In „Spatzen am Brunnen“ schreibt Hansjörg Schneider über seine Beobachtungen und Begegnungen in Basel, er schwelgt in Erinnerungen, lässt uns teilhaben an seinen Gedanken zu aktuellen Themen. Und er versucht, das zu begreifen, was kaum zu begreifen ist.
Inhalt
Am 27. September 2020 beginnt Hansjörg Schneider seine Tagebucheinträge. Der erste Satz ist eine gute Einleitung, denn darum geht es in „Spatzen am Brunnen“:
"Da ich Schriftsteller bin, bedenke ich unentwegt mein Leben."
eBook S. 5/199
Er bedenkt sein Leben und lässt uns teilhaben – bis in den Oktober 2022 hinein.
Tagaktuell und in der Vergangenheit
Hansjörg Schneider bringt nicht nur seine gegenwärtigen Gedanken und Erlebnisse zu Papier, sondern auch solche, die weit zurückliegen. Sein Bekannten- und Freundeskreis ist groß, er hat zahlreiche Begegnungen und Geschichten zu erzählen.
Für mich war jederzeit ersichtlich, warum er festhält, was er festhält, es erschien nicht wahllos und ungeordnet, sondern stimmig, da ich immer einen Bezug zum Vorausgehenden erkennen konnte.
September 2020 bis Oktober 2022, das heißt auch: Corona wird erwähnt, der Krieg in der Ukraine.
Unverstellte Einblicke
Ich hatte das Gefühl, ehrliche und kritische Überlegungen zu lesen. Hansjörg Schneider, der im Verlauf der Einträge 84 wird, bezeichnet sich selbst als sanften Mann – und ich möchte dem den Aufzeichnungen nach zustimmen. Ich halte ihn für einen feinfühligen und umgänglichen Menschen, der viel reflektiert.
Manche Stellen berührten mich, insbesondere die, die die Operationen betreffen. Bauch-OPs, ein Leistenbruch – hier hat er einiges zu verarbeiten. Die Vollnarkosen machen ihm zu schaffen, er beschreibt sie als „totale Entmündigung“ (eBook S. 134/199) und stellt das Fehlen der Erinnerung heraus, die anschließende Rückkehr in den Alltag, als wäre nichts geschehen. Ich konnte das nachvollziehen. Als ich über seine Narbe im Unterbewusstsein las, wünschte ich ihm sehr, dass sie weiter verheilen möge. Schließlich hat er schon eine, die es nicht tut.
Einmal fällt das Wort „Klagelied“ (eBook S. 113/199). Viele Menschen in seinem Umfeld bauen ab oder sind gestorben. Das bringt oftmals eine melancholische Stimmung hinein. Zudem fühlt er sich an mehreren Stellen übergangen, was ich als außenstehende Person nicht zu beurteilen vermag. Ich habe die unverstellten Einblicke sehr geschätzt – und die Lichtblicke gesehen (etwa in Form der Vögel oder die tiefe Freude darüber, dass andere seine Stücke lesen) und fand die Lektüre nicht zu niederdrückend.
Schreibstil/Aufbau
Ich mochte den feinen Schreibstil überaus gern. In Rekordgeschwindigkeit sauste ich durch die Zeilen, es ging so leicht. Ich würde behaupten, dass einige Wörter verraten, dass er Schweizer ist („anerbieten“ usw.). Ich möchte in jedem Fall mehr davon und bin gespannt, wie sich seine zehnteilige Krimireihe liest, die direkt auf meine Liste wanderte.
Die Einträge sind mit dem jeweiligen Datum überschrieben. Zwei sind aus 2020, zehn aus 2021 und der Großteil aus dem Jahre 2022.
Der Autor merkt an, dass er die Aufzeichnungen mit dem Hintergedanken der Veröffentlichung verfasste. Das spürt man, etwa wenn er „meine Frau“ oder „meine Ehefrau A.“ statt einfach „Astrid“ schreibt, was in einem „gewöhnlichen“ Tagebuch gängiger sein dürfte.
Vergänglichkeit
Das Buch endet mit einem Bild, das die Vergänglichkeit zeigt – und das, was bleibt. Themen, die sich durch die Seiten ziehen.
Der Autor hinterlässt mit seinen Vermerken etwas, das neben seinen anderen Werken fortbestehen wird. Wie schön wird es für seinen Enkel sein, eines Tages das Buch zur Hand zu nehmen und diesen einen Satz über sich zu lesen?
Außerdem hat er viele Namen und (alte) Titel von Freunden und Bekannten genannt, die er damit wieder in Erinnerung ruft oder überhaupt ins Gespräch bringt.
Ich hoffe, dass ihm das Schreiben ein Stück weit bei der Heilung der Narbe geholfen hat, die das unerklärliche „Weg-Sein“ verursachte.
„Spatzen am Brunnen“ hat aus mehreren guten Gründen seine Berechtigung.
Ich habe die Tagebucheinträge gerne gelesen. Ich weiß nicht, warum ich zu dem Buch gegriffen habe und wem ich es empfehlen würde. Vielleicht war es Schicksal (aus meiner Alltagssprache ist das Wort nicht verschwunden). In jedem Fall bin ich froh, es gewählt zu haben. Vieles fand ich interessant und überraschend, zum Beispiel, dass er einiges aus seinen Träumen zieht und im Gehen schreibt. Außerdem weiß ich jetzt, was ein Bubenjahr ist. Gelohnt hat es sich gewiss, denn es war eine Freude, die Formulierungen zu lesen.
Fazit
Ich habe keine Ahnung, ob diese Tagebucheinträge die breite Masse begeistern können. Mich haben sie gut unterhalten, ich habe einiges mitgenommen – und der Schreibstil ist entzückend.
Spatzen am Brunnen – Hansjörg Schneider
Originaltitel: –
Übersetzung: –
Verlag: Diogenes
Erschienen: 22.03.2023
Seiten: 208
ISBN: 978-3-257-07241-9
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