
Wenn das Undenkbare zur Option wird: In „Unsere Suche nach Zärtlichkeit“ von Martin Ehrenhauser geht es um Moralvorstellungen.
Werbung, da Rezensionsexemplar
Inhalt
Sebastien Dumont führt in zweiter Generation ein Uhrengeschäft und arbeitet ehrenamtlich als Telefonseelsorger in Brüssel. Seit er am Apparat war, als eine Frau gesprungen ist, leidet er unter Alpträumen. Als eine weinende Frau anruft, aus der er nicht mehr als ein paar Silben herauskriegt, fürchtet er, kurz davor zu stehen, wieder nicht helfen zu können. Er entschließt sich, die Reise, die er sich aus den geschluchzten Wortfetzen zusammenreimt, anzutreten und die Fremde zu finden. In Antibes lernt er Florence kennen – und steht erneut vor den Grauschattierungen des Lebens.
Eine Entwicklungsreise
Der Protagonist ist Ende 40 und geschieden. Früh lesen wir heraus, dass er jemand ist, der auf eingefahrenen Wegen geht: Er behauptet selbst, ein langweiliger Ehemann gewesen zu sein, lebt in einem geerbten Bürgerhaus, das er verkommen lässt, betreibt das Uhrengeschäft seines Vaters, das schleppend läuft. Die Telefonseelsorge reibt ihn auf. Er ist niemand, der Dinge angeht und verändert, in eine andere Richtung lenkt. Und dann wird er zweimal aus der Bahn geworfen und zum Handeln gebracht: Da ist die weinende Anruferin, die sich ihm nicht anvertraut. Dumont – er wird fast durchgehend beim Nachnamen genannt – sieht hier die Chance, ein abweichendes Ende herbeizuführen als bei der Frau, die gesprungen ist, und bittet seine Chefin um eine Auszeit, um ihr nachzureisen. Dabei lernt er Florence kennen, geht aus sich heraus, erlebt eine Spontaneität, die er bisher nicht kannte. Er kommt ins Tun, das ist schön, das macht gute Figuren aus, nicht wahr?
Moralische Fragen
„Unsere Suche nach Zärtlichkeit“ wirft mehrere moralische Fragen auf.
Ist es okay, einer Fremden, die offenbar nicht mit ihm reden kann, nachzureisen? Die Tatsache, dass er nicht einmal sicher sagen kann, dass er die Wörter richtig verstanden und sich die Route korrekt erschlossen hat, macht das Ganze noch irritierender. Wie will er sie erkennen, sich ihr nähern?
Im Verlauf kommt ein weiterer Umstand hinzu, den ich nicht spoilern möchte. Er ist interessant, weil er Dumont, der ist, wie er ist, ins Nachdenken bringt.
"Er fand kein Wort, keine Etikette, keinen Begriff. Es schien irgendetwas zwischen den Begriffen zu sein. Aber konnte man sich auf etwas einlassen, von dem man nicht wusste, was es war und was es werden sollte?"
(Unsere Suche nach Zärtlichkeit, eBook, Teil 4, Kap. 6, Pos. 1691/2501, 68 %)
Manchmal gibt es keine eindeutig richtige oder falsche Entscheidung, weil das Thema mehrere Perspektiven und Herangehensweisen erlaubt. Was im ersten Augenblick unmöglich erscheint, kann sich in eine Option verwandeln, wenn man das Bekannte überdenkt und sich mit dem Neuen befasst, offen für Alternativen ist. Das ist für konservative und zaghafte Charaktere wie Dumont eine besondere Herausforderung – und deshalb funktioniert diese Geschichte als Idee mit den erschaffenen Figuren für mich sehr gut.
Der Klappentext
Ich habe bei „Der Liebende“ ein wenig herumgemosert daran, dass der Klappentext viel verrät und es keine großen Überraschungen gibt. Hier ist es so, dass ich die Inhaltsangabe wieder schwierig finde, weil ich die Telefonseelsorge als etwas herausgelesen habe, das eine bedeutende Rolle spielt. Und es stimmt, sie ist wichtig, weil sie ihn zu der Reise treibt, allerdings gerät sie im Verlauf in den Hintergrund. Die Tätigkeit hat ihn dazu gebracht, nicht zu bewerten, sondern zuzuhören, was von Vorteil ist, damit es nicht eskaliert zwischen Florence und ihm. Und am Ende lebt das Thema noch einmal kurz auf. Da mich die Thematik gereizt hat, finde ich es dennoch schade, dass sie nicht so präsent war, wie mich die Zusammenfassung glauben ließ.
Erneut sollte man keine großen Überraschungen erwarten, selbst die moralische Frage, die im Zusammenhang mit Florence aufkommt, lässt sich kombinieren, wobei ich das nicht schlecht finde. Wir sammeln Hinweise und haben eine Ahnung, ehe Dumont vor den Kopf gestoßen wird und das erfährt, was sie ihm verheimlicht. Es fühlt sich nach einem natürlichen Verlauf an, nicht nach einem künstlich herbeigeführten Paukenschlag, der nicht hineinpasst.
Eine ruhige Geschichte
„Unsere Suche nach Zärtlichkeit“ ist mein zweites Buch des Autors, schon in „Der Liebende“ geht es um Menschen, die in der zweiten Lebenshälfte zueinanderfinden und entdecken, dass viel mehr möglich ist als gedacht.
Der Titel sagt es: Es geht darum, dass die Beteiligten – oder: wir alle – nach Wärme suchen, nach Nähe, Geborgenheit, Liebe, in welcher Form auch immer. Insofern sollte es nicht überraschen, dass es eine ruhige Geschichte ist. Sie entwickelt sich langsam, wird, obwohl sie kurz ist, teilweise detailliert erzählt. Ich mochte die zarten Momente, die der Autor gut rüberbringt.
Ab und an fühlte sich die Perspektive etwas hakelig an. Es gibt keinen Ich-Erzähler, wir folgen in erster Linie Sebastien, lernen ihn in seinem Alltag kennen, ehe er ausbricht, was wichtig ist, um zu verstehen, wie er tickt. Das hat es mir leicht gemacht, mich in ihn hineinzufühlen. Die Momente, die eindeutig den allwissenden Erzähler offenbaren und uns etwas über Florence mitteilen, haben mich allerdings innehalten lassen.
Das Ende ist ein offenes, aber ich habe eine klare Vorstellung davon, wie es weitergeht.
Fazit
Ich finde die Bücher des Autors wirklich nett – und das ist genau so gemeint. Sie beinhalten feinfühlige Beschreibungen und moralische Dilemmata, ich klappe sie trotz des teils schwierigen Inhalts mit einem guten Gefühl zu.
Ich würde mehr von Martin Ehrenhauser lesen.
Zusammenfassung Unsere Suche nach Zärtlichkeit von Martin Ehrenhauser
Dieses Buch ist für dich, wenn du
- kurze und ruhige Geschichten mit Tiefgang magst, die sich mit Moralvorstellungen beschäftigen
- einen Sinn für feinfühlige Beschreibungen hast
- den Roman "Der Liebende" vom Autor mochtest - es gibt Parallelen, vielleicht gar ein Schema

Unsere Suche nach Zärtlichkeit – Martin Ehrenhauser
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Eine Antwort
Dein Buch hatte ich vor kurzem auch in der engeren Wahl – habe mich dann dagegen entschieden, weil es mich schon beim Lesen des Klappentextes wütend gemacht hat, dass er der Frau nachreist. :-)
Vielleicht entscheide ich mich nun aber doch noch dazu, es zu lesen.
LG Babsi