Interpretation „Ein Gentleman in Moskau“

Ein Gentleman in Moskau - Amor Towles

Hier findest du einige Fragen und meine Interpretation zum Roman „Ein Gentleman in Moskau“ von Amor Towles.

Wenn du das Buch noch nicht gelesen hast, ist meine Rezension wahrscheinlich eher etwas für dich.

Ab hier: Spoiler

Wie immer gilt: Es sind nur meine Gedanken und Deutungen zum Buch, alle anderen sind herzlich willkommen. Schreib mir deine Ideen gern in die Kommentare, ich freue mich über jede Sichtweise.

Fangen wir am Ende an, denn dieser Satz könnte für ein Fragezeichen sorgen:

"Und da, an einem Tisch für zwei in der Ecke, wartete, ihr Haar von Grau durchzogen, die gertenschlanke Frau."

Wer ist die gertenschlanke Frau am Ende von „Ein Gentleman in Moskau“?

Sofia? Nina? Seine verstorbene Schwester Helena? Katarina?

Nein. Für mich ist die Antwort eindeutig: Die gertenschlanke Frau am Ende des Buches ist Anna. Sie wurde im Verlauf mehr als einmal so bezeichnet, sodass ich mir sicher bin, dass Towles sie im Sinn hatte.

Wie geht es weiter? Die Zukunft der Figuren

Sofia in Paris, der Graf und Anna auf der Flucht in Russland – wie geht es weiter mit den Charakteren aus „Ein Gentleman in Moskau“?

Ich sehe diese Möglichkeiten:

Sie könnten in seiner Heimatstadt bleiben. Er hängt an dem Land, das wird deutlich, nicht nur, weil er (noch einmal) zurückgekehrt ist.

Andererseits hat Anna lange vor dem Finale von Amerika geschwärmt. Eine Option? Durch die Beziehungen, die Anna (durch ihren beruflichen Werdegang) und Rostov haben, wäre es vielleicht möglich. (Und: Siehe übernächste Frage!) Oder:

Sieht der Graf Sofia wieder?

Anna und Alexander könnten mit Sofia zusammen sein, die er so sehr liebt, dass er sie als seine Tochter bezeichnet. Das wäre ein schönes Ende.
Für mich spricht dagegen:
Die Kette, die die junge Frau behält. Sie unterstreicht das Band zwischen ihnen, könnte aber auch ein Festhalten, ein Andenken darstellen, weil eine andere Möglichkeit nicht zustande kommt.
Und der Tisch (ausdrücklich) für zwei, der vorausdeuten könnte, dass sie allein bleiben.

Ich bin nicht sicher, ob der Autor überhaupt ein Ende vor Augen hatte. Vielleicht liegt die Botschaft gerade darin, nicht zu viel zu hinterfragen, sondern davon auszugehen, dass sie die richtige Entscheidung treffen und ihr Leben so oder so glücklich verbringen werden, denn darum geht es die ganze Zeit über.

Auf eine Sache möchte ich noch eingehen. In den vorgenannten Varianten kommt für mich ein Detail zum Zug, das zuvor eine Rolle spielte:

Was hat es mit dem „Unsichtbarkeitszauber“ auf sich?

Der Graf fühlte sich einst, als hätte Anna ihn mit einem „Unsichtbarkeitszauber“ belegt. Ich glaube, dass dieser Umstand für das Ende wichtig ist und Interpretationen zulässt. Er wird dafür sorgen, dass sie unentdeckt bleiben. Das ist jedenfalls, was ich denken möchte – und soll, nehme ich an:

"An dem schicksalhaften Abend, als der Graf in der Suite der Zauberin zu Gast war, hätte sie vermutlich die Macht gehabt, ihn auf der Stelle unsichtbar zu machen."

Warum kriegt der Graf Hausarrest?

Rostov überlebt wegen der Zeilen, die ihm zugeordnet werden. 

Es handelt sich bei dem Gedicht „Wo ist es jetzt?“ um ein positiv aufgefasstes aus vorrevolutionärer Zeit, das einige hohe Funktionäre dazu veranlasst, sich gegen seine Hinrichtung (weil er adlig ist) auszusprechen – und so wird er zu Hausarrest auf Lebenszeit im Metropol verdonnert.

Wieso fängt der Graf an zu kellnern?

Eine weitere Frage, über die ich kurz nachgedacht habe, ist die, aus welchem Grund Rostov plötzlich im Bojarski arbeitet. Er ist zweifellos vermögend (Stichwort: Goldmünzen im Schreibtisch etc.). Was ist sein Antrieb?

Ich denke, der zeitliche Zusammenhang ist wichtig. Er stand auf dem Dach, er wäre fast gesprungen. Ihm ist klargeworden, dass er eine Aufgabe braucht, einen Sinn. Diesen findet er als Oberkellner im Restaurant, was zu dem Feinschmecker und Gentleman in ihm gleichermaßen passt, ebenso zu dem Jungen, der einst die Sitzordnungen auf Gut Weile durchdachte. Die zwischenmenschlichen Beziehungen haben in dem gesamten Buch einen hohen Stellenwert – und dass er zu Emile und Andrei eine derart enge Bindung aufbaut, unterstreicht das. In Geldnöten steckt er nicht, was das Ende beweist.

Außerdem eine Frage, die ich mir stellte:

Ist der Oberste Verwaltungsbeamte Ossip?

Wenn du mich fragst: Aber sowas von!

Über den Beamten, der einige interessante Antworten gibt und sich am Ende ein Lächeln nicht verkneifen kann, heißt es:

"Der Oberste Verwaltungsbeamte trug einen dunkelgrauen Anzug und hätte sich kaum von anderen Bürokraten Anfang sechzig mit beginnender Glatze unterschieden, wäre da nicht eine Narbe über dem linken Ohr, wo allem Anschein nach jemand versucht hatte, seinen Schädel zu spalten."

Hier haben wir die Beschreibung vom ersten Treffen im Gelben Zimmer mit Ossip:

"(...) und daran saß ein Mann mittleren Alters in einem dunkelgrauen Anzug.
Obwohl der Mann viel kleiner war als der Riese vor der Tür und außerdem weit besser gekleidet, kam es dem Grafen so vor, als wäre dem Mann rohe Gewalt nicht fremd. Nacken und Handgelenke waren dick wie bei einem Ringer, und durch sein kurzgeschnittenes Haar war eine Narbe über dem linken Ohr zu sehen, die vermutlich von einem abgelenkten Hieb stammte, der seinen Schädel hätte spalten sollen."

Da viele Details später wichtig werden, halte ich diese nicht für Zufälle.

Ist „Ein Gentleman in Moskau“ eine wahre Geschichte?

Es handelt sich um eine fiktive Geschichte, auch wenn durchaus reale Ereignisse behandelt werden und sie im tatsächlich existierenden Hotel Metropol in Moskau spielt. Die Hauptfigur, Graf Alexander Iljitsch Rostov, gibt es nur im Buch.

Warum ist Rostov nicht vorher geflohen?

Zunächst einmal hatte er keinen Grund. Er hat sich arrangiert mit dem, was da war, hat diejenigen, die er sehen wollte, einbestellt, andere sind von sich aus gekommen. Der Graf hat alles gefunden: einen Sinn, Liebe, Freundschaft, Freude, Verstecke und Abenteuer. Darüber hinaus wäre es zu riskant gewesen (er brauchte erst einen richtigen Grund, dazu gleich mehr, und durch Anna und Ossip sinkt in meinen Augen die Gefahr der Entdeckung).
Als es darum ging, Sofia in die Welt zu entlassen, hatte er einen Antrieb – und ist ihr gefolgt (womit ich nicht zwingend sagen will: nach Paris, sondern allgemein in die Freiheit, die über die Hotelmauern hinausgeht).

Was ist die Botschaft des Buches?

Für mich geht es um die Anpassungsfähigkeit des Menschen (oder der Lebewesen allgemein, Stichwort: die erwähnten Birkenspanner von Manchester), darum, dass wir unabhängig von unserer Situation eine Hilfe für andere sein und sie unterstützen können. Außerdem sind zwischenmenschliche Beziehungen von enormer Bedeutung, weil sie uns helfen, die Welt mit anderen Augen zu sehen und uns in ihr verwurzelt zu fühlen. Die Umstände bestimmen nicht, ob wir Freude oder einen Sinn haben (dürfen).

Das waren meine Fragen, Gedanken und Interpretation zum Roman „Ein Gentleman in Moskau“. Wenn du andere Ansichten hast oder etwas teilen möchtest: Gerne in den Kommentaren. Ich freu mich drauf.

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