„Cuddy – Echo der Zeit“ von Benjamin Myers ist ein extravaganter Roman, der die wahre Geschichte von St. Cuthbert, dem „inoffiziellen Schutzheiligen des englischen Nordens“, mit Fiktion verbindet.
Inhalt
Cuthbert, um 634 in Dunbar geboren, war Hirte, Mönch in Melrose, Prior, kurzzeitig Bischof auf Lindisfarne. Ein beliebter Mensch, geduldig, enthaltsam, bescheiden, liebte die Natur, Tiere und Einsamkeit, starb am 20.03.687 auf einer Insel in Northumberland – und lebt weiter. Da seine Leiche als unversehrt gilt, wird er heiliggesprochen und verehrt – bis in alle Zeit?
Durchhalten!
Zunächst ein Dämpfer: Ich habe das Buch nach wenigen Zeilen weggelegt. Ich dachte: Nicht mein Ding, ich bin dem nicht gewachsen. Am nächsten Tag wollte ich es zurückgeben, aber etwas hielt mich ab. Ich musste noch einen Blick hineinwerfen, weil … tja … es mich nicht losgelassen hat, schätze ich. Also habe ich versucht, es über den ersten Teil hinaus zu schaffen – und konnte schon währenddessen nicht aufhören. Es lohnt sich, sich nicht einschüchtern zu lassen und an dieser Geschichte um den Cuthbert-Kult dranzubleiben, die noch viel mehr zu sagen hat.
Wahre Begebenheiten und Fiktion
Ehrlich gesagt habe ich vor der Lektüre nie von St. Cuthbert gehört. Falls das eine Bildungslücke ist, tut es mir leid, ich habe es nicht so mit der Thematik, aber immerhin ist sie nun geschlossen, yay.
Der heilige Cuthbert von Lindisfarne lebte tatsächlich. In „Anmerkungen und Dank“ verrät der Autor, wie und wo die Geschichte entstanden ist, was der Realität entspricht oder geändert wurde.
Das Besondere
Ich kannte zwei Romane von Benjamin Myers: „Offene See“, dieses poetische Buch, das mir insgesamt gefiel, auch wenn es für mich ein wenig zu blumig und überladen daherkam, gefühlt von einer Metapher in den nächsten Vergleich sprang. Und „Der perfekte Kreis“, eine ruhige Geschichte, die mich überraschenderweise überzeugte, mir stellenweise erneut ausufernd, im Großen und Ganzen aber gemäßigter und dadurch schöner erschien.
Und nun „Cuddy – Echo der Zeit“, mit dem der Autor beweist, wie vielfältig und variabel er schreibt. Denn dieser Roman ist stilistisch so unterschiedlich, hält alles bereit. Myers spielt mit der Sprache und Form, experimentiert. Für die Fakten gibt es Zitate aus diversen Quellen (Bücher, Artikel etc.), im fiktiven Part finden sich Cuddy-Dialoge (besonders der von Michael gefiel mir), ein Brief und Logbuch, ein Theater-Teil, der wie der Akt eines Dramas aufgebaut ist und sogar die Gedanken einer Kathedrale beinhaltet. Es wird aus der Ich-Perspektive erzählt, ebenso in der Du-Form. Die abwechslungsreiche Mischung funktioniert, ich konnte mich ihr nicht entziehen.
Nach seinem Tod geht’s los
Da sein Leichnam angeblich unverweslich war, wurde Cuthbert heiliggesprochen. Im Jahre 793 brachten seine Anhänger ihn vor den Wikingern in Sicherheit, was ein jahrelanges Umherziehen mit kurzen Ruhestätten, etwa in einer ihm geweihten Kirche in Chester-le-Street, bedeutete. 995 ließ sich das Haliwerfolc, das „wandernde Volk des heiligen Mannes“, endlich in Durham nieder. Das ist bemerkenswert – und „Cuddy – Echo der Zeit“ setzt hier an:
„Erstes Buch – Der heilige Cuddy
Dunholme, A. D. 995″
995 – Auf der Suche nach einer Ruhestätte
Das Waisenmädchen Ediva begleitet als Köchin die Bruderschaft. Mit dabei: der Pferdeflüsterer, den sie Eulenauge nennt. Sie nimmt uns als Ich-Erzählerin ein Stück des Weges mit, die Gemeinschaft ist auf der Suche nach einer letzten Ruhestätte für Cuddy. Glaube, Hingabe und Edivas Visionen sorgen dafür, dass die Mönche Edmund, Hunred, Stitheard, Franco, Chad, Eadmer und Bischof Aldhun ihr Ziel finden.
Ich musste mich an den Text, der teils an ein Gedicht erinnert, gewöhnen, gebe aber zu, dass die poetische Erzählweise zu der Figur passt, die Visionen perfekt einfängt und eine besondere Stimmung erzeugt.
Doch der Roman erzählt viel mehr, denn es geht weiter, letzte Ruhestätte hin oder her:
„Zweites Buch – Das Zeichen des Steinmetzes
Duresme, A. D. 1346″
1346, Auld Duresme – Die Kathedrale gewährt jedem Schutz
Eda Bullard ist durch Heirat an den gefürchteten Fletcher gebunden. Als er in die Schlacht zieht, betet sie nicht für ihn, sondern für sich – und kommt dem Steinmetz Francis Rolfe näher, einem Mann, der das Gegenteil des gewalttätigen Bogenschützen ist. Doch nach vier Monaten kehrt Fletcher heim.
Mir fiel es schwer, Edivas Geschichte, die durchaus humorvolle Stellen enthält, loszulassen und mich auf dieses derbere Buch einzulassen. Mit jeder weiteren Seite gelang es mir besser; die Stimmung zwischen Eda und dem sanften Steinmetz kriegte mich ebenso wie die Wendungen.
„Zwischenspiel – Der Stein spricht
Das Kirchenschiff, A. D. 1650″
1650 – Das Zeugnis einer Kathedrale
1641 fing der englische Bürgerkrieg an – und seitdem ist die Kathedrale keine Pilgerstätte und Zuflucht mehr, sondern ein Lagerraum und Kerker. Ein Drama – und ein hervorragendes Beispiel für Myers Vielfalt.
„Drittes Buch – Der Leichnam in der Kathedrale
Dunelm, A. D. 1827″
1827 – Ein Wissenschaftler verliert die Nerven
1140 Jahre nach seinem Tod soll Cuthberts Leiche exhumiert werden. Reverend Parnell, Präbendar der Kathedrale von Durham, bittet den Altertumsforscher Prof. Fawcett-Black aus Oxford, als Berater und Beobachter teilzunehmen, da ein Kollege von ihm, Reverend James Fraine, die Unversehrtheit des Leichnams anzweifelt. Der rationale Akademiker, der das Leben der Gottesdiener nicht nachzuvollziehen vermag, nimmt die zweitägige Reise auf sich – und stößt auf unerklärliche Dinge, die ihm den Rest geben.
Ich mochte diesen gruseligen Einschub und die Überlegungen, die er mit diesen Zeilen losgetreten hat:
"'Lasst die Geschichte ruhen', sagte er abermals, nachdrücklicher, seine Worte sorgfältig betonend, und dieses Mal waren sie wie Faustschläge eines Boxers, in den Magen, gegen Kehle und Kopf. Wobei mir schien, dass es nicht um die Geschichte ging, sondern das Verhältnis des Menschen zu ihr: darum, wie Gelehrte wie ich sie dokumentieren, aufschreiben, über sie nachsinnen und ihre Schlüsse aus ihr ziehen. Die Art und Weise, wie wir sie steuern und formen, wie es einige Kritiker sagen mögen."
(eBook, Drittes Buch, 64,6 %)
Der Wissenschaftler tritt eher blasiert als sympathisch auf, aber ich schätze, wie sorgfältig durchdacht er wirkt und sich präsentiert, etwa als er den „offenkundigen architektonischen Irrtum“ (eBook, Drittes Buch, 56,6 %) bemerkt. Ich bin überzeugt davon, dass er ihn wahrnehmen und sich daran stören würde. Er ist glaubwürdig.
„Viertes Buch – Dummerchen
Durham, A. D. 2019″
Winter 2019 – Ein Wanderarbeiter lernt eine andere Seite des Lebens kennen
Michael Cuthbert, 19, schlägt sich mit Arbeiten auf entfernten Abrissbaustellen durch, um seiner sterbenskranken Mutter und sich das Nötigste zu ermöglichen. Als er durch den Vorarbeiter Chadwick an einen Job in der Kathedrale kommt, trifft er nicht nur auf die angehende Historikerin Kath McGrillis, die dafür sorgt, dass sich sein Magen „wie ein schwungvoll gewendeter Pfannkuchen“ (eBook, Viertes Buch, 84,6 %) anfühlt, sondern auch auf die Freundlichkeit der Menschen – und hat das Gefühl, nach Hause zu kommen.
Dieser Teil, in dem Klassenunterschiede eine Rolle spielen, berührte mich. Ich fühlte mit dem verlorenen Michael, der so viel ertragen und leisten muss.
Worum es wirklich geht
Cuthbert und die Kathedrale verbinden die einzelnen Geschichten miteinander, darüber hinaus ist auffällig, dass vieles wiederkehrt: Namen, Typen, Orte, Symbole. Das Fahnden danach macht Spaß.
Ich glaube, „Cuddy – Echo der Zeit“ soll, gezeigt durch den Einfluss des Heiligen über tausend Jahre hinweg, verdeutlichen, dass immer Geschichte geschrieben wird, damals…
"Die Geschichten, die wir einander erzählen, sind alles, was bleibt, wenn die Zeit stirbt und selbst die solidesten behauenen Steine zu Staub zerfallen."
(eBook, Zweites Buch, 42,7 %)
… und heute – und die angefangene setzt sich fort.
Im vierten Buch heißt es:
"Und der Gedanke macht ihm bewusst, vielleicht zum ersten Mal, dass er auch Teil der Geschichte ist und dass die Geschichte nie endet. Er ist ein weiteres Glied einer Kette von Menschen - und Erfahrungen -, die bis tief in die Vergangenheit reicht, eine Vergangenheit, in der die Menschen anders geredet, gegessen und gelebt haben, aber doch vielleicht ähnliche Dinge dachten und ersehnten. Ein Kontinuum, denkt er. Ist das hier das richtige Wort? Wir sind alle Teil eines Kontinuums."
(eBook, Viertes Buch, 83,7 %)
Und darum geht es.
Wir lesen die Momentaufnahmen von Menschen, die zu verschiedenen Zeiten existieren und sich mit ihren eigenen Ängsten und Sorgen herumplagen. Sie leben in einer anderen Welt – und unterscheiden sich doch nicht so sehr von der Gegenwart, in der wir Michael folgen. Das unterstreichen auch die Änderungen, die Myers sprachlich und in der Form eingebaut hat. Man spürt sie, sie fallen auf, aber was ändert sich wirklich? Es ist weiterhin eine Geschichte über Glaube und Cuthbert und Verbindung.
Für mich geht es auch um die Faszination alter Gemäuer und Erzählungen, die einmal waren – und in irgendeiner Form noch immer sind. Es geht um die Endlichkeit – und darum, dass etwas bleibt, das Leben weitergeht.
"Es ist an uns, durch die Jahrhunderte zu blicken und zu überlegen, was hinter dem Horizont liegen mag. Wir müssen die Geschichten unserer Zeit erzählen, damit die Kinder von morgen sie hören, müssen sie wie Schriftrollen in Flaschen den Fluss hinunterschicken."
(eBook, Zweites Buch, 32,9 %)
Myers hat das getan. Er hat eine ewig zurückliegende Heiligengeschichte genommen – und sind wir ehrlich: Das ist mutig, kann leicht schiefgehen, die breite Masse kaltlassen. Doch er hat sie in „Cuddy – Echo der Zeit“ so erzählt, dass ich sie interessiert verschlungen habe – und ich möchte betonen: ohne dass sie mich thematisch reizt. Das muss man erst mal fertigbringen. Großartig.
Aufbau/Stolpersteine
Der Roman enthält eine Einleitung, einen Prolog, die oben näher bezeichneten vier Bücher, einen Quellennachweis und die Anmerkungen plus Dank.
Durch seine bunte Mischung werden ihn einige Lesende als herausfordernd wahrnehmen. Auch ich war zunächst überfordert, aber dranbleiben zahlt sich aus. Ich mochte die Formänderungen und sprachlichen Variationen sehr.
Weil sie mich abgelenkt haben, muss ich abschließend Kreationen wie diese erwähnen: „Umgebun“, „Raine“ (statt Fraine), „nur nur“, „jeden Tag seine Lebens“, „Tut wir leid“, die in der Häufung störend sind.
Fazit
Ein ausgefallener Roman.
Wenn man das Religiöse betrachtet, dürfte dieses Buch nicht mein Ding sein. Aber Benjamin Myers hat eine große Portion Abwechslung eingebracht, um „Cuddy – Echo der Zeit“ unterhaltsam zu gestalten – und es hat ausgezeichnet (Goldsmiths Prize 2023) funktioniert.
Zusammenfassung Cuddy – Echo der Zeit
Dieses Buch ist für dich, wenn du Spaß hast an bzw. zurechtkommst mit:
- wahren Begebenheiten
- religiösen Einschüben
- Zitaten aus diversen Quellen für die Fakten
- an die Zeiten angepasste Textarten im Fiktiven
- einer Geschichte, die Jahrhunderte umfasst
- einem eigenwilligen Roman
Cuddy – Echo der Zeit – Benjamin Myers
Originaltitel: Cuddy (2023)
Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence
Verlag: DuMont
Erschienen: 17.06.2024
Seiten: 512
ISBN: 978-3-8321-6840-7
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Benjamin Myers
6 Antworten
St. Cuthbert hab ich auch noch nie gehört. Mir ging es bei meinem Neidpath Castle so. Der Stil war der Zeit angemessen. Aber hat mich auch manchmal ziemlich herausgefordert. Trotzdem bin ich froh, dass ich es gelesen habe. Ist auch eine wahre Begebenheit mit Fiktion gemischt.
Liebe Grüsse
Stimmt, das habe ich bei dir gesehen.
Ja, am Ende hat es sich gelohnt, dranzubleiben, nicht wahr? Hier bin ich zum Glück schnell reingekommen und hatte viel Freude mit dem Buch. :)
Liebe Grüße
Schön, dass Du drangeblieben bist, hat sich ja dann doch gelohnt. Ich würde es wahrscheinlich zur Seite legen, denn wenn ich von etwas überfordert bin, dann quäle ich mich nicht weiter durch.
Das Cover, mit den grün-blauen Elementen gefällt mir jedoch sehr.
LG Babsi
Ich wollte ernsthaft aufgeben, aber irgendwie hat es mich beschäftigt. Zum Glück gab’s die zweite Chance, es ist wirklich ein interessanter Mix.
Das Cover mag ich auch. :)
Liebe Grüße
Ach ja, so ging es mir ja mit „Oben in den Wäldern“, das ich auch zunächst abbrechen wollte. Und dann wurde es zu einem Highlight. :)
Von St. Cuthbert habe ich auch noch nie gehört. Ich denke auch, dass das Buch nichts für mich ist. Ich habe von Myers „Offene See“ gelesen und es war mir (trotz toller Naturbeschreibungen) einfach viel zu langatmig.
Trotzdem toll, dass sich das Durchhalten für dich gelohnt hat. :)
„Offene See“ hat mir bisher auch am wenigsten von ihm gefallen, da verstehe ich dich gut.