Die Hochstapler – Tom Rachman

Die Hochstapler - Tom Rachman

In „Die Hochstapler“ von Tom Rachman folgen wir Dora Frenhofer, einer 73-jährigen Schriftstellerin, die einen letzten Roman schreiben will.
Ein vielschichtiges und überraschendes Buch, bei dem ich mich lange fragte, worauf es hinauswill.

4/5

Inhalt

Dora Frenhofer, eine 73-jährige gebürtige Niederländerin, die in London lebt, war ihr gesamtes Leben lang auf der Suche nach neuen Figuren. Nun sieht sie ein: Nachdem ihre Werke kaum mehr Beachtung finden, wird sie das Schreiben aufgeben. Doch bevor sie das tut, will sie es ein letztes Mal wissen: Kann sie noch einen Roman herausbringen? Einen, den die Menschen lesen?

Episoden und Tagebucheinträge

Das Buch ist in neun Kapitel unterteilt, die jeweils einzelne Geschichten enthalten. Wir lesen über

Entsprechend sollte man Geschichten innerhalb einer Geschichte ertragen können, denn ja, die einzelnen Abschnitte laufen auf ein großes Ganzes hinaus, aber bis dahin ist Geduld gefragt.

Immer wieder gibt es Tagebucheinträge von Dora, in denen sie Alltagsbeschreibungen festhält und über das Vorankommen mit dem Roman erzählt. Dadurch wird das Gefühl geweckt, live dabei zu sein, während dieses Buch entsteht. Das unterstreichen auch die jeweils drei Satzanfänge am Ende einer solchen Aufzeichnung, von denen zwei gestrichen, der dritte aber zum neuen Kapitelanfang wird. Das ist interessant, das hat der Autor gut gemacht.

Einsamkeit und andere Gefühle

Die Tagebucheinträge werden im Zeitraum von Dezember 2019 bis September 2021 verfasst – und somit zur Zeit der Pandemie. Corona spielt in den Teilen, in denen die Hauptfigur aus ihrer Perspektive schreibt, eine Rolle – und verstärkt die Einsamkeit, unter der die Schriftstellerin leidet. Doch nicht nur sie: Auch die anderen verspüren sie, ihr Bruder, ihre Tochter, ihr Kollege, ihre Freundin. Ich mag, wie Tom Rachman das beschrieben hat, wie er die Gefühle der Menschen rüberbringt. Leben wir nicht letztlich alle in dieser Mischung aus Wunsch, Wirklichkeit und Angst?

"Ich bin von Hoffnung wie beschwipst (könnte dieses Buch gut werden?), von Tatsachen ernüchtert (wenige wird es kümmern) und will mehr, setze mich also wieder, knotige Finger auf der Tastatur, schwächelnde Augen am Bildschirm."

"Nächtelang arbeitet sie an ihrem Auftritt, beugt sich über alte Notizbücher, hat eisige Angst, weil sie so erbärmlich ist - große Hoffnung, dass sie umwerfend sein wird, dass sie sich offenbart und von den Leuten gesehen wird."

Sie alle sind zerrissen und einsam. Und sie teilen noch mehr:

Die Bedeutung des geschriebenen Wortes

Man sagt, wenn man schreibt, spricht man immer auch über sich selbst. Und das ist in „Die Hochstapler“ ebenfalls so:

Dora schreibt – und auch in den einzelnen Geschichten wird geschrieben. Alle tun es aus bestimmten Gründen: Sie bringen die Worte zu Papier, die sie nicht aussprechen können. Sie wollen gesehen werden, etwas Bleibendes hinterlassen.
So ist es bei der Protagonistin, die in den Kapiteln ihre Erlebnisse und Gefühle, die sie mit den Vorbildern der Charaktere verbindet, verarbeitet. Und so ist es bei Mr R.A.S. Bhatt, der Indien retten will und sich an einem Brief an die Premierministerin versucht, doch stattdessen sein Herz sprechen lässt. Amir, dem Schlimmes angetan wurde, arbeitet seine Gefangenschaft handschriftlich auf.

Schreiben, Briefe oder Bücher, kann alles sein: Hoffnung, Rechtfertigung, Trauerbewältigung, Anteilnahme. Und meist auch eine ordentliche Portion Hochstapelei:

Der Titel: „Die Hochstapler“

Der Titel hat mich zum Nachdenken gebracht. Hochstapler – Betrüger, Wichtigtuer? Ich deute das nach dem Lesen des Buches so:

Dora zeigt uns zweierlei: Sowohl die Schreibenden als auch die Figuren sind Hochstapler. Das müssen sie sein, um das zu kriegen, was sie wollen: unsere Aufmerksamkeit.

Sie bringt sämtliche Charaktere in eine Situation, in der sie sich wie Versager fühlen, die im Übrigen eine ist, in der auch sie sich befindet. Im Grunde wollen sie nicht viel, sie möchten gesehen werden, wertgeschätzt für das, was sie denken und ausdrücken. Wie wir alle. Manche schämen sich für ihre Worte, kämpfen darum, sie zurückzuhalten (Mr Bhatt), kein Wunder, schließlich können sie eine Katastrophe auslösen (Morgan) oder in die falschen, da zu unvorsichtigen Hände gelangen und damit auf ewig verschwinden (Will/Amir). Wenn man sich überwindet und sie freigibt für die Öffentlichkeit, fordern die Verfasser etwas: eine Chance. Sie wollen, dass wir ihnen vertrauen. Wie Rachman will, dass wir Dora folgen, die wiederum will, dass wir über ihre Figuren lesen, deren Leben sie ein wenig ausschmückt, um es aufregender zu machen. Lesenswerter. Das Ganze ist nicht uneigennützig, denn die, die Bücher schreiben, möchten in Erinnerung bleiben:

"Ich stelle mir meine Tochter vor, wie sie nach meinem Tod liest, was ich auf diesen Seiten geschrieben habe. Vielleicht fasst sie meine Bücher aber auch gar nicht an, weil sie das zu schmerzlich findet und es vorzieht, lieber nicht allzu lebhaft an mich zu denken, da ich nicht mehr bin, in meinen Romanen aber noch präsent sein könnte. Habe ich sie nicht deshalb geschrieben?"

Haben sie nun aber den blinden Glauben an sie und ihre Figuren, haben sie unsere Zeit verdient? Das wissen wir erst hinterher. Bis dahin hoffen wir darauf, dass sie das draufhaben, was uns Rachman hier durch Dora präsentiert: Dass sie ihre eigenen Erfahrungen nutzen und mit Hilfe ihrer Fantasie glaubhafte Charaktere erschaffen, denen wir gerne in ihre Welten folgen. Der schüchterne Außenseiter muss bereit sein, sein Leben zu riskieren, um ein anderes zu retten, die Kinder hütende Mutter den Biss, einen Neonazi im Knast zu treffen. Dabei stellen sich die Schöpfer tausend Fragen und all ihren Zweifeln: Wie viel Wahrheit muss in den Figuren stecken? Wie viele Risiken sollten die eigenen Geschöpfe eingehen – und man selbst? Schadet man auch niemandem? Wieso schreiben, wenn man sowieso nichts komplett Neues kreieren kann? Wird Literatur überhaupt noch lange leben?

Es ist unklar, worauf die Geschichte hinausläuft, aber es gibt hier ein Wiedererkennen, da eine Ahnung – und letztlich die Erkenntnis, dass Dora ihre Charaktere und Rachman seine Protagonistin die ganze Zeit über im Griff hatte, dass es einen Plan gab, der aufgeht. Es geht darum, dass man am Ende des Lebens zurückschaut und sich fragt, wohin all die Entscheidungen geführt haben – und vielleicht auch hätten führen können. Wir sehen, dass Fiktion und Realität, Autor und Figuren zusammenhängen, dass immer jemand etwas aufbauscht, während ein anderer untertreibt, dass wir alle nur gesehen und in Erinnerung bleiben wollen, dass all die Arbeit und Wagnisse sich ausgezahlt haben, damit dieses Buch erscheinen konnte.

Fazit

Um ehrlich zu sein: In mir wohnt jetzt der unmögliche Wunsch, alles, was jemals jemand von Herzen geschrieben hat, zu lesen.

Herzlichen Dank auch.

Ich bereue dennoch nicht, „Die Hochstapler“ gelesen zu haben. Tom Rachman schreibt wunderbar, egal ob tragisch, sarkastisch oder emotional, immer unterhaltsam. Ich bin durch die Seiten gesaust, seine Figuren sind interessant, es gibt nachvollziehbare Gefühle, Überraschungen und einiges zum Nachdenken.

Den Autor merke ich mir. Ziel erreicht, oder?

Zusammenfassung Die Hochstapler von Tom Rachman

Dieses Buch ist für dich, wenn du 

Die Hochstapler - Tom Rachman

Die Hochstapler – Tom Rachman

Originaltitel: The Imposters (2023)

Übersetzung: Bernhard Robben

Verlag: dtv

Erschienen: 13.06.2024

Seiten: 416

ISBN: 978-3-423-28397-7

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