddy und Kit, um Molly und das, was sie erlebt hat während der fünf Jahre, die sie fort war. „Seltsame Blüten“ umspannt drei Generationen – und das auf 272 Seiten voller berührender Worte über Menschen, Ungleichheit, Verlegenheit, Geheimnisse, Liebe, Familie. Verlust. Und über die Natur.

Ich möchte nichts vorwegnehmen, aber ich war ehrlich traurig, dass nicht alle Figuren lebendig das Ende des Buches erreichen. Die Charaktere, insbesondere Paddy, mein Favorit, sind großartig.

Der Schreibstil!

Fast hätte ich es in Großbuchstaben geschrieben, so begeistert hat mich Ryans Schreibstil. Für mich ist er eine der großen Stärken des Romans – und ich bin sicher, dass das nicht alle so sehen werden. Der Autor liebt lange (und ich meine: wirklich lange) Sätze, ich habe noch nie so viele „Unds“ in einem Buch gesehen. Manchmal mag ich das nicht, hier funktioniert es. Es mangelt nicht an Stellen, an die man einen Punkt setzen könnte. Donal Ryan entscheidet sich immer wieder anders – und es spricht nichts dagegen. Keiner der sich jagenden Bandwurmsätze fühlt sich sperrig an, vielmehr passt diese Art zu schreiben perfekt in diesen Roman und zu der Ausnahmesituation, in der sich die Beteiligten befinden.

"Paddy Gladney spürte jeden Tag seiner einundsechzig Lebensjahre und noch mehr: Er kam sich uralt und abgewrackt und kraftlos und tot vor, als hätten er und sein Leben keinen Sinn mehr, als wäre er ein bloßer Fleischsack voller alter Knochen und Knorpel und Muskeln, die aus der Erinnerung heraus arbeiteten und nicht aus seinem Willen; als machte es für die Welt und jedwedes Lebewesen darin keinen Unterschied, ob er lebte oder starb; als gäbe es Dutzende, Hunderte, Tausende, Millionen von Geschöpfen, die ein Rad fahren und Briefumschläge übergeben oder sie in Briefkästen werfen und morgens und abends die Ländereien abgehen und das Vieh zählen und füttern und hier und da einen Zaun flicken konnten, und wozu taugte er, wenn nicht zum Vater, und wie konnte er sich noch Vater nennen, wo doch das einzige Kind, das er gezeugt hatte, fort war, nicht mehr bei ihm, spurlos verschwunden, weggegangen, weg, weg, weg?"

Anführungszeichen gibt es nicht. Es wird ohnehin kein Wort zu viel gesagt, Dinge werden gezeigt statt ausgesprochen, bleiben geheim oder kommen durch die Geschichte innerhalb der Geschichte, die durchaus interpretiert werden kann, an die Oberfläche.

Parabel

Die Schachtelgeschichte, das schriftstellerische Ausprobieren einer der Figuren, wird nicht überall Anklang finden. Ich verstehe das, zumal der Wechsel des Protagonisten bereits eine Umstellung erfordert, auf die ich anfangs wenig Lust hatte. Als ich die Erzählung als Parabel verstanden habe, konnte ich sie trotz der Tatsache, dass sie auf den ersten Blick ausbremst, akzeptieren.

Es geht um Traditionen in dem Buch. Der Glaube spielt eine große Rolle bei den irischen Kleinstädtern, die Kapitelüberschriften (Genesis, Richter usw.) unterstreichen das ebenso wie eine Namensgebung und die oben erwähnten Schreibversuche. Ich konnte damit leben. Es ist ein ausgewogenes Bild, Molls Mutter Kit, die nicht von ihrem Rosenkranz ablassen kann, stehen einschränkende Worte von Alexanders Vater Barney gegenüber.

Der Titel findet sich ebenfalls (mehrfach) im Text wieder.
Alles wirkt aufeinander abgestimmt und durchdacht.

Überraschend

Die Geschichte, sie spielt in Knockagowny, Tipperary, Irland in den 1970ern, hält einige Überraschungen bereit und bleibt dabei bis zuletzt nachvollziehbar.

Erst am Ende wird die Wahrheit enthüllt, der Grund, weshalb Moll ihre Heimat verließ.

Die Geschichte um den Mann, der nach ihr sucht, bewegte mich in mehrerlei Hinsicht. Die Frage, ob hier große Probleme ein wenig zu einfach gelöst werden (Stichwort Rassismus) stellte sich kurzzeitig. Aber es passt zu den Figuren, dazu, wie sie sich mir zeigten. Der Rest fügt sich. Ich nehme das in diesem Fall liebend gerne so hin, kaufe dem Autor ab, was auf den Seiten steht, und glaube fest daran.

Fazit

Wunderbar. So feinfühlig. Ich hätte ewig weiterlesen können, kann mir aber vorstellen, dass manche Schwierigkeiten mit dem Schreibstil oder dem religiösen Anteil der Geschichte haben werden.

Sind alle Bücher des Autors (dies ist sein fünftes) so? So … voller Sanftmut? Ich muss das herausfinden.

Seltsame Blüten - Donal Ryan

Seltsame Blüten – Donal Ryan

Originaltitel: Strange Flowers 

Übersetzung: Anna-Nina Kroll

Verlag: Diogenes

Erschienen: 21.02.2024

Seiten: 272

ISBN: 978-3-257-07265-5

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Deine Meinung

4 Antworten

  1. Liebe Jessica,

    was für eine schöne Rezension. Besonders der zitierte Satz hat es mir angetan. Ich werde das Buch mal anlesen. Toll, ich mag das getragene dieser Worte, dieses Atemholen, wieder Luftholen, dieses Weitererzählen, weil das Leben so reich ist, dass sich alles immer wieder und neu erzählen und beschreiben lässt.

    Gruß!

    1. Danke für deinen Kommentar. Das hast du wirklich schön gesagt. :) Ich bin gespannt, was du nach dem Anlesen denkst und ob du dranbleibst oder nicht.

      Liebe Grüße

  2. Hallo Jessica, wieder habe ich eine tolle Rezension von Dir über ein Buch eines meiner Lieblingsautoren entdeckt. Donal Ryan ist wahrlich die Stimme des *jungen Irland* in der Literatur. Dagegen liest sich Anne Griffin eher flach, obwohl mir ihr Buch *Wellengang * auch gut gefallen hat. Ähnliches Thema wie Donal Ryan. Manchmal denke ich, die Verlage schauen voneinander ab und bringen ähnliche Bücher gleichzeitig auf den Markt ;-) . LG Angela

    1. Hallo Angela,

      von Anne Griffin habe ich noch nichts gelesen, aber ich werde einen Blick auf „Wellengang“ werfen, danke für den Tipp.

      Von Donal Ryan werden auf jeden Fall Bücher folgen, da freue ich mich schon drauf. Dieses hat mich absolut begeistert.

      Liebe Grüße und danke für deinen Kommentar. :)

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