„Mitternachtsschwimmer“ ist ein sprachlich starker Roman, der mich vor allem mit seinen Charakteren und fühlbaren Beschreibungen begeistert hat.
Inhalt
Grace Kielty, 50, hält nichts von den Touristen, die nach Ballybrady kommen, um ihren Urlaub zu verbringen und sie in ihrer Ruhe zu stören. Dennoch vermietet sie hier ein Cottage, diesmal an Evan Moore aus Belfast. Mit seiner duckmäuserischen Art kann die schroffe Grace wenig anfangen. Was steckt dahinter, was hat er erlebt?
Aus „eine Woche“ wird eine kleine Ewigkeit
Sieben Tage will Evan in Ballybrady, dem (fiktiven) verschlafenen Dorf an der irischen Küste, bleiben, um seiner Frau Lorna den Abstand zu geben, den sie braucht. Etwas ist vorgefallen innerhalb der Familie, das sie entzweit hat, vorher schon, doch nun steht das Unaussprechliche im Raum, das ihn zum Rückzug zwingt.
Zunächst geht die geplante Woche im März gegen seinen Willen in die Verlängerung: Der Lockdown lässt ihm keine Wahl.
Distanz und Nähe
Wer nicht über Corona lesen möchte, ist bei dem Roman an der falschen Adresse, denn es ist kein nebensächliches Thema. Es nötigt Evan, seine unfreiwillige Auszeit zu verlängern, es bringt die kauzigen Charaktere dazu, Abstand zu halten. Für Grace ist das kein Problem, sie bleibt sowieso am liebsten für sich. Und hier finden wir das größte Veränderungspotenzial: Von der gewollten Abschottung über das notwendige Social Distancing bis hin zur Verbindung, die die Menschen suchen, weil sie sie brauchen, ob sie wollen oder nicht.
"Der Mann aus der Stadt. Der war auch nicht glücklich. In seinen Augen lag etwas so Finsteres, das mit ihren tiefsten Abgründen korrespondierte und Dinge ans Licht zerrte, die sie lieber vergessen hätte."
eBook, S. 217, 57,8 %
Eine starke Protagonistin
Grace ist verrückt, so sagt man in dem Örtchen, in das es Evan verschlägt. Die 50-Jährige, immer mit Hut und Hund unterwegs, fertigt Quilts und liebt ihre Bucht am Kiesstrand, schwimmt nackt (am Tag wie in der Nacht) im Meer. Am liebsten bleibt sie für sich, ansonsten tritt sie angriffslustig auf.
Ich finde, dass die Autorin eine starke Protagonistin erschaffen hat. Auch über die Sprache macht Roisin Maguire deutlich, wie Grace drauf ist: Sie versucht, alle(s) auf Abstand zu halten, nicht an sich herankommen zu lassen. Für sie braucht der hässliche Hund keinen Namen, in ihren Gedanken gibt es Palpitationen, nicht etwa ein romantisches Herzklopfen, ha! Das macht die Figur nicht nur interessant, sondern lässt sie auch glaubhaft rüberkommen.
Rau
Doch es ist nicht nur Grace, die für die ruppige Stimmung sorgt. Es ist das unberechenbare Wasser (und dessen Bewohner), das eine große Rolle spielt, wodurch wir auch die unbequemen, aber normalen Dinge der Natur, die wir gerne ausblenden, vor Augen geführt kriegen.
Es sind die Einwohner, die jeden Neuling prüfend beäugen und nicht davor zurückschrecken, Menschen abzustempeln.
Wir bekommen eine Mischung aus grob und herzlich, kühl und warm, es gibt beide Seiten – wie im echten Leben. Und das ungefiltert:
Es werden ein paar unfreundliche, aber (teils) nachvollziehbare Gedanken ausgesprochen, wir sehen ehrliche Charaktere, denen Dinge in den Kopf kommen, die sie besser wissen bzw. nicht so meinen (wollen). Das macht die Figuren noch glaubwürdiger und unterstreicht, wie unverfälscht die Geschichte ist, die mit einem dazu passenden, weil ungeschönten Ende abschließt.
Ich finde es mutig, dass die Autorin Szenen wie diese aufgenommen hat.
Aufbau/Stil
Bei „Mitternachtsschwimmer“ handelt es sich um den Debütroman von Roisin Maguire.
Das Buch besteht aus drei Teilen und 38 Kapiteln.
Ich mag den Schreibstil. Der Mix aus spröden und gefühlvollen Sätzen überzeugt. Die Beschreibungen sorgen dafür, dass ich mir alles genau vorstellen kann, etwa hier, als Evan einen Vogel berührt:
"Er fühlte sich an wie aus Wolken und Zweigen gemacht."
eBook, S. 250, Kap. 28, 66,8 %
Das glaube ich sofort. Wie sonst soll sich so ein Tier anfühlen?!
Die Geschichte verläuft ruhig, bis am Ende alles aus den Fugen gerät. Ehrlicherweise enttäuscht mich der letzte Teil, angefangen bei der Suche, deren Ausgang mir klar war, bis hin zum knappen Schluss.
Schön finde ich, dass es Hoffnung gibt inmitten all der Trauer und verdrängten Erlebnisse, und die Botschaft, dass man neu anfangen kann, wenn man sich dazu entschließt.
Fazit
Mit „Mitternachtsschwimmer“ ist Roisin Maguire ein Debütroman gelungen, der mich vor allem mit seinen unkonventionellen Charakteren und den fühlbaren Beschreibungen überzeugt hat.
Zusammenfassung Mitternachtsschwimmer – Roisin Maguire
Dieses Buch ist für dich, wenn du
- über Verlust, Trauer und Schuldgefühle lesen möchtest
- nichts Rosarotes, aber doch etwas mit einer zarten Hoffnung suchst
- keine Probleme damit hast, dass die Geschichte in der Pandemiezeit spielt
- störrische Charaktere magst oder aushältst
- bereit bist, Sätze zu lesen, die sich befremdlich anfühlen können
Mitternachtsschwimmer – Roisin Maguire
Originaltitel: Night Swimmers (2024)
Übersetzung: Andrea O’Brien
Verlag: DuMont
Erschienen: 15.07.2024
Seiten: 352
ISBN: 978-3-8321-6829-2
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Eine andere Rezension
Für Marie von Wörter auf Papier
ist "Mitternachtsschwimmer" "ein Lesegenuss".
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4 Antworten
Liebe Jessica,
deine Rezension kann ich nur unterschreiben. Schön! Und danke für die Verlinkung. ❤️
Ich finde es toll, dass du auch gleich noch andere Bücher aus Irland verlinkst. Ich komme beim Lesen auch oft auf den Geschmack, mich nochmal in dieses Land zu begeben. ☺️
Liebe Grüße
Marie
Hey Marie,
danke für deine lieben Worte. Im Moment bin ich oft in Irland unterwegs, die haben ganz schön viele gute Geschichten. :)
Als Debut schon so was stark emotionales, das ist wunderbar. Mich würde das Thema Corona tatsächlich abstossen, da ich es eigentlich nicht mehr lesen will. Aber ansonsten klingt es nach einem wirklich starken Buch
Ja, das kann ich verstehen. Aktuell gibt es aber wirklich viele Bücher, die die Thematik beinhalten.
Liebe Grüße