Würdest du bitte endlich still sein, bitte – Raymond Carver

Würdest du bitte endlich still sein bitte - Raymond Carver

„Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ ist eine großartige Kurzgeschichten-Sammlung.

Ich werde mich nie auf ein Lieblingsbuch festlegen. Aber wenn ich müsste, … tja.

5/5

+

Inhalt

Aus 22 Kurzgeschichten besteht „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ von Raymond Carver – und ich wünschte, es wären  mehr.

Es geht um einfache Leute wie dich und mich und unsere Nachbarn, um Menschen, die Dinge empfinden, die andere nicht verstehen, um Unaussprechliches und allzu Nachvollziehbares. Es geht um Probleme und Krisen, um Tatsachen, denen man nur widerstrebend ins Auge blickt. Die Mischung ist so bunt wie das Leben, die Figuren so lebendig wie wir.

Das Besondere ist, dass der Autor uns wenig gibt – und doch so viel. Er schildert uns Ausschnitte, zeigt uns Teile, die wir zu einem runden Ganzen zusammenbringen müssen. Nur wer bereit ist, über den Inhalt nachzugrübeln und mehr zu lesen, als da in Worten steht, wird mit dem Buch glücklich.

Es ist seltsam, aber nach so mancher Story saß ich da und dachte: „Wie, das war’s? Und worum ging es jetzt?“ Und dann habe ich mir den Kopf zerbrochen, ob ich wollte oder nicht (und doch ganz freiwillig), ja, manchmal auch nachts, und dann kamen die Einfälle, die Ideen, die ich bei erneutem Durchgang untermauern musste, die Erkenntnisse, das Verstehen. Es hat einiges an Zeit gekostet, aber es hat noch mehr Spaß gemacht, die Kurzgeschichten zu lesen! Und ich bin sicher, dass ich beim nächsten Mal Neues entdecken werde, ein Detail, vielleicht sogar eine Richtung. Carver lässt so viel weg, da ist so viel Spielraum, den man nutzen kann, so viel Leerraum, den man füllen muss, dass mehr als eine Sichtweise möglich ist. Er gibt uns kein Bild, er zeigt uns Einzelteile, quasi ein Rätsel, und wir puzzeln, immer wieder, wobei automatisch Erfahrungen und Gefühle einfließen, denn jeder Mensch hat eine andere Sicht auf die Dinge und somit (vielleicht) auch eine ganz eigene Lösung.

Übersicht

Ich habe zu jeder Kurzgeschichte meine Gedanken und Deutung aufgeschrieben, deshalb ist das hier ein Endlos-Beitrag.

Falls du auf diese Seite gestoßen bist, weil du auf der Suche nach Interpretationen bist – herzlich willkommen. Ich hoffe, du wirst fündig. Und falls dir beim Lesen andere Ideen kamen: BITTE hinterlass mir einen Kommentar, ich freue mich über alle Maßen über jede (anderweitige) Betrachtung – zumal ich die dann wieder überprüfen muss, was ich mit Freude tun werde.

Bist du auf der Suche nach einer bestimmten Kurzgeschichte aus „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“? Ein Klick bringt dich hin:

Dick

Originaltitel: Fat

Inhalt

Eine namenlose Ich-Erzählerin serviert einem übergewichtigen Mann sein Essen. Später berichtet sie ihrer Freundin Rita davon.

Meine Gedanken

Eine Kurzgeschichte, die wenig verrät – und damit ein perfekter Einstieg ist in das Buch, denn man muss spielen mit den Schnipseln jeder Story, um sich nicht zu fühlen wie Rita, die nicht weiß, was sie mit dem Erzählten anfangen soll.

Also tue ich das.

Wir haben hier eine namenlose (weil unbedeutende) Kellnerin, die ihrer Freundin Bericht erstattet über den Besuch des dicken Gastes. Ihre Gesprächspartnerin scheint (sogar zweimal) enttäuscht, als die Erzählung endet, sie dachte, da kommt noch etwas, während die Erzählerin alles gesagt hat, was zu sagen war. Dass dieser fettleibige Mann an einem ihrer Tische saß, war für sie Ereignis genug. Was hat sie dermaßen beeindruckt?

Der Besucher ist freundlich, ordentlich und gut gekleidet, es gibt nichts zu kritisieren. Und doch findet die Küchencrew an seinem Aussehen etwas, das sie dazu veranlasst, sich über ihn lustig zu machen. Weil er keine Kontrolle über sein Essverhalten hat, setzen sie ihn herab. Das ist nicht okay – und das merkt die Erzählerin. Sie verteidigt ihn, weil sie sich mit ihm identifiziert. Sie kennt das: Auch ihr Wert wird missachtet und ihr fehlt immer dann die Kontrolle, wenn Rudy sich nimmt, was er will.

Der Gast beobachtet jede ihrer Bewegungen, was sie nervös macht, weil sie es nicht gewohnt ist. Mit dem „Wir“ schafft er eine Verbindung zu ihr. Gleichzeitig bringt es mich – zusammen mit anderen Hinweisen – auf die Idee, dass er eine Schwangere symbolisieren und sie deshalb so faszinieren könnte. Er spricht für zwei, er isst für zwei. Mehrfach erwähnt sie seine Finger, wie dick sie sind. Das kann während der Schwangerschaft ähnlich sein, nicht wahr?
Ja, ich glaube, dass sie einen Kinderwunsch hat. Ihm erzählt sie, dass sie „gern ein bißchen zunehmen“ würde (S. 47). Auch später in der Dusche kommt das Thema auf. Doch nicht nur das: In meiner Vorstellung wird sie sogar schwanger. In der Szene mit Rudy heißt es: „Ich habe das Gefühl, daß ich unheimlich dick bin, so dick, daß Rudy winzig ist und überhaupt kaum da.“ (S. 49) Hier findet eine Umkehr statt. Indem sie dick ist, tritt Rudy in den Hintergrund. Dahin, wo sie sonst ist.

Sie nimmt das Schnauben des Mannes wahr, bemerkt, dass er sich schämt, weil er trotz Hitze sein Jackett anbehält. Sie stellt fest, wie die anderen über ihn sprechen, ihr Partner Rudy macht sich zusätzlich daheim über zwei ehemalige übergewichtige Mitschüler lustig. Niemand scheint an der Geschichte dahinter interessiert zu sein, der Besucher wird auf sein Äußeres reduziert. Nichtsdestotrotz bekommt er eines: Aufmerksamkeit. Er wird gesehen, beachtet. Ganz im Gegensatz zu ihr.

Dass Rita auf weitere Details wartet, unterstreicht, dass es ihr – wie allen – weniger um die Erzählerin und ihre Gefühlswelt geht als vielmehr um den dicken Mann (und die eigene Unterhaltung). Sie fragt sich, was er noch getan haben könnte, was es über ihn zu sagen gibt, anstatt auf die Erlebnisse ihrer Freundin einzugehen und die erschreckende Situation mit Rudy zu kommentieren.

„Es ist August“, besagt der vorletzte Satz – und sofort rechne ich ein paar Monate drauf.
Weiter heißt es: „Mein Leben wird sich ändern. Ich spüre es.“ (S. 49) Sie wird bald das Rauchen aufgeben, mehr Beachtung kriegen und Aufregung verspüren. Man wird sie wahrnehmen, sehen, sich für sie interessieren. Zumindest ist das die Hoffnung, an die sie sich klammert.

Nachbarn

Originaltitel: Neighbors

Inhalt 

Als das Nachbarspaar Stone mal wieder zu einer beruflichen Reise aufbricht, die vermutlich auch dem Privatvergnügen dient, bekommen Bill und Arlene Miller einen Schlüssel. Blumen gießen, die Katze füttern, das Übliche. Eine lästige Pflicht? Nicht für sie.

Meine Gedanken 

Bill ist Buchhalter, Arlene auf Sekretärinnenjobs angewiesen, während Stone als Vertreter die Welt sieht. Der Schlüssel zur Wohnung der Nachbarn ermöglicht den Millers eine Flucht. Sie brechen aus ihrem Alltag aus, die Ausflüge verleihen ihnen neuen Schwung, in jeder Hinsicht. Bei Bill sind die Auswirkungen am deutlichsten. Die Streifzüge erregen ihn, verschaffen ihm eine ungewohnte Befriedigung. In der Folge macht er früher Feierabend, lässt sich krankmelden. Aber auch Arlene durchsucht die Wohnung und legt sich in das Bett der anderen. Letztlich sperrt sie die Katze ungefüttert ein, was ebenfalls weitergedacht werden kann.

In ihrer Sucht, sich in das Leben der Nachbarn zu träumen, sind sie vereint – bis zum Ende. Denn da stehen sie sich bei. Beide haben den Zugang verloren zu dem, das ihnen so viel gegeben hat. 

Eine letzte Hoffnung bleibt: dass die Nachbarn von ihrer zehntägigen Reise nicht zurückkehren. Dann kann das Vergleichen aufhören und sie können – vielleicht – so glücklich sein, wie der erste Satz es behauptet.

Allein der Gedanke

Originaltitel: The Idea

Inhalt

Eine Ich-Erzählerin lauert im Dunkeln auf ihren Nachbarn, der von draußen in sein eigenes erleuchtetes Fenster schaut und seine Frau beim Umziehen beobachtet.

Meine Gedanken

„Allein der Gedanke“, im Original „The Idea“, ist die dritte Kurzgeschichte des Sammelbandes „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“. Und ein bisschen witzig ist die schon:
Die Erzählerin regt sich auf über das Sich-Beobachen-Lassen der Nachbarin, bezieht ihren Ehemann Vern mit ein. Dass sie selbst seit drei Monaten immer wieder ausdauernd im Dunkeln hockt und zwei Personen, die das gar nicht bemerken, beobachten, realisiert sie dabei nicht. Im Übrigen betont sie, dass sie einen Spanner auf der Stelle anzeigen würde. O-kay.
Auch uns versucht sie zu besänftigen, indem sie sich erklärt und uns sogar einmal anspricht. Die förmliche Anrede (sie siezt uns) unterstreicht ihren Anstand. Sie würde so etwas nicht tun. Niemals.

Und doch tut sie es.

Interessant ist, dass der Nachbar außen vor ist. Er steht da halt. Aber sie! Ihr würde sie am liebsten die Meinung sagen. Was Vern nicht gerne sehen würde, schließlich ist das Ausspähen das Aufregendste, das ihm der Abend bietet, da kann nicht einmal der Fernseher mithalten.

Ein Satz, aus dem der Neid spricht, fällt, als die Erzählerin sich fragt, was sie [die beobachtete Nachbarin] haben kann, was andere Frauen nicht haben (S. 62).

Wichtig ist auch, dass die Geschichte damit beginnt, dass sie das Abendessen gerade beendet haben – und nach ihrer Spionage sind sie so hungrig, dass sie einen üppigen „Imbiß“ serviert. Sie stillen ihren Hunger anders als die Nachbarn. Gesittet.

Die Ameisen sind interessant. Sie könnten für die Invasion schlechter Gedanken stehen. Sie versucht die ganze Zeit, sich vernünftig und unscheinbar zu präsentieren, will daran festhalten. Gleichzeitig stößt sie an ihre Grenzen, denn da ist auch der Neid, den sie nie zugeben würde. Sie attackiert die Ameisen, die eine strenge Ordnung darstellen. Sie sprayt, als schon gar keine mehr zu sehen ist. Es ist eine Art Verzweiflung, sie weiß selbst nicht, was sie will – bzw. kann sie es sich nicht eingestehen.
Am Ende gibt sie einen Teil ihrer Starrheit auf, indem sie alle Lampen im Haus anmacht und die Jalousie in der Küche hochschiebt. Man könnte sie jetzt beobachten. Sie nimmt das in Kauf – und regt sich weiter auf. Es sind widerstreitende Gefühle, die sie hat. Weil, wie der Titel es beschreibt, „Allein der Gedanke“ ihr (eigentlich) schon zu viel ist.

Sie sind nicht dein Ehemann

Originaltitel: They‘re Not Your Husband

Inhalt

Als Earl Ober, ein arbeitsloser Handelsvertreter, zwei Männer über die Figur seiner Frau Doreen lästern hört, legt er ihr nahe, ein paar Pfund abzunehmen.

Meine Gedanken

„Sie sind nicht dein Ehemann“, im Original „They’re Not Your Husband“, ist die vierte Kurzgeschichte des Sammelbandes „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“.

Wir haben hier Doreen, die nachts kellnert und damit die Familie ernährt. Und ihren Ehemann, der sie bei der Arbeit aufsucht, isst, trinkt und sie beobachtet.

Nachdem er die Lästereien zweier Männer aufschnappt, bringt er seine Ehefrau dazu, wenig bis gar nichts mehr zu essen. Als die Kollegen besorgt sind, währt er ab: „Achte gar nicht auf sie. Sag ihnen, sie sollen sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Sie sind nicht dein Ehemann.“ (S. 73)

Puh. Ja, Earl, das stimmt. Aber hättest du das nicht zu den Typen sagen können? Und im Übrigen: Hat sie vielleicht eine eigene Meinung? Schwierig, sehr schwierig.

Earl ist ein egoistischer Mann, der ein Schmuckstück an seiner Seite möchte. Er sucht die Bestätigung, er will, dass Doreen allen gefällt. Wie es ihr mit diesem ungesunden Essverhalten geht, ist ihm gleichgültig.

Ich glaube, dass er etwas braucht, auf das er stolz sein, auf das er noch Einfluss nehmen kann. Es ist ein Ersatz. Seine Vorstellungsgespräche verlaufen im Sande, die Kinder lässt er allein – er konzentriert sich auf Doreen. Er will sie „bearbeiten“, mit dem Ergebnis (seiner Leistung, da sie seinen Anweisungen folgt) zufrieden sein und letztlich den Applaus aller Umstehenden einheimsen. 

Interessant sind die letzten Sätze. Ich denke, dass Doreen – zumindest unbewusst – weiß, dass ihr Mann sie und ihre Abnahme als seinen „Job“ betrachtet. Er ist Verkäufer – und arbeitslos. Was bleibt? Sie. Also versucht er, aus ihr etwas zu machen, das sich „verkaufen“ lässt.

Sind Sie Arzt?

Originaltitel: Are You A Doctor?

Inhalt

Arnold Breit wartet auf den Anruf seiner Frau, die auf Geschäftsreise ist. Stattdessen ruft jemand anderes an: eine ihm Unbekannte namens Clara Holt, die ihn dringend treffen möchte.

Meine Gedanken

„Sind Sie Arzt?“, im Original „Are You A Doctor?“, ist eine der Geschichten der Sammlung „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“, über die ich mir am längsten den Kopf zerbrochen habe. Und darum geht’s:

Ein Mann der Routine bricht aus.

Wir haben hier eine unbekannte Anruferin, die Arnold unbedingt sehen will, ohne ihn zu kennen. Seltsam.
Aber das wirkliche Rätsel ist Arnold. Denn er willigt ein. Warum? 

Ich habe dahingehend spekuliert, dass er unglücklich ist mit seiner Ehefrau, die sich als Einkäuferin auf Geschäftsreise befindet. Während er in Pyjama und Bademantel herumschlappt, schließlich ist es schon nach zehn und somit spät, ist sie stets betrunken und in einer ausgelassenen Stimmung.

In der Annahme, dass sie anruft, meldet er sich. Zweimal sagt er „Hallo“, er ist froh, zum Reden zu kommen. Doch es ist nicht seine Frau, es ist eine Fremde. Seine Rechtfertigung, dennoch am Apparat zu bleiben, ist für mich ein Zeichen der Einsamkeit, die ihn umgibt: „Er wußte, daß er jetzt aufhängen sollte, aber es tat gut, eine Stimme zu hören, und sei es die eigene in dem stillen Zimmer.“ (S. 78)
Er unterhält sich mit Clara, wodurch es viel Dialog gibt. Dieser kommt oft wiederholend daher, was die Wichtigkeit der übrigen Passagen unterstreicht, denn die Handlungen verraten hier mehr als die Worte, die gesprochen werden.

Einmal unterbricht er das Gespräch, um sich ungeschickt eine Zigarre anzuzünden (= das macht er sonst nicht) und sich – nun ohne Brille – im Spiegel zu betrachten. Was wird er dort sehen? Nichts Deutliches, sofern er die Sehhilfe braucht, aber eine erste, wenn auch zunächst optische Veränderung. Seine Routine wurde durchbrochen und er schaut, was das mit ihm anstellt.
Später kommt die Brille erneut zur Sprache, indem er sie putzt. Er hat (noch) keine klare Sicht auf die Dinge. Auf sich. Und die Zukunft.

Als er Clara trifft, ist er zunächst mit ihrer Tochter allein, die laut Clara krank sein soll, dies aber bestreitet. Als die unbekannte Anruferin hinzukommt, stellt sie ihm im Verlauf die titelgebende Frage: „Sind Sie Arzt?“ 
Ich glaube, Clara braucht jemanden, der für sie und ihre kleine Familie sorgt. 
Er verneint gleich doppelt. Er ist kein Arzt, ein Doktor ist eine eher autoritäre Person, die weiß, was zu tun ist. Das ist hier nicht der Fall. Er ist selbst ein Patient; ihm fehlt etwas.

Nun zu der Stelle, an der alle meine Alarmglocken losschrillten:

Als er geht, nennt er Clara „Mrs. Holden“, obwohl sie ihm gesagt hat, dass sie nicht verheiratet ist. Das ist kein Zufall, das ist ein Punkt, an dem ich große Augen gekriegt habe. Aber wie ist er zu verstehen?
Zum einen ist da dieser Mann, den er mehrfach auf einem der Balkone sieht. Steht er dort, um eine Art Herrscher zu repräsentieren? Befürchtet Arnold, dass sie doch einen Partner hat?
Möglich ist das. Meine bevorzugte Variante ist aber Folgende:
Das „Mrs.“ ist eine Vorausschau. Sie kriegt, was sie will. Das wird dadurch unterstrichen, dass sie zum Abschied etwas von ihm (ein Haar, einen Faden) an sich nimmt. Das Haar könnte für seine Identität stehen, der Faden dafür, dass daraus etwas anderes entstehen wird, etwas Größeres, etwas (mit ihr) Verwobenes. Dass sie beinahe seinen Mantel in der Tür einklemmt, bedeutet, dass sie ihn so gut wie in der Tasche hat.
Und der Mann?
Der könnte ebenfalls eine Vorausschau sein. Auf ihn. Auf die Person, die von Mantel und Hut, die beide eine Schutzfunktion übernehmen können, auf ein lockeres Sweatshirt umsteigt. Der Balkon symbolisiert den Ausbruch aus seinem bisherigen (beengten) Leben in eine neue Freiheit.

Wichtig finde ich auch den Jungen. Clara erwähnt ihn am Telefon, aber er taucht nicht auf. Er fragt in Gedanken nach ihm. Weil er ihn sucht. In sich. Wo ist der Junge in ihm? Vor Jahren verschwunden? Wenn er Clara erneut trifft, sieht er ihn vielleicht.

Als nach seiner Rückkehr das Telefon klingelt, neigt er zu kindischem Verhalten, indem er sich erst wieder bewegt, als es aufhört. Eine Veränderung. Und eine weitere: Er achtet auf sein Herz – er spürt es, es schlägt, er lebt (auf).

Als er beim zweiten Versuch drangeht, meldet er sich – anders als sonst – seriös mit Vor- und Zuname, nicht so wie eingangs, als er sicher war, dass – wie immer – seine Frau anruft. Nun könnte es ebenso gut Clara sein. Und mit ihr steht er noch am Anfang.

Aber sie ist es nicht. Es ist seine Ehefrau, die  sofort bemerkt, dass etwas anders ist. Indem es heißt: „‚Bist du da, Arnold?‘, sagte sie. ‚Du klingst so anders.‘“(S. 87) wird verdeutlicht, dass sich etwas verändert hat. Dass Arnold ein anderer geworden und vielleicht gar nicht mehr richtig da ist, sondern schon halb bei Clara.

Der Vater

Originaltitel: The Father

Inhalt

In „Der Vater“ geht es um einen neugeborenen Jungen, die Frage, wem er ähnlich sieht – und letztlich darum, dass der Vater niemandem ähnelt.

Meine Gedanken

Ein Baby.
Die drei Schwestern, die Mutter und Großmutter rätseln, wem es ähnlich sieht.
Der Vater sitzt abgewandt in der Küche – und sieht niemandem ähnlich.

Dies ist eine der kürzesten Kurzgeschichten des Buches.
Es geht um das Thema Identität. Zunächst um die des Babys, wobei das Thema schon angedeutet wird, wenn es heißt, dass die Mutter „noch nicht wieder ganz zu sich gekommen war“ (S. 89).
Doch eigentlich geht es nicht um das Baby, es geht um die Identität des Vaters, der als Einziger in einem anderen Raum sitzt und sich nicht an der Diskussion beteiligt. Als er sich umdreht, ist sein Gesicht „weiß und ausdruckslos“ (S. 91).
Die Farbe weiß ist hier besonders interessant, weil wir sie zuvor bei der Beschreibung der Babykleidung finden. Seine Identität wird zurückgesetzt, muss neu gesucht und gefunden werden – wie bei dem kleinen Jungen. Und das kam so:

Carol, die Oma, sieht als Einzige eine Verbindung zwischen dem Baby und der Familie, indem sie sagt, es hätte die Lippen des Großvaters. Die Mutter bezweifelt das. Dann sieht Carol – und sie betont das mit großem Trara – eine Ähnlichkeit zwischen dem Jungen und seinem Vater. Damit – und das hat sie nicht einkalkuliert – wirft sie die Frage auf, wem der Vater ähnelt. Die Kinder finden keine Ähnlichkeit zu jemandem, es fließen Tränen. Carol schreitet ein; nicht, indem sie behauptet, er hätte mit ihrem Ehemann Ähnlichkeit oder mit sich selbst, nein, sie versucht mit einem „Pssst“, die Kinder zum Schweigen zu bringen. Weil sie etwas verheimlicht?

Am Ende schauen alle den Vater an, nur Carol nicht. Ihre Augen bleiben bei dem Baby. Kann sie ihn nicht ansehen?

Dass das Baby hier nicht im Mittelpunkt steht, zeigt bereits der Name der Kurzgeschichte an. Er wirft auch die Frage auf, ob der Vater des Jungen nicht der alleinige titelgebende Vater ist. Geht es auch um seinen Vater? Der vielleicht gar nicht sein Vater ist?

Warum sitzt er von Anbeginn an alleine da? Fühlte er sich bei den Themen Identität und Verbundenheit schon immer außen vor?

Ich glaube, dass Carol mit dem Enkel versucht, etwas nachzuholen. Hier spricht ihr einstiger Wunsch aus ihr.

Keiner hat etwas gesagt

Originaltitel: Nobody Said Anything 

Inhalt

Ein Junge, der die Schule schwänzt, um angeln zu gehen – und eine Familie, die zerbricht. 

Meine Gedanken

Ich geb’s zu, anfangs mochte ich „Keiner hat etwas gesagt“ nicht, musste mich vom Überfliegen der Seiten abhalten. Es lag an der Hauptfigur. Dadurch, dass wir hier einen jungen Ich-Erzähler haben, liest sich die Story anders als die bisherigen. „Schwafeliger“. Aber auch sie bietet so viel Interpretationsspielraum. Ich habe mehr als einmal meine Sichtweise über den Haufen geworfen. Eine sehr interessante Kurzgeschichte aus „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“:

 „Keiner hat etwas gesagt“ beginnt und endet mit dem Streit der Eltern. Der Ich- Erzähler will diesen abstellen, indem er seinen Bruder auffordert, dazwischenzugehen. Der hat die Hoffnung aufgegeben, ist abgestumpft, während der Protagonist die Tränen seiner Mutter bemerkt. 

Die Familiensituation ist angespannt: Die Eltern streiten, eine Pfanne fliegt, die Geschwister sprechen unflätig, der Erzähler agiert gerissen und droht seinem Bruder mit dem Tod. Tatsächlich hat er kein Problem mit dem Töten, zumindest was Tiere – Fische – angeht. Die angelt er nämlich, während er blaumacht.

Die Geschichte spielt in der ersten Oktoberwoche, demnach im Herbst, aber der Protagonist hat Frühlingsgefühle ohne Ende. Die Jahreszeiten spielen später noch eine Rolle, etwa wenn vom Frühling und damit verbunden Hochwasser die Rede ist, sich nun aber alles im seichten Wasser abspielt. Das ist bedeutsam.
Um auf seine Gefühle zurückzukommen:
Er ist ein Teenager, klar, aber ich glaube, dass sie auch eine Art Flucht sind. Denn er flüchtet die gesamte Geschichte über. Zunächst nutzt er eine angebliche Magenverstimmung, um zu Hause zu bleiben. Er hält es ohne den Fernseher kaum aus, liest, durchsucht die Wohnung, flüchtet sich in gedankliche Gespräche und „Liebesgeschichten“. Er geht angeln, was er mit den glücklicheren Zeiten von vor drei Jahren, als sie herzogen, der Vater noch Geduld hatte und mit den Geschwistern zum Birch Creek fuhr, verbindet.
Nun ist er also wieder hier – und diesmal hat er Glück:
Er fängt eine Forelle, eine grüne. Dazu fällt mir spontan eines ein: Hoffnung, wie sie die Mutter am Anfang der Geschichte äußert. Aber das Tier kämpft nicht lange, obwohl er es drillt, der Fisch hat keine Ausdauer mehr, die Hoffnung aufgegeben. Er denkt bei der Farbe an Moos. Übertragen wir das Ganze auf das Familien-Thema, ist eines traurige Wahrheit: Moos hat keine (starken) Wurzeln.

Er trifft einen Jungen, der ihn an George erinnert (es gibt später weitere Überschneidungen, etwa durch das Fahrrad), schmiedet gewaltvolle Pläne, um den großen Fisch, den der andere entdeckt, zu fangen. Es gelingt. Doch der Fisch entspricht nicht der Norm, ist auf seine Länge von 60 bis 70 cm zu dünn, der Bauch ist nicht, wie er sein sollte. Er registriert das – und akzeptiert es. Er will die Familie zusammenhalten, auch wenn sie nicht perfekt ist. Denn dieser Fisch ist die Familie.

Das lassen wir kurz sacken.

Denn dann kommt das:
Sie streiten sich um den Fisch. Er muss ihn mit dem Jungen teilen, weil er keine Lust hat, gegen den Kleinen zu kämpfen. Also schneidet er den Fisch mit einem Messer durch, am Ende reißt er ihn auseinander. Und das ist wichtig. Denn zu Beginn heißt es: „Mom hatte mir schon einmal erzählt, daß er die Familie auseinanderreißen wolle.“ (S. 93)
Die Familie wird auseinandergerissen.

Puh.

Nachdem wir sozusagen einen Streit um die Familie gesehen haben, geht der Protagonist nach Hause. Voller Stolz. Dort findet er seine Eltern vor – streitend. Wenn ihr mich fragt: Um die Kinder.
Er versucht, die beiden abzulenken, präsentiert ihnen seinen Fang. Seine Mutter hält die Fischhälfte für eine Schlange, ekelt sich. Das lässt sich ebenso deuten wie die Reaktion des Vaters, der sich kurzzeitig auf ihre Seite schlägt und befiehlt, das Ding, das letztlich silbrig schimmert, wegzuschmeißen. Sie sind sich, ohne es jemals auszusprechen, einig: Die Familie hat keine Zukunft.  

Wenn ich sehe, dass die Mutter Edna heißt und der Vater kurz danach das Evangelium ins Spiel bringt, könnte das von Bedeutung sein. Gibt sie jemanden frei?

Ich glaube, dem Erzähler wird am Ende bewusst, dass ihm lediglich eine Hälfte bleibt, keine ganze Familie mehr, nur noch eines: die zweitbeste Lösung.

Sechzig Morgen

Originaltitel: Sixty Acres

Inhalt

Ein Mann zwischen Traditionen und frischem Wind:

Lee Waite gehören dadurch, dass seine Brüder früh getötet wurden, 60 Morgen Land. Ob er sie verpachten soll? 

Meine Gedanken 

Der 32-jährige Lee Waite lebt mit seiner Frau Nina, seinen Söhnen Benny und Jack sowie seiner 70-jährigen Mutter in einem kleinen Haus. 

Als er den Anruf von dem Indianer Joseph Eagle bekommt, dass zwei Männer auf seinem Stück Land von Toppenish Creek jagen, macht er sich widerwillig auf den Weg. Er stellt die Jugendlichen, tut ihnen aber nichts. Zurück zu Hause, ist es ihm unangenehm, sie laufen gelassen zu haben. Warum?

Ich denke, der Protagonist ist hier in einem Zwiespalt: an Traditionen festhalten oder nicht?

Seinerzeit wäre es normal gewesen, die Jungen zu erschießen. Er tut es nicht. Weil sie ihn an seine Brüder erinnern, die früh umgebracht wurden? An seine Söhne?

Er denkt darüber nach, das Land an einen Jagdclub zu verpachten. Seine Frau ist dafür, sagt es aber nicht. Seine Mutter beobachtet ihn lediglich. 
Es würde der Familie finanziell helfen. Er hängt nicht daran – und gleichzeitig tut er es doch. Der letzte Satz ist – mal wieder – von besonderer Bedeutung für mich: „Und dann wollte er die Handteller wölben, damit das Rauschen ertönte, wie der brausende Wind, der aus einer Muschel kommt.“ (S. 130)
Eine Muschel. Sie symbolisiert genau, was der Mann fühlt: Da ist dieses Stück Land, das ihm im Prinzip nicht viel bedeutet. Doch es gehört eigentlich, hätte das Schicksal nicht zweimal hart zugeschlagen, nur zu einem Drittel ihm. Das weiß auch seine Mutter. Die anderen Teile wären nach dem Willen seines Vaters den Brüdern zugefallen. Zudem hat er als kleiner Junge oft dort gespielt. Und dieses wertvolle Innere, die Perle, nämlich die Erinnerung an seine Kindheit und Verbindung zu seinen Brüdern, die findet sich in der genannten Muschel wieder. 

Was soll er tun? An der Tradition festhalten? Frischen Wind in sein Leben bringen, wohingegen seine Mutter sich gegen jeden Luftzug abzuschotten versucht? Alles deutet darauf hin, dass er ein Wächter wider Willen ist, den ursprünglichen Dingen nichts abgewinnen kann (er wünscht sich, der alte und traditionell lebende Indianer würde ihn in Ruhe lassen, hat eine Abneigung gegen die alten Gebäude von Fort Simcoe, kann mit dem Lachsspeer nichts anfangen). Aber was ist die richtige Entscheidung?

Man könnte denken, dass das Ende offen ist. Man könnte aber auch annehmen, dass die geschlossenen Augen seiner Mutter eine Bedeutung haben. Letzteres tue ich.

Was ist in Alaska?

Originaltitel: What‘s In Alaska?

Inhalt

Eine Geburtstagsfeier, vier Erwachsene auf einem Trip – und viele Andeutungen.

Meine Gedanken

„Was ist in Alaska?“ ist die Kurzgeschichte des Sammelbandes „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“, die mich wohl am meisten amüsiert hat – zumindest zeitweise.

Unsere Hauptfiguren, Carl und Mary, sind anlässlich eines Geburtstags bei Jack und Helen eingeladen, um Wasserpfeife zu rauchen. Die Story besteht größtenteils aus Gesprächsfetzen, die nicht immer ernstzunehmen sind, da die Figuren allesamt high werden. Umso wichtiger sind die Handlungen. Und die sagen mir zunächst einmal Folgendes:

Carl steht nicht mit den anderen auf einer Stufe.

Oft habe ich im Zusammenhang mit ihm an ein Kind gedacht, da er sich so benimmt und behandelt wird: Kinder brauchen oft neue Schuhe und lassen sich beim Aus- und Anziehen helfen, sie haben es auf die Schokoriegel im Kassenbereich abgesehen, werden anders angesprochen (Jack begrüßt und verabschiedet ihn extra, er ist kein Teil von „allseits“), gerne mal korrigiert, bedient und freuen sich auf ihre Weihnachtsgeschenke.

Wichtig ist, dass er bei dem Schuhkauf, mit dem die Story beginnt, ausdrücklich „etwas Bequemes“ sucht. Man muss hier bedenken, dass Schuhe noch eine ganz andere Bedeutung haben können, eine, die in den erotischen Bereich weist. Dass er etwas Unauffälliges und Ruhiges in beige wählt, ist bedeutsam, denn ein Blick auf Mary zeigt das Gegenteil: 

Von ihr geht vieles aus, das in eine erotische Richtung weist: Dampf umhüllt sie, sie legt ihre Hand auf Carls nackten Schenkel (er reagiert nicht darauf). Als Jack die Pfeife aus dem Schlafzimmer holt und präsentiert, beobachtet sie ihn (ihn und nicht die Pfeife) mit gefalteten Händen (als bete sie ihn an). Die Art, wie sie raucht. Jacks Angebot von einem Eislutscher, das sie bereitwillig annimmt. Sie umarmt ihn von hinten, als sie in die Küche gehen. Da ist etwas. Etwas, dem Carl nicht gewachsen ist.

Köstlich zu lesen ist die Szene mit der Katze, etwa wenn Helen sie wegen der Kindersachen aus dem Bad haben will oder Jack sagt: „Cindy muß lernen zu jagen, wenn wir nach Alaska wollen.“ (S. 143) Oder als Mary Helen fragt, ob sie die Katze denn nie füttere (S. 144). Oh Mann. Es ist leider lustig. Aber nun zu Alaska:

Der Titel hat damit zu tun, dass Mary ein Vorstellungsgespräch hatte. Zunächst ist Carl begeistert, später, das unterstreicht wieder, wie weit sie voneinander entfernt sind, fragt er sie, was er dort tun wird, vielleicht diese riesigen Kohlköpfe züchten, über die Mary gelesen hat. Als sich der Abend dem Ende zuneigt, ist zu viel passiert. Auf Jacks Frage: „Was ist nun mit Alaska, ihr zwei?“, antwortet er: „In Alaska? Da ist nichts.“ (S. 141)

Um noch einmal auf die Schuhe zurückzukommen:
Es die Cream Soda, von Jack dauernd ins Spiel gebracht und verteilt, die über Carls Schuhe läuft und sie beschmutzt. Fortan passen sie ihm nicht mehr richtig, sie passen nicht mehr zu ihm. Er will sie sogar weitergeben, aber Jack greift, abgelenkt von der Katze, diesem Raubtier, nicht zu. 
Am Ende, Mary (diese außer Kontrolle geratene Frau) schnarcht, nimmt er sie als potenzielles Wurfgeschoss – und dieses Lauern spricht Bände. Er ist auf der Hut.

Abendschule

Originaltitel: Night School

Inhalt

Ein Mann (arbeitslos, von seiner Ehefrau getrennt, neu liiert) trifft in einer Bar auf zwei Frauen, die auf der Suche nach einem Auto sind.

Meine Gedanken

„Abendschule“, diese zehnte Story aus „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“, hat es mir schwer gemacht. Aber ich versuche es:

Wir haben hier einen Ich-Erzähler, der in einer Bar sitzt und von zwei Frauen angesprochen wird. Die eine wird immer nur „die erste Frau“ genannt (soll sie für seine getrenntlebende Ehefrau stehen?), die zweite kriegt im Verlauf einen Namen: Edith. 

Interessant ist, dass da steht, dass seine Ehe gerade auseinandergegangen ist. Im übernächsten Satz heißt es, er hat eine neue Freundin. So schnell kann’s gehen.

Die Frauen wollen den Lehrer ihres Abendkurses besuchen, Patterson. Sie sagen, sie hätten „was gegen ihn in der Hand“. Außerdem lassen sie fallen, dass der Protagonist sie an Patterson erinnert. Überschneidungen könnten der Alkoholkonsum und die Einsamkeit sein. Auch dass der Lehrer eine Vorliebe für ein Getränk namens Highball hat, lässt sich deuten, wenn man weiß, woher der Begriff kommt, Stichwort Eisenbahn, das Gegenteil des Autos, das eine wichtige Rolle spielt: 
Der Ich-Erzähler hat eines, das bei seiner (Ex-) Frau ist. Manchmal nutzt er das seiner Eltern, aber am fraglichen Abend hat seine Mutter den Schlüssel mitgenommen, obwohl sie das Auto stehengelassen hat. Sein Vater, ein Holzfäller, der durch einen Unfall seine Arbeit verloren hat, hat somit ebenfalls keinen Zugang zu dem Auto.
Ein Auto steht für Autonomie und Selbstbestimmung. Die Männer in der Geschichte haben aber keine Wahl, keine Kontrolle (das betont auch der Alptraum). Sie wandeln auf vorgegebenen Strecken.
Patterson wird nicht angerufen und gefragt, ob er Besuch empfangen will, der Vater ist ausgebremst. Der Ich-Erzähler springt sofort auf die Frage der Frauen nach einem Auto an, ist bereit, sie zu fahren, obwohl er betrunken ist. Hauptsache er kriegt weiterhin das eine oder andere Bier (und kann seine Gefühle betäuben). Auch seine Pläne (bei seiner Mutter im Restaurant essen, in Zeitungen blättern, lesen) zeigen, dass er alles versucht, um sich abzulenken. 

Als er den Autoschlüssel holen will und seinem Vater von den Vorkommnissen erzählt, fragt der besorgt: „Du hast ihnen doch hoffentlich nicht gezeigt, wo wir wohnen?“ Sie sind eine Bedrohung. Von der er sich sofort mithilfe des Fernsehers abzulenken versucht.
Dass sie unterhalb des Fußweges, im Keller, wohnen, unterstreicht den Schutz, die Zuflucht, den ihnen dieses Zuhause bietet. Der Erzähler versteckt sich vor neuem Ärger.

Eintreiber

Originaltitel: Collectors

Inhalt

Ein Mann kriegt Besuch, weil Mrs. Slater, die nicht bei ihm wohnt, etwas gewonnen hat: eine kostenlose Wohnungsreinigung.

Meine Gedanken

Wir haben hier einen Mann, der von Aubrey Bell, dem Überbringer des Gewinns für Mrs. Slater, aufgesucht wird. Bell geht davon aus, dass es sich um Mr. Slater handelt – und ich habe mich angeschlossen, obwohl er versucht, die Frage offenzulassen.

Auch Aubrey Bell ist ein Rätsel. Von ihm wissen wir den Namen, sonst nichts. Kommt er tatsächlich, um diese Art Gewinn einzulösen? Die Angst des Mannes vor dem Postboten und anderem Besuch, der Titel der Story, „Eintreiber“, sowie das, was Bell sagt, könnten für etwas anderes sprechen:
„Jeden Tag, jede Nacht unseres Lebens lassen wir winzige Teilchen von uns zurück, Schuppen und Flokken von diesem und jenem.“ (S. 160)
(Die Anführungszeichen kennzeichnen das Zitat – in der Story gibt es keine, was die vorherrschende Verwirrung und Verschleierung verstärkt.)

Meiner Meinung nach handelt es sich sehr wohl um Mr. Slater, schließlich stimmt die Adresse, die Mrs. Slater auf ihrer Postkarte angegeben hat und er behauptet auch nie das Gegenteil. Dass er seinen Namen nicht bestätigt, liegt daran, dass er sich weiterhin versteckt halten, sich vor seinen Problemen drücken will. Er bestreitet sogar, dass ihm die Matratze im Schlafzimmer gehört. Wie glaubwürdig ist das?

Und die „gute Fee“, die ist für mich ein Eintreiber auf Ausspähung. Indem er dem Mann die Filter nach jeder Reinigung zeigt, führt er ihm vor Augen, wie viel sie bereits von ihm haben. Sie sammeln kleinste Informationen und Beweise. Er kann nicht entkommen. Das wird durch die Antwort auf die Frage deutlich, ob der Mann ein Auto hat:
„Ein Auto habe ich nicht. Wenn ich ein Auto hätte, würde ich Sie irgendwohin fahren.“ (161)
Hauptsache weg, nicht wahr? Er will ihn loswerden, von Anbeginn an. Weil er etwas verbirgt. Seinen Namen. Seine ganze Person.

Letztlich fällt ein Brief durch die Tür – und beide registrieren das. Sie reagieren darauf. Slater will ihn haben, aber Bell schneidet ihm immer wieder den Weg ab. Als Bell geht, nimmt er den Umschlag, an Mr. Slater adressiert, mit. Da der seine Identität nicht preisgibt, kann er nichts dagegen sagen – wäre er nicht Mr. Slater, hätte er ebenso wenig ein Anrecht auf das Schreiben wie Bell.
Aber er ist Mr. Slater. Und es wird eng für ihn.

Was machen Sie in San Francisco?

Originaltitel: What Do You Do In San Francisco

Inhalt

Ein Postbote fühlt sich an ein Paar erinnert, das kurz in seinem Wohnort Arcata gelebt hat. 

Meine Gedanken

Die Geschichte, Nummer zwölf aus „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“, startet mit einem Satz, an dem ich direkt hängenbleibe: „Das hier hat nichts mit mir zu tun.“ (S. 167) Die Worte werden noch wichtig, denke ich mir – und das stimmt. 

Der Ich-Erzähler, ein Briefträger namens Henry Robinson, seit 20 Jahren geschieden, ohne Kontakt zu seinen zwei Kindern, erzählt uns von den Marstons. Die Familie, ein Paar mit drei Sprösslingen, ist Anfang letzten Sommers in ein Haus, das in seinem Zustellbezirk liegt, gezogen, aber inzwischen schon wieder weg. 

Lee, der Mann, war ein arbeitsloser Bartträger. Seine Frau, eine Malerin, soll seine Erwerbslosigkeit gefördert haben, keine gute Ehefrau und Mutter gewesen sein. Ich nehme das so wenig ernst wie die Gerüchte, von denen Henry uns erzählt.

Der Briefträger erinnert sich an die Marstons, weil er auf einen Zeitungsartikel stößt. Es ist ein Bericht aus San Francisco. Ich glaube, dass er die Nachrichten dort extra und nicht zufällig verfolgt. Und zwar deshalb: 

Wie immer interessiert mich der Titel der Kurzgeschichte. Er lautet: „Was machen Sie in San Francisco?“ Einmal im Text fällt der Satz, aber nur so ähnlich. Es geht darum, dass die Familie berichtet, aus San Francisco nach Arcata gekommen zu sein (14 Stunden haben sie gebraucht. „Mit diesem verdammten Anhänger im Schlepptau.“ (S. 170). Ein Hinweis darauf, dass sie ihren Ballast mitgebracht haben; die Ehe wird durch den Umzug nicht gerettet. Weitere Vorboten sind die Tatsache, dass sie den Namen am Briefkasten nie ändern, Henrys Spruch: „Man kann nie wissen, was aus dieser alten Posttasche eines Tages zum Vorschein kommt.“ (S. 171), Unkraut, gelbes und vertrocknetes Gras, der unbekannte Sportwagen, umgedrehte Bilder sowie die verhüllte Staffelei. Es war absehbar).
San Francisco, das ist eine Übereinstimmung, ein erstes Thema zwischen Henry und der Familie, denn er ist alle paar Monate in San Francisco. Die Frau fragt ihn: „Was haben Sie in San Francisco gemacht?“ Nun könnte die Geschichte auch so heißen. Tut sie aber nicht. Er ist mehrmals pro Jahr da – und in Gedanken vermutlich noch viel öfter. Denn ich habe eine Idee dazu:
Er antwortet auf ihre Frage: „Ich geh zur Fisherman’s Wharf und seh mir ein Spiel der Giants an. Das ist mehr oder weniger alles.“ Mehr oder weniger, ja? Warum so vage? Weil die Wahrheit eine andere ist: Das ist absolut nicht alles. Das ist so wenig alles wie die Behauptung stimmt, dass die Geschichte nichts mit ihm zu tun hat.
Ich glaube, dass er mit seiner Familie dort gelebt hat (was sein könnte, denn auf S. 167 sagt er: „Ich habe mein Leben lang an der Westküste gelebt, mit Ausnahme von drei Jahren, die ich während des Krieges bei der Armee verbracht habe.“ Der Krieg wird später noch einmal erwähnt, vermutlich ist in dieser Zeit seine Ehe gescheitert).
Ich denke, dass er Erinnerungen an San Francisco hat, von denen er nicht loskommt, so sehr er es auch versucht. Denn das tut er, jeden verdammten Tag. Seine Arbeit, die er
seit 1947 hat, wie er es ganz genau zu nennen weiß, ist seine Zuflucht, seine Ablenkung. Er sagt es sogar selbst: „Ein Mann, der nicht arbeitet, hat zuviel Zeit an der Hand, zuviel Zeit, um über sich und seine Probleme nachzudenken.“ (S. 167)
Und dann taucht diese Familie aus San Francisco auf und ein ähnliches Drama wie in seiner eigenen Ehe spielt sich ab. Die Frau, in deren Nähe er sich unbehaglich fühlt, die Kinder, die plötzlich weg sind, das Warten, die Hoffnung – er hat das alles schon einmal erlebt. Deshalb die Verbindung zu Lee. Darum hat er so gute Tipps für ihn: Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit. Um zu vergessen. Zumindest zeitweise.

Die Frau des Studenten

Originaltitel: The Student’s Wife

Inhalt

Ein Ehepaar. Der Mann will schlafen, die Frau nicht.

Meine Gedanken

In „Die Frau des Studenten“ von Raymond Carver haben wir ein Ehepaar, das unterschiedliche Bedürfnisse hat. Der Mann will schlafen, die Frau kann es nicht – und will auch nicht, dass er, Mike, schläft. Warum?

Zunächst fällt auf, dass er sie wie ein Kind behandelt: Er liest ihr vor, erinnert sie daran, dass es spät ist, bereitet ihr ein Sandwich vor, das er ihr auf einer Untertasse serviert, kümmert sich um ihre „Wachstumsschmerzen“. 

Sie, genannt Nan, schwelgt in Erinnerungen an einen Fischfang, der sogar bei Fremden für Aufmerksamkeit sorgte. Da war Mike erfolgreich. Er versucht, die Gedanken daran wegzuschieben.
Über diese Zeit sagt sie: „Wir hatten gerade erst die High School hinter uns. Du hattest noch nicht mit dem College angefangen.“ (S. 183) Ich glaube, dass das signalisiert, dass sie ihm schon immer einen Schritt voraus war. Deshalb werden ihre schmerzenden Beine erwähnt. Sie ist in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt durch ihn, der nicht vorankommt, keinen Fisch mehr fängt. Die „Wachstumsschmerzen“ bedeuten für mich, dass sie dem Leben mit ihm, in dem sie kein Geld haben und fast jedes Jahr umziehen, entwachsen ist. Er ist, angelehnt an den Titel, der ewige Student, aber sie will – tief drinnen – weiter. 

Dass er sie „Nan“ nennt, lässt mich an eine Oma denken. Es bestärkt, dass sie reifer ist als er.
Mit zehn oder elf war sie so groß wie heute, behauptet sie. Das ist eindrücklich. Sie darf nicht weiter wachsen, hält sich klein. Der Traum beweist das. Sie macht es, obwohl es ihr weh tut.

Um auf den Schlaf zurückzukommen: Sie wacht auf, als er das Licht löschen will. Sie befürchtet, er könnte schlafen. Ich glaube, dass sie die Starre zu vermeiden versucht, in der sich ihr Leben sowieso befindet. Es widerstrebt ihr, zu ruhen, zu verharren.

Am Ende beobachtet sie einen Sonnenaufgang und empfindet ihn als schrecklich. Weil er Hoffnung symbolisiert und Neues. Auch Liebe. Aber die Liebe bringt ihr momentan nichts Gutes, nicht wahr? Und wenn die Hoffnung auf Neues, im letzten Absatz schläft er einen „schweren Schlaf“, immer wieder enttäuscht wird, kann das nicht schön sein.

Versetzen Sie sich in meine Lage

Originaltitel: Put Yourself In My Shoes

Inhalt

Ein Schriftsteller und seine Frau besuchen die Morgans, in deren Haus sie zeitweise lebten.

Meine Gedanken

„Versetzen Sie sich in meine Lage“ war für mich eine der schwierigeren Kurzgeschichten in „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“. Ich habe sie so verstanden:

Wir haben hier einen Mann, Myers, der beim Staubsaugen (er tut dies sehr gründlich) von seiner Frau Paula gestört wird. Sie ruft an, um ihn zu einer Büroparty einzuladen. Er hat früher dort gearbeitet, aber gekündigt, um Schriftsteller zu werden. Seitdem lebt er, wie sein ehemaliger Vorgesetzter Carl es nennt, im „Elfenbeinturm“. 

Sofort fallen mir die ständigen Rückfragen auf, „Myers?“ ist an viele Sätze seiner Frau angehängt – als ob sie sich rückversichert, dass er zuhört. Denn er muss nur zuhören, um aus seiner Schreibblockade herauszukommen, oder? Der Meinung sind später auch die Morgans, die sie auf Paulas Idee hin besuchen.

Die Schreibblockade mache ich nicht nur am exzessiven Staubsaugen fest, sondern auch daran, dass seine Frau behauptet, er würde jeden Tag schreiben, er das aber Hilda Morgan gegenüber widerlegt. 
„Er versuchte alles genau zu sehen und es sich für später aufzuheben.“ (S. 193) deutet für mich darauf hin, dass er dabei ist, neuen Stoff zu sammeln.
Der oft genannte Schnee könnte seine Erstarrung symbolisieren; dass sie über einen „Schneeberg“ steigen, könnte die Mühe darstellen, aber auch darauf hinweisen, dass er sie bald hinter sich lässt.
Ich glaube, dass es  vordergründig um das Thema Schreiben geht, was auch zum Titel passt.

Die Myers besuchen also die Morgans. Buzzy, deren lebhafter Hund, bringt Myers zu Fall, als sie das Grundstück betreten, später geht ihm Edgar Morgan an den Kragen.
Ich denke, dass Myers schnell überwältigt ist (dass er auch deshalb nicht in die Stadt will). Er legt Wert auf Schutz und Isolation. Aber als Schriftsteller muss er in das Leben anderer eindringen, was hier nicht nur im übertragenen Sinne geschehen ist – und die Morgans überhaupt nicht zu schätzen wissen.

Die Namensgebung in dieser Story ist interessant. Edgar ist „der seinen Besitz mit dem Speer Verteidigende“, Hilda ebenfalls eine „Kämpferin“. Das passt. Sie lassen nicht einmal ihren Hund in ihr Haus. Auch die Einladung an die Myers wurde nicht ohne Hintergedanken ausgesprochen: Die Morgans haben noch eine Rechnung offen mit ihnen. Dabei geht es um das eine Jahr, in dem sie in Deutschland waren und die Myers in ihrem Haus lebten, ggf. eine Katze hielten (was stimmen könnte, Myers saugt in der Anfangsszene die Haare weg) und (eventuell) in deren persönlichen Sachen wühlten. Das könnte sein oder nicht, denn als Schriftsteller muss man in das Leben der Figuren eintauchen, alles von ihnen kennen, ja, sogar den Musikgeschmack. Allerdings schreibt ein Schriftsteller eben nicht wahllos über jede hingeworfene Idee, wie die Morgans erkennen müssen. Vieles ist Fantasie – wie sie auch das Paar hat.

Die Geschichte spielt zur Weihnachtszeit, Kinder sind unterwegs, um zu singen und Häuser zu segnen – zu dem der Morgans gehen sie nicht, was Hilda in Tränen ausbrechen lässt (es wurde in ihre Privatsphäre eingedrungen, ein Haussegen verspricht Schutz).
In Vorbereitung des Fests packt Mrs. Morgan Geschenke ein – und das größte geht an Myers, ohne dass sie es ihm machen wollte. Denn im Laufe des Abends wandelt sich Myers, seine Stimmung. Anfangs lustlos und mürrisch, ist er letztlich fröhlich, lacht, kriegt sich kaum ein. Im letzten Satz heißt es: „Er war ganz am Ende einer Geschichte.“ (S. 212)

Abschließen möchte ich mit der Stelle, an der er seinen Namen an die Fensterscheibe schreibt. Das ist interessant. Denn es ist das Versetzen in die Lage aller, das Füllen von Lücken, von dem, das man nicht sieht; es ist sein Blick auf die Dinge, seine Deutung der Geschehnisse, die es ihm ermöglichen, die Geschichte niederzuschreiben, so dass ein Buch entsteht, auf dem sein Name prangt.

Jerry und Molly und Sam

Originaltitel: Jerry and Molly and Sam

Inhalt

Der 31-jährige Al will den Familienhund Suzy (und eigentlich seine Probleme) loswerden.

Meine Gedanken

Protagonist Al hat sein Leben nicht im Griff: Sein Arbeitgeber entlässt im großen Stil, im Übrigen hat er eine Affäre, die er weder beenden noch weiterführen will. Alles, wirklich alles entzieht sich seiner Kontrolle: „Er sah sie an, mit einem starren Ausdruck in seinem geschwollenen Gesicht, den er spürte, aber nicht verändern konnte.“ (S. 224) 

Obwohl seine Kids Alex und Mary an dem Hund hängen, beschließt er, ihn loszuwerden. Es macht den Eindruck, als würde Al seine Sorgen und Ängste, den ganzen Ärger auf Suzy projizieren. Er verspricht sich viel davon, wenn sie weg ist. „Jedes Handeln war besser als Untätigkeit, davon war er immer mehr überzeugt.“ (S. 213) Das „Verschwinden“ des Hundes ist eine der wenigen Sachen, die er entscheiden kann. 

Dass sein Arbeitgeber, der die Kündigungen ausspricht, Aerojet ist, dass er zu einem Getränk namens „Lucky“ greift, das halte ich nicht für einen Zufall. Er droht seinen Antrieb zu verlieren, sucht seine Lebensfreude. Und hier kommt der Titel ins Spiel:
Nachdem er Suzy weggebracht hat, trifft er in einer Bar auf Jerry und Molly. Letztere ist eine junge Frau, er bezeichnet sie als Mädchen, womit sie die Jugend symbolisiert, die er sich wünscht, während er überlegt, wie er seine kahle Stelle überkämmen soll. Er will sie mitnehmen (so hat es mit Jill, seiner Affäre, angefangen). Der Barmann, Jerry, ist gut im Reparieren. Das wäre Al auch gern. Und mit Sam haben wir den Irischen Setter seiner Kindheit, einen Jagdhund, einen Familienhund, ein Tier, das ihn an glücklichere – sorgenfreie – Tage erinnert. All das will er. Ein bisschen von Jerry und Molly und Sam. Und nicht das: „Sandy! Betty und Alex und Mary! Jill! Und Suzy, der gottverdammte Hund! Das war Al.“ (S. 215) Das ist Al – und er will es nicht sein.

Seltsam mutet die Szene an, in der er bei seiner Geliebten, die er eingangs ebenfalls als Mädchen bezeichnet, auftaucht. Denn Jill drückt ihm mit ihren starken Fingern einen Mitesser aus. Tja, sie ist diejenige, die alles im Griff hat, ihn ablenkt, ihn seine Makel kurzzeitig vergessen lässt, oder?

Letztlich, von Schuldgefühlen überwältigt, geht er auf die Suche nach Suzy. Er hat seiner Familie das angetan, das ihm widerfährt: Er hat ihnen den Hund weggenommen, sie können ihn rufen, solange sie wollen, nur Al hat eine grobe Ahnung, wo er ist.
Tatsächlich findet er Suzy. Aber die hat andere Pläne. Und er erkennt: „Die Welt war voller Hunde. Es gab solche Hunde, und es gab solche. Nur daß man mit manchen Hunden nichts anfangen konnte.“ (S. 231)
Es gibt solche Entscheidungen und solche, es gibt solche Phasen und solche. Mit manchen kann man nichts anfangen, aber man kann andere Entscheidungen treffen – und es werden andere Zeiten kommen.

Warum, mein Schatz?

Originaltitel: Why, Honey?

Inhalt

Eine Frau bekommt einen Brief von einem Unbekannten. Wir lesen in „Warum, mein Schatz?“ ihre Antwort – und kriegen damit einen Einblick in ihre Erlebnisse, als ihr Sohn ein Teenager war. 

Meine Gedanken

Ihr Sohn ist ungefähr 15, als es anfängt. Zunächst, so muss es wohl sein, tötet er Trudy, die Katze der Familie. Ständig lügt er über Kleinigkeiten – und verheimlicht Großes.
Die Erzählerin findet ein blutiges Hemdknäuel in seinem Kofferraum, ein paar Tage später verschwindet er. Sie sieht ihn nie wieder, zumindest nicht von Nahem.

Ihr Sohn wird  ins Amt des Gouverneurs gewählt und berühmt. Über seine Vergangenheit und dunkle Seite wird nichts bekannt. Bezeichnend, dass sie sich hier zu sorgen beginnt und aufhört, ihm zu schreiben, was sie zuvor häufig getan hat, ohne eine Antwort zu bekommen.

Obwohl sie umgezogen ist, ihren Namen geändert hat und niemand weiß, dass sie mit ihm verwandt ist, bemerkt sie Autos, bekommt Anrufe, ohne dass sich jemand meldet. Sie hat Angst.

Die Story ist düster und für mich die spannendste aus der Sammlung „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“. Dass die Frau sie quasi als Ich-Erzählerin erzählt, da sie ja einen Brief schreibt, war die richtige Entscheidung.

Nun könnte man meinen: Sie drückt sich so vage aus, siezt den Unbekannten, dem sie ihre Zeilen widmet, sie weiß nicht, an wen sie ihre Worte sendet, sie will einfach ihr Herz ausschütten, an wen auch immer. Ich glaube das nicht.

Ich bin überzeugt davon, dass sie weiterhin versucht, herauszufinden, was ihren Sohn angetrieben hat. Weshalb er nicht einmal ihr gegenüber ehrlich sein konnte. 
Wir haben hier diese Sätze, die sie damals zu ihrem Sohn sagt:
„Warum lügt er, würdest du dich fragen, was hat er davon, ich verstehe es nicht. Ich frage mich immer wieder, warum, aber ich weiß keine Antwort. Warum, mein Schatz?“ (S. 238)
In ihrem Brief schreibt sie nun:
„Wenn Sie ein mächtiger Mann sind und jemanden finden wollen, dann finden Sie ihn auch, es dürfte gar nicht so schwer sein.“ (S. 239) 
UND letztlich: 
„Ich wollte Sie auch fragen, wie Sie meinen Namen bekommen haben und wußten, wohin Sie mir schreiben mußten, ich habe gebetet, daß niemand es erfährt. Aber Sie haben es herausgekriegt. Warum? Bitte sagen Sie mir, warum.“ (S. 240)

Sie ist noch immer voller Unverständnis und auf der Suche nach einer Erklärung. Könnte ihr ein Fremder diese geben? Nein. Der Einzige, der das könnte, ist ihr Sohn.
Die Szene, in der er ihr befiehlt, auf die Knie zu fallen, sagt es voraus: Er steht über den Dingen. Über ihr. Sein Aufsatz (über die Beziehungen zwischen dem Kongress und dem Supreme Court) weist ebenfalls in diese Richtung. Er kennt sich aus mit den Machtverhältnissen.
Ihr Sohn ist ihr fremd geworden und inzwischen berühmt. Sie fürchtet ihn, hat das Gefühl, er beobachtet sie, wie sie auch niederschreibt. Das kann er ruhig wissen, das soll er sogar, er soll diesen Zustand beenden und sich ihr anvertrauen.
Dass sie den Mann in ihren Zeilen siezt und sich auffallend förmlich ausdrückt, zeigt ihre Distanz. Indem sie betont, dass er ein guter Junge war (abgesehen von…), macht sie deutlich, dass er ihr noch immer viel bedeutet. Dass sie nicht nur die Schattenseiten sieht. 

Die namenlose Frau unterschreibt den Brief nicht. Dort steht: „Hochachtungsvoll, Ihre“  (S. 240) Man könnte wild spekulieren: Wird ihr etwas angetan, ehe sie ihn beenden konnte? Von ihm? Ich glaube das kein bisschen. Ich denke, dass sie hier „Ihre Mutter“ schreiben müsste. Aber das geht ja nun wirklich nicht. Also lässt sie es offen. Ihre … – er kann sich den Rest denken. Was auch immer er für akzeptabel hält.

Enten

Originaltitel: The Ducks

Inhalt

Durch den Tod seines Vorgesetzten wird ein Mann an seine eigene Sterblichkeit erinnert – und zweifelt an seinem Leben.

Meine Gedanken

Wir haben in „Enten“ von Raymond Carver zwei namenlose Figuren: „Er“, ein Mann, „sie“, seine Frau. Und um die beiden, insbesondere ihre (gemeinsame?) Zukunft geht es hier.

Die Geschichte beginnt damit, dass „Enten in schwarzen Explosionen vom See“ (S. 241) aufgescheucht werden. Die meisten von ihnen fliegen zu zweit. Ich habe Google befragt, weil ich dachte: Hey, geht es hier um das Thema Monogamie? Die Antwort ist: Enten leben im Gegensatz zu vielen anderen Vogelarten nicht dauerhaft monogam. Überwiegend hält die Verbindung nur eine Saison. Ein Hinweis? Möglicherweise, denn im Verlauf wird erwähnt, dass sie ihre Menstruation hat – ein Zyklus ist zu Ende gegangen, ein neuer beginnt.

Das Wetter spielt eine große Rolle, der Wind bringt alles in Bewegung, es „knallten Laken und Decken wie Schüsse im Wind“. (241) Es regnet stark. Die Atmosphäre ist unheilvoll.

Es fällt auf, dass die beiden zunächst kaum zusammen sind. Eingangs zerteilt er Holz (was für die Spaltung, Entzweiung stehen kann), es steht im Raum, dass er jagen will, er fährt zur Arbeit. Sie spricht es sogar aus: „Es kommt mir so vor, als wärst du dauernd fort.“ (S. 242) Sie sagt es nicht zu ihm, sondern durch ein Fenster (das die Distanz und Trennung unterstreicht), wobei sie ihren Atem auf dem Glas verschwinden sieht (Vergänglichkeit).
Sie ist ihm zugewandt, sucht seine Nähe und spricht ihre (positiven) Gefühle aus. 
Er hingegen geht auf Abstand.

Ich glaube, dass ihn der Vorfall in der Sägemühle (sein Vorgesetzter stirbt unerwartet) aufweckt. Er ist seine „schwarze Explosion“. Ein Todesfall kann uns aus dem Leben werfen, aber er kann uns auch hineinschmeißen. Er fängt an, alles zu hinterfragen. Ob er sie liebt. Ob er weggehen soll. Er sagt: „Ich würde gern da hingehen, wo ich herkomme, und meine Leute sehen.“ (S. 247) Es gibt zu diesen Überlegungen, ausgelöst dadurch, dass er mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert wird, mehrere Sätze – und immer sagt er „ich“, nicht „wir“. 

Auffällig ist, dass sie ihn ständig ablenkt. Sie bringt ihn stets wieder auf Kurs. Aber in der Schlussszene schläft sie und wacht auch nicht auf, als er sie zu wecken versucht. Nun liegt er allein da mit dem Regen, den er überall hört, mit der Dunkelheit vor dem Fenster, in der er nichts zu erkennen vermag, mit dem Geräusch, das er draußen wahrnimmt – mit seinen Gefühlen und den Gedanken an die unklare Zukunft.

Und wie findest du das?

Originaltitel: How About This?

Inhalt

Ein Paar entflieht der Stadt und seinen Problemen – mit Erfolg?

Meine Gedanken

Harry, ein Stadtmensch, flüchtet mit seiner Frau Emily in das leerstehende Haus ihres Vaters. Sie, eine Malerin, ist hier, es steht im nordwestlichen Teil des Staates Washington, aufgewachsen. 
Über ihn erfahren wir: „Er war zweiunddreißig Jahre alt und war sozusagen Schriftsteller, aber er war auch Schauspieler und Musiker.“ (S. 251) Sozusagen ein Schriftsteller, okay. Sein Schauspieltalent zumindest beweist er im Verlauf.

Schon auf der Fahrt überfällt ihn die Hoffnungslosigkeit. Er kann sie kaum ansehen – und es wird deutlich, dass es nicht nur um einen Umzug geht, es geht auch um die Zukunft ihrer Beziehung. Das wird von dem „halbfertigen schattigen Porträt von einem Mann und einer Frau“ (S. 252), an dem sie arbeitet, unterstrichen. Dass sie ihn dauernd ansieht, signalisiert mir, dass sie es fertigmalen will. Sie versucht, seine Signale zu lesen. Sie erwartet eine Entscheidung.

Er hatte den Wunsch, ein neues, einfacheres Leben zu beginnen – und ist doch schockiert über die Zustände des Hauses. Er hatte sich einen Kamin vorgestellt, den es genauso wenig gibt wie Elektrizität oder eine Toilette. 
Ich glaube, dass das Haus für die Beziehung der beiden steht. Zwar bemerkt er die soliden Grundmauern, muss aber seine Enttäuschung verbergen. Er weiß, dass es harte Arbeit ist, die Beziehung zu retten. Wie viel Wahrheit steckt darin, wenn er zuversichtlich klingt, etwa wenn er die „verkümmerten Apfelbäume“ „wieder zum Tragen“ kriegen will (S. 252)? 

Im Gegensatz zu Emily fällt es Harry schwer, etwas zu beenden. Seinen Roman, den er vor drei Jahren begonnen hat, die Beziehung. Sie signalisiert ihm, dass er derjenige ist, der sich entscheiden muss: Will er bleiben (in dem Haus, in der Gegend, in der Beziehung) oder gehen (zurück in die Stadt, womöglich allein). Doch obwohl er für sich einen Entschluss gefasst hat, bringt er es nicht über sich, ihn auszusprechen. 
Er weiß, dass sie, die Hochseilakrobatin voller Lebenskraft, über ihm steht. Sie wird akzeptieren, was immer kommt, wird ihre Freude wiederentdecken (Räder schlagen), sich ausbalancieren („Sie ließ sich locker in einen Handstand fallen, gewann ihr Gleichgewicht und begann sich zittrig und schwankend in seine Richtung zu bewegen.“). Doch er … er wird möglicherweise daran zerbrechen.

Fahrräder, Muskeln, Zigaretten

Originaltitel: Bicycles, Muscles, Cigarettes

Inhalt

Ein verschwundenes Fahrrad bringt Vater und Sohn näher zusammen.

Meine Gedanken

Diese Geschichte aus dem Sammelband „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ hat mich berührt.

Es geht um Evan Hamilton, der vor zwei Tagen mit dem Rauchen aufgehört hat. Er kann kaum an etwas anderes denken, riecht den Qualm an seinen Händen. Seine Frau Ann kennt das und prophezeit ihm, dass der dritte Tag besser wird – doch es geht schneller.

An diesem Novemberabend wird Evan von einem fremden Jungen abgeholt. Er soll zum Haus der Millers kommen, da sein Sohn Roger mit einem verschwundenen Fahrrad in Verbindung gebracht wird.
Dort angekommen, trifft er auf drei beschuldigte Kinder: seinen Neunjährigen sowie dessen Freund Kip und einen weiteren Jungen. Letzterer, er heißt Gary Berman, soll Roger sogar gewürgt haben. Hier kriegen wir einen Vorgeschmack auf das, was kommt. Denn die Väter geraten aneinander: Evan geht auf Mr. Bermans Sticheleien ein und sie enden auf dem Rasen.
Vielleicht hätte der Kampf sowieso stattgefunden, vielleicht ist Evan wegen des Nikotinentzugs reizbarer. In jedem Fall sind hinterher alle Beteiligten (die Kinder haben zugeschaut, obwohl sie gehen sollten) schockiert.

Es fällt auf, dass der Vater keine Ahnung vom Leben seines Sohnes hat. Zum einen kennt er Gilbert, der offenbar ein Freund von Roger ist, nicht, weder dem Namen nach noch erkennt er ihn, als sie im Haus der Millers aufeinandertreffen. Zum anderen sagt ihm die Straße, in der Gilbert wohnt, nichts, obwohl diese nur zwei Blocks entfernt ist. 
Sie leben in verschiedenen Welten.

Ich glaube, dass der Streit wegen des Fahrrads die beiden näher zueinander bringt. Zunächst legt Evan auf dem Rückweg den Arm um seinen Sohn, wobei auffällt, dass er ihn wegnimmt, als sie zu ihrem Block zurückkommen. Er ist in seinem Verhalten festgefahren, hat nur in diesem fremden Gebiet anders reagiert als sonst.
Dann will Roger Evans Muskeln spüren.
Anschließend bekommt „Fahrräder, Muskeln, Zigaretten“ ein paar einfühlsame Zeilen:
Roger ist besorgt, schließlich hätte der andere ein Messer ziehen können. Dann gehen sie zur Haustür hinauf und „Es rührte sein [Evans] Herz, als er die erleuchteten Fenster sah.“ (S. 271)
Er setzt sich auf die Veranda und kann sich nur an den einen Kampf seines Vaters erinnern, den er einst beobachtete, nicht an mehr von ihm, obwohl er ihn geliebt hat. Ich glaube, dass er befürchtet, dass es seinem Sohn einmal so gehen könnte. Ihm wird bewusst, dass er keine tiefe Verbindung zu Roger und dessen Leben hat.
Am Schluss führt er ein Gespräch mit seinem Sohn, der nicht einschlafen kann. Es endet damit, dass Roger sagt: „Dad? Du denkst bestimmt, ich bin ein bißchen verrückt, aber ich wünschte, ich hätte dich gekannt, als du klein warst. Ich meine, ungefähr so alt, wie ich jetzt bin. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber wenn ich daran denk, hab ich so ein einsames Gefühl. Es ist – es ist so, als ob ich dich schon vermisse, wenn ich jetzt daran denke.“ (S. 274)
Er bittet ihn, die Tür aufzulassen. Evan entscheidet sich dagegen, er lehnt sie bloß an. 
Ich glaube, der Vater erkennt, wie groß Roger schon ist, wie weit, wie viel er weiß und spürt. Und er will für ihn da sein, ihm helfen, zu wachsen, ihn unterstützen, wie er ihn an diesem Tag unterstützt hat – in jeder Hinsicht.

Dass der Geruch an seinen Händen weg ist, zeigt eine Änderung an. Diesen Kampf hat er gewonnen. Er hat jetzt andere Dinge zu tun, wird sich nun mit anderen Gedanken als mit denen an Nikotin befassen. Er hat Wichtigeres zu tun. Denn er hat einen Sohn, der mit jedem Tag ein bisschen größer wird – und von dem er will, dass er sich an etwas anderes erinnert als an diesen Kampf, den er mitansehen musste.

Was ist denn?

Originaltitel: What Is It / Are These Actual Miles

Inhalt

Leo und Toni stecken in finanziellen Schwierigkeiten. Vor der Anhörung am Montag wollen sie auf Rat ihres Anwalts Tonis Cabrio verkaufen, damit es nicht gepfändet wird.

Meine Gedanken

Wir haben in „Was ist denn“, im Original „Are These Actual Miles“, eine verschuldete Familie, bestehend aus Leo, der in einer Glasfaserfabrik arbeitet, Toni, eine Vertreterin, und den Kindern, die die gesamte Geschichte über bei seinen Eltern sind.
Bei den Großeltern bekommen sie einen Hund, „Mr. six“, was mich nicht losgelassen hat. Was soll dieser Name bedeuten? Hier ist nichts zufällig. Also? Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Vielleicht weil sechs die Hälfte von zwölf, einem Dutzend ist, das am Ende auftaucht? Abgeleitet von der Dutzendware (und davon nur ein halber Teil) stellt es das Gegenteil der Luxusartikel dar, die die Mutter braucht, um glücklich zu sein. Schließlich müssen sie den Gürtel nun zweifellos enger schnallen, was die Kinder nicht stören wird – sehr wohl aber den Rest der Familie.

Das Paar ist in einer Notlage, weil es über seine Verhältnisse lebt. Dabei ist es vor allem Tonis Konsumverhalten, das unangemessen erscheint. Sie gibt viel Geld für Essen aus, um den Kindern mehr zu bieten, als sie früher hatte. Während Leo einen kleinen Wagen fährt, muss ihr großes rotes Cabrio verkauft werden, in dessen Handschuhfach Blue-Chip-Marken herumliegen. Um bei den Verkaufsgesprächen einen guten Eindruck zu machen, zieht sie ein Outfit an, das aus neuen und hochwertigen Stücken besteht. Sie will auf der Sonnenseite des Lebens stehen, es muss schon Eidechsenleder sein.

Als Toni aufbricht, heißt es auf Seite 280: „Ihm wird klar, daß er gern tot wäre.“ Er ist in einer schwierigen Lage, die der Grund seiner Verzweiflung sein könnte. Aber es könnte auch eine Art Vorahnung sein. Denn während sie versucht, ihr Cabrio an den Mann zu bringen, ist Leo angespannt, verspannt: „Er setzt sich aufs Sofa, aber seine Schultern sind, wie er jetzt merkt, so steif, daß er sich nicht zurücklehnen kann.“ (S. 281) Er vertraut ihr nicht. Seine Schultern wurden vorher schon einmal erwähnt, als er an seinen eigenen Fehltritt erinnert wurde.
Die Story wird in kurzen Sätzen erzählt, es kommt hektisch rüber, der innere Aufruhr Leos ist spürbar. Er steht davor, noch mehr zu verlieren, als wir eingangs vermuten.

Die Tatsache, dass sie den Verkaufsleiter eingeweiht hat in ihre finanzielle Misere, ist spannend. Er könnte das ausnutzen. Zumal er ihr gesagt hat, er „würde sich lieber zum Räuber oder Vergewaltiger erklären lassen als bankrott.“ (S. 282)
Aber sie könnte es ihm auch erzählt haben, weil sie Verständnis sucht für ihre Lage. Unterstützung. Eine Fluchtmöglichkeit.

Ich schätze die Beziehung generell nicht besonders stabil ein. Der Ton zwischen Leo und Toni ist schroff, viele Fragen bleiben unbeantwortet, sie stichelt gegen ihn. Es gibt Misstrauen und Schuldzuweisungen.
Einerseits scheint er ihr untreu gewesen zu sein, was der Nachbar erahnt, dessen Anblick es ihm immer wieder vor Augen führt. Kurzzeitig will Leo es sogar hinausschreien, beichten, lässt es aber sein. 
Andererseits hat er solche Angst, dass Toni ihn mit dem Verkaufsleiter betrogen hat, dass er ihren Slip untersucht.
Ist es Liebe – oder war es ein weiteres Geschäft, das sie nicht mehr bedienen wollen (sie) bzw. können (er)? Er schwört Veränderungen herauf: „Montag fangen wir neu an. Im Ernst“ (S. 278), ruft er ihr hinterher. Ein Versprechen, der Versuch, sie bei der Stange zu halten? Der Verkauf des Cabrios, das Cabrio selbst, hat eine immense Bedeutung.

Um den Titel zu verstehen, sind zwei Stellen wichtig, denn zunächst hieß die Kurzgeschichte „What Is It“ – und das finden wir auf Seite 285, als Toni schon schläft und Leo auf den Käufer trifft: „Was ist denn, was wollen Sie?“ sagte der Mann. „Schauen Sie“, sagte der Mann, „ich muß weiter. Nichts für ungut. Ich kaufe und verkaufe Autos. Klar? Die Dame hat ihr Make-up vergessen. Sie ist eine feine Dame, sehr kultiviert. Was ist denn?“
Ja, was ist denn? Was war? Das ist die Frage. Toni, die Vertreterin, hat sich quasi selbst verkauft. Und für den Mann scheint es normal zu sein, seine Geschäfte so abzuwickeln. Keine große Sache.
Hier ist auch das „Montag“ von Bedeutung, das zwischen Leo und dem Käufer fällt. An dem Tag wird sich alles entscheiden.

Der Name der Kurzgeschichte wurde später in „Are These Actual Miles“ geändert. Im Text fragt der Käufer Leo: „Unter Freunden, ist das tatsächlich der Meilenstand?“(S. 286) Freunde sind sie sicher nicht. Konkurrenten? Der Mann kriegt keine Antwort, aber es ist ihm auch egal. Die Vergangenheit des Autos, Tonis Vergangenheit spielt für ihn keine Rolle.
Dass Leo die Tür abschließt und das Ganze kontrolliert, unterstreicht seine Sorge, dass er in ihr Leben eindringen könnte.
Als er neben Toni im Bett liegt, erkennt er in ihren Schwangerschaftsstreifen Wege. Auch sie werden nun einen neuen Pfad beschreiten müssen. Zunächst hatten sie mehr Knete, als sie ausgeben konnten, dann haben sie alles auf Raten gekauft. Das Glück kann nicht länger bezahlt werden – und ich fürchte, dass Leo Toni ohne Geld nicht halten wird.

Zeichen

Originaltitel: Signals

Inhalt

Zu ihrem 37. Geburtstag gehen Caroline und Wayne in ein neues Restaurant – ein Abend, der über ihre (gemeinsame?) Zukunft entscheidet?

Meine Gedanken

Es ist Carolines 37. Geburtstag, an dem sie mit Wayne, mit dem sie seit geraumer Zeit zusammen ist (sie sagt: „Ich hab dir die besten Jahre meines Lebens geschenkt.“ (S. 295)) in ein neues Restaurant geht. Zunächst sind beide fasziniert von dem Ambiente (es gibt eine Voliere), auch die Geschichte des Besitzers, Aldo, beeindruckt sie. Doch die Stimmung hält nicht: Wayne ist zunehmend irritiert von den ungewohnten Klängen und Speisen, unzufrieden mit der Tischwahl und dem Ober, der wenig Englisch spricht.

Der Titel kommt ins Spiel, als der Kellner die Wünsche notieren will. Wayne schüttelt den Kopf und schickt ihn weg, indem er sagt: „Ich geb Ihnen ein Zeichen, wenn wir soweit sind.“ (S. 290)
Dadurch bringt er ihn in eine ähnliche Lage wie die, in der er sich befindet, denn ich glaube, dass auch er auf ein Zeichen wartet. Zwar behauptet er ständig, es sei ihm egal, aber einmal fragt er Caroline offen: „Also, was meinst du? Gibt es eine Chance für uns, oder nicht?“ (S. 294)
Es kriselt gewaltig, die Stimmung ist gereizt und angespannt. Sie blickt ihn kaum an und wenn doch, wird er nervös (großartig dargestellt).
Um auf den Titel zurückzukommen: Meiner Meinung nach gibt es viele Zeichen – und die zeigen nicht in Richtung einer gemeinsamen Zukunft.

Man könnte den Eindruck kriegen, Caroline hätte etwas getan mit jemandem, dem er sich unterlegen fühlt. Er sagt zu ihr, er ist „Nicht wie die Leute, mit denen du neuerdings verkehrst“ (S. 292). Wollte er deshalb dieses elegante Lokal testen? Um ihr zu zeigen, dass er mithalten kann?
Gleichzeitig (und das halte ich für äußerst wichtig) bekundet er, sich mehr Mühe geben zu wollen, macht ihr aber direkt wieder einen Vorwurf: „Ich bin nicht der, der … der …“ Auch auf Nachfrage führt er es nicht aus. Steht etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen? Hat sie ihn hintergangen? Möglich. Ich glaube nur nicht daran. Meiner Vermutung nach hat sie nichts getan. Sie ist das Opfer seiner (in dem Fall) grundlosen Eifersucht.

Dass er zu übertriebenem Verhalten neigt, wird dadurch deutlich, dass Wayne anfangs beeindruckt ist und die Beziehungen des Besitzers herausstellt. Später, in seiner Eifersucht, spricht er ihm die Verbindungen ab. Er reagiert irrational, wenn er sich unzulänglich fühlt. Ein schönes Beispiel bietet die Verabschiedung von Aldo, der sehr liebenswürdig zu Caroline ist. Dass er das mit jeder anderen Person, die den Laden betritt, ebenfalls tut, sieht er nicht.

Die Distanz zwischen ihnen wird besonders deutlich, als sie das Restaurant verlassen. Aldo verfüttert Körner an die Vögel, Wayne kann es kaum mitansehen, wendet sich ab, um dem Handschlag zu entgehen (für mich symbolisieren die (Samen-) Körner das Neue, das der Abend „gepflanzt“ hat und das er nicht sehen/wahrhaben, mit dem er nicht in Berührung kommen will).
Auf die Frage des Besitzers, ob sie wiederkommen, antwortet Caroline: „Sooft ich kann.“ (S. 296) „Ich“, nicht „wir“. Ich glaube, um auf die Vögel zurückzukommen, die eines der extravaganten Dinge des Ladens sind: Mit ihm ist sie gefangen. Aber sie erkennt, dass die Möglichkeit besteht, sich zu befreien.

Würdest du bitte endlich still sein, bitte

Originaltitel: Will You Please Be Quiet, Please

Inhalt

Ralph Wyman drängt seine Frau Marian, ihm von der Party von vor zwei Jahren zu erzählen, bei der sie ihn, so meint er, betrogen hat.

Meine Gedanken

Ralph und Marian, beide Lehrer und schon lange zusammen, sind verheiratet und haben zwei Kinder. In letzter Zeit trüben Befürchtungen darüber, was auf der Party vor zwei Jahren passiert ist, Ralphs Glück. Hat Marian ihn mit Mitchell Anderson betrogen?

Um Marian die Entscheidung, sich ihm zu offenbaren, zu erleichtern, gibt Ralph vor, nicht mehr zu wissen, wie viele Jahre die Party zurückliegt. Drei, vier. Dabei weiß er es genau, denn es quält ihn.

Auf sein Drängen hin gibt Marian zu, dass Mitchell sie ein paar Mal geküsst hat – unter anderem. Dieses Geständnis, das er doch so gern hören wollte, wirft ihn völlig aus der Bahn. Er ist so ziellos und überfordert wie damals, als er an seinem Tiefpunkt war und Schwierigkeiten hatte, sich für ein Studium zu entscheiden. Arzt? Rechtsanwalt? Beides war nicht das Richtige. Im dritten Collegejahr lernte er Dr. Maxwell kennen, der sein Leben veränderte. Ralph, fortan weniger Alkohol trinkend, wurde – wie er – Lehrer, geselliger, beliebter. Dass er nun, nach Marians Beichte, an Dr. Maxwell zurückdenkt, unterstreicht, wie hart ihn die Bestätigung seiner Vermutung trifft.

Sein Ausruf „Aber du bist immer so gewesen, Marian!“ (S. 307) ist übertrieben, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. Hier sind die eindrücklichen Sätze über die Hochzeitsreise nach Guadalajara von Bedeutung: Ralph, entsetzt von der „unverhüllten Begierde“ Mexikos, nimmt, sehr zu seiner Beunruhigung, einen „Moment von intensiver Dramatik, in den Marian durchaus hineinpaßte, er jedoch nicht“ wahr. (S. 302). Sie hat (symbolisiert auch durch ihren roten Schal) schon immer eine Leidenschaft und Anziehungskraft ausgestrahlt, der er (und wohl nicht nur er) erliegt. 

Ralph läuft durch die Straßen und stellt fest, dass an jeder Ecke ein anderes Elend wartet: Verlockungen (Blake’s, wo er manchmal nachmittags einkehrt, bevor er die Kinder abholt, Kartenspieler), Erinnerungen (an einen Mann in Arcata – dazu mehr unter diesem Post, sowie an Marian in allen möglichen Situationen) und Ärgernisse (Streits, Gewalt). Es gibt keine Welt, kein Leben ohne. Wird ihm dabei, in der „Second Street, dem Teil der Stadt, den die Leute die ‚Straße zwei‘ nannten“ (S. 314), bewusst, dass  eine zweite Chance durchaus eine Option ist?

Der Titel fällt, als er zurückkehrt und sich im Badezimmer einschließt. Sie will, dass er aufmacht, er will seine Ruhe, nichts mehr hören – und dann sagt er es: „Würdest du bitte endlich still sein, bitte?“ (S. 324)

Wie geht das Ganze aus? Haben sie eine Zukunft?
Ich glaube ja.
Er steht vorm Spiegel, schneidet Gesichter – und gibt auf. Er will kein anderer sein oder werden. Und in der Schlussszene lässt er ein bisschen los, wendet sich Marian zu. Zwar kann man das immer noch in die entgegengesetzte Richtung lesen, vor allem, weil er „über die unmöglichen Veränderungen, die, wie er spürte, über ihn kamen“ staunt. (S. 326) Aber ich glaube, dass es positive Veränderungen sind. Er hat erkannt, dass er („Ein Gesicht: nichts daran außergewöhnlich“, S. 317) und sein Schicksal nicht herausstechen, dass die Welt da draußen viel Böses zu bieten hat. Und dass er zu seiner Familie mit Marian und Dorothea und Robert zurückkehren kann (das Lohnenswerte, das sein Vater ihm neben all den Mühen prophezeite).
Auf Seite 301 heißt es: „Sie hatten einander am Abend vor ihrer Hochzeit die Hände gehalten und gelobt, für immer die Freuden und das Mysterium der Ehe zu bewahren.“ Seit er sie kennt, versteht er sich selbst. Er gibt das nicht auf. Vielmehr werden sie das Geheimnis ihres Fehltritts (und auch das seiner Reaktion darauf, damals und heute) bewahren – nun gemeinsam. 

Abschließende Worte

Ich bin überzeugt davon, dass nichts zufällig ist bei Carver. Insofern sind mir gewisse Überschneidungen aufgefallen, Themen, Orte, Symbole, die wiederkehren. Ein Beispiel aus der letzten Kurzgeschichte, die mir noch frisch im Gedächtnis ist: Der Mann in Arcata, an den Ralph in „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ denkt, hat einen Bezug zu „Was machen Sie in San Francisco?“: Er ist das abschreckende Beispiel davon, wie seine Zukunft aussähe, würde er Marian und seine Kinder verlassen.

Wenn ich die Sammlung noch einmal lese, werde ich sicher mehr Verbindungen entdecken. Und das fühlt sich gut an, wie ein harmonisches Ganzes. Diese Sammlung ist eine Wundertüte, nicht nur jede Story für sich, sondern auch das Buch insgesamt. Großartig!

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich habe die Ausgabe 3-442-76007-0 aus Dezember 2001 gelesen. Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich darauf.

Fazit

Man merkt es, oder? Ich bin schwer begeistert. Ich werde mich nie auf ein Lieblingsbuch festlegen. Aber wenn ich müsste, … tja. ♡

Würdest du bitte endlich still sein bitte - Raymond Carver

Würdest du bitte endlich still sein, bitte – Raymond Carver

Originaltitel: Will You Please Be Quiet, Please? (1976)

Übersetzung: Helmut Frielinghaus

Verlag: S. Fischer Verlage

Erschienen: 23.05.2012

Seiten: 304

ISBN: 978-3-596-90390-0

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Deine Meinung

3 Antworten

    1. Danke dir. :)
      Hat auf jeden Fall Spaß gemacht, allerdings konnte ich jetzt ein paar Tage lang nichts Neues anfangen. Habe in X verschiedene Bücher reingelesen, aber keins konnte mich fesseln. Versuche es nun mit einem großen Klassiker, um irgendwie wieder reinzukommen. Das sind die Schattenseiten, wenn ein Buch ZU toll ist.

      Liebe Grüße

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