Wer es schafft, sich auf die atemlose Erzählweise einzulassen, kriegt mit dem Roman „Auf der Plaça del Diamant“ von Mercè Rodoreda eine außergewöhnliche Geschichte, die fesselt, erschüttert und berührt.
Inhalt
Als Natàlia den Tischler Quimet „Auf der Plaça del Diamant“ kennen lernt, ändert sich ihr Leben von Grund auf: Sie kündigt ihre Arbeit in der Konditorei, verlässt ihren Verlobten Pere, obwohl sie hin- und hergerissen ist.
Quimet stellt sich als eifersüchtig heraus, als jemand, der die Macht, die er als Herr des Hauses innehat, ausübt.
Sie kriegen zwei Kinder. Quimet erhält kaum noch Aufträge. Ein schweres Leben beginnt, Colometa arbeitet bis zur Erschöpfung, versorgt daneben Antoni und Rita, muss mit dem schlechten Verhalten und den fixen Ideen ihres Ehemannes klarkommen. Als der Bürgerkrieg bei ihr ankommt und Quimet zur Miliz geht, verschärft sich die Situation – und die junge Frau sieht keinen Ausweg mehr.
Ein wilder Monolog
Das Buch besteht aus einem einzigen Monolog. Die Ich-Erzählerin Natàlia berichtet von ihrem Leben – und zwar unruhig, chaotisch. Es liest sich wie eine Aneinanderreihung ungefilterter Gedanken, die Erzählweise ist an die Protagonistin angepasst. Es gibt einige Wiederholungen. Ich bin sicher, dass nicht jede:r mit der Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, klarkommt. Mich hat das Geschriebene beeindruckt. Ich habe mit der Hauptfigur gefiebert, mochte den unverstellten Einblick in ihre Gedankenwelt. Sie behält vieles für sich, doch durch die Erzählform erfuhr ich dennoch davon. Ich kam ihr nahe, obwohl ich sie häufig nicht verstanden habe.
Zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs
Im Verlauf des Romans erreicht der Krieg die Welt der Protagonistin. Es gibt keine Kampfszenen, keine detaillierten Schilderungen. Alles, was wir zu dem Thema lesen, ist, dass die Männer zu Milizsoldaten werden und Colometa noch größere Sorgen und Nöte beschäftigen als zuvor.
Das Leben ist etwas, das der Erzählerin zustößt. Quimet sagt ihr, was sie tun soll, er bestimmt. Sie nimmt hin, gibt ihr Bestes, um mit den Situationen umzugehen, vor die sie gestellt wird. Stillschweigend. Und so wird auch die Kriegsthematik behandelt. Sie beschäftigt sich nicht mit dem Problem an sich, versucht lediglich, die Auswirkungen zu kompensieren.
Da die Geschichte in den Jahren um den Spanischen Bürgerkrieg spielt, ist Quimets Auftreten und Colometas Unterwürfigkeit nichts Außergewöhnliches – was nicht heißt, dass nicht dennoch Ärger aufwallt beim Lesen. Ich hätte mir gewünscht, dass ihr ein anderes Verhalten entgegenschlägt und dass sie andere Ratgeber:innen gehabt hätte als beispielsweise die beschwichtigende Senyora Enriqueta. Aber dann würde die Geschichte wohl in einer anderen Zeit spielen.
Die Tauben
Tauben spielen eine große Rolle, sie schleichen sich ein. Es beginnt damit, dass Quimet Natàlia in Colometa umbenennt. Die katalanische Autorin hat diesen Namen nicht zufällig gewählt: Colom bedeutet Taube, -eta ist eine verniedlichende Endung, colometa heißt kleine Taube, Täubchen.
Während die Protagonistin mit ihrer Anstellung und den Kindern Antoni und Rita ausgelastet ist, setzt sich Quimet in den Kopf, Tauben zu züchten – und überträgt ihr einen Großteil der Arbeiten. Die Tauben stellen einen Konflikt dar, der sich stetig steigert. Am Ende sind die Tiere überall, fliegen in der Wohnung umher. Als Quimet selbst nicht mehr herrschen kann, übernehmen die Tauben diese Rolle für ihn.
Doch da ist auch die andere Seite: Die Tauben geben Colometa die Möglichkeit, etwas zu tun, sich – endlich – zu widersetzen. Ich stand der Protagonistin immer zwiespältig gegenüber, von Anfang an wollte ich ihr zurufen: „Lauf! Nichts wie weg!“ Aber die Szene, in der sie am Kennenlerntag rennt, deutet es voraus: Sie wird Quimet nicht entkommen. Trotz Zweifel lässt sie sich ein auf dieses Leben, ist gefangen und ausgeliefert. Um da herauszukommen, trifft sie Entscheidungen, die mir widerstrebten – doch in meiner Verständnislosigkeit hatte ich immer auch Verständnis für sie, so merkwürdig das klingt.
Empörend und spannend
Dass Colometa an einen Punkt gelangt, an dem sie nicht weiter weiß, verwundert nicht. Ich habe mich vielmehr gefragt, wie sie es bis dahin geschafft hat. Es ist ein unvorstellbar kräftezehrendes Leben, das sie bewältigt. Ihre Entscheidungen berührten mich, sie empören einerseits – hey, wie kann sie nur? – und überraschen gleichzeitig nicht. Die Autorin hat mir Colometa und deren Umstände so begreiflich gemacht, dass ich ihr ihre fragwürdigen Aktionen verzeihen konnte. Sie weiß es nicht besser. Und was soll sie denn sonst tun? Ich spürte ihre Hilflosigkeit. Ihre rätselhaften Reaktionen machten das Ganze noch dramatischer, ich wusste nie, was sie tun würde, traute ihr alles zu. Und ich ahnte, dass ich es akzeptieren würde.
Ich war von Beginn an gefesselt und bis zum Schluss mit Spannung dabei. Wie wird sich ihr Leben entwickeln? Wird es überhaupt weitergehen?
"Ich mußte zu einem Korken werden, um durchhalten zu können, denn wenn ich nicht zu einem Korken geworden wäre mit einem Herz aus Schnee, wenn ich so wie früher geblieben wäre, aus Fleisch, das weh tut, wenn man es zwickt, wäre ich bestimmt nicht über eine so lange und hohe und schmale Brücke gekommen."
S. 164
Für mich war es ein emotionales und aufwühlendes, ein extrem intensives Leseerlebnis. Ich hätte am liebsten keine einzige Pause eingelegt.
Aufbau/Stil
„Auf der Plaça del Diamant“ besteht aus 49 Kapiteln und wird als Monolog von der Protagonistin, einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, erzählt. Monolog mag langweilig klingen, aber hier ist nichts einschläfernd, es ein wilder Ritt, geradezu atemlos. Durch die Eigenwilligkeit der Erzählung hatte ich das Gefühl, dass Natàlia den Spieß umdreht: Sie berichtet, wie sie will, lässt sich keine Form aufschwatzen, probiert es nicht einmal. Sie hat die Kontrolle, während die Leserschaft ausgeliefert liest. Eindrücklich!
Die schlichte Sprache macht im Verlauf eine Wandlung durch, ist immer an die Hauptfigur angepasst. Auch inhaltlich merkt man, dass sie von dem naiven Mädchen, das ständig festhält, dass ihre Mutter tot ist und ihr nicht beistehen kann, zu einer Frau heranwächst, die spürt, dass sie eigene Wünsche hat – und diese haben und durchsetzen darf. Auch dass ihre Tochter Rita handelt, wie sie es tut, nämlich ihrem Vater ähnlich, zeigt, dass sich die Zeiten geändert, die Rollenverteilungen und Traditionen aufgelockert haben.
Ich mochte den Stil der Autorin. Es ist länger her, dass ich derart gefesselt war und mitgefiebert habe.
Vorausdeutungen und Symbole
Besonders mochte ich, dass alles eine Bedeutung hat und miteinander verknüpft ist. Da ist Quimet, der sie nach seinen Vorstellungen formt – und Pere, ihr vorheriger Verlobter, den sie für Quimet verlassen hat. Der Koch ist derjenige, der sie bei ihrem Namen nennt, er hatte nicht vor, sie zu verändern, hätte sie gelassen, wie und wer sie war. Doch Quimet fängt sie ein, sein kleines Täubchen, treibt sie in die Enge. Sie fühlt sich wie die Tiere, die sie auf dem Dachboden halten: gefangen.
Ich habe das Gefühl, das Buch noch einmal lesen zu müssen, um alle Verbindungen, Vorausdeutungen und Symbole zu finden. Aufgefallen sind mir in jedem Fall im ersten Satz die weiße Kaffeekanne mit der Apfelsine, die es auf dem Fest zu gewinnen gibt. Für mich ist das ein Wink, weil Weiß, die Farbe, die in der Geschichte öfter vorkommt, Unschuld und Jungfräulichkeit symbolisiert, die Apfelsine hingegen Fruchtbarkeit und Liebe. Auch die Kleidung weist auf die sich anbahnende Veränderung hin: Sie schwenkt von weiß auf rosa um.
Maria ist ebenso im Weiß vertreten wie als Name innerhalb des Textes, ausgesprochen von Quimet, und bei der Deutung der Jerichorose. Da sind verschiedene andere Blumen und die Waage (Gerechtigkeit, Ausgewogenheit).
Ganz wichtig sind sicher auch die „Affenaugen“, die die Protagonistin wahrnimmt. Wenn die Augen sein Wesen darstellen, stellt das Wort wieder eine Vorausdeutung dar.
Enriqueta bedeutet „Hausherrin“ oder „Herrscherin des Heimatlandes“. Das erscheint passend. Ich glaube, dass sie einen wichtigen Posten im Leben der Protagonistin innehat. Sie ersetzt ein Stück weit ihre verstorbene Mutter; wenn sie Rat braucht, wendet sie sich an Senyora Enriqueta.
Die Brücke aus obigem Zitat stellt für mich den unerreichbar scheinenden Übergang dar, die Prüfung, den Fortschritt. Und der Schnee betont die Isolation.
Die Tauben stehen für Treue, sie binden sich lebenslang an ihre Partner:innen. Das kann einerseits Quimets Versuch darstellen, sie allein für sich zu haben, seine Eifersucht kommt ja immer wieder durch. Anderseits fällt es Colometa schwer, von Quimet loszukommen.
Zum anderen assoziieren wir Frieden und Freiheit mit ihnen – und Colometa findet letztlich beides, indem sie bei den Tauben anfängt, eigene Entscheidungen zu treffen.
Macht und Kontrolle
In „Auf der Plaça del Diamant“ geht es um Macht und Kontrolle. Anfangs hat Quimet die Macht, dann die Tauben, nie Colometa. Auch der Krieg passt ins Bild.
Sie versucht, die Kontrolle zu behalten, ihre Handlungen zeigen allesamt den Versuch, nicht völlig ausgeliefert zu sein. Als es scheint, als wäre zu viel passiert, als wäre es ihr nicht mehr möglich, die Kontrolle zu wahren oder zurückzugewinnen, da entweicht all das, was sich über Jahre angestaut hat. Endlich.
Fazit
Der Roman hat mich gefesselt, empört und berührt. Ich habe mir zwei weitere Bücher der Autorin bestellt und werde „Auf der Plaça del Diamant“ sicher noch einmal lesen.
Große Empfehlung – allerdings nur, wenn man sich auf den atemlosen Erzählstil der Protagonistin einlassen kann.
Auf der Plaça del Diamant – Mercè Rodoreda
Originaltitel: La Plaça del Diamant (1962)
Übersetzung: Hans Weiss
Verlag: Suhrkamp
Erschienen: 28.05.2007
Seiten: 250
ISBN: 978-3-518-45878-5
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2 Antworten
Schöne Rezension, aber für mich wäre dieser Erzählstil nix.
LG Babsi
Danke. :)
Kann ich verstehen, ist in jedem Fall „etwas anderes“.
Liebe Grüße