Das weite Herz des Landes – Richard Wagamese

Das weite Herz des Landes von Richard Wagamese

„Das weite Herz des Landes“ ist eine raue, ruhige und schmerzhafte Geschichte, die schnell gelesen ist, aber nicht vergessen wird.

4.5/5

Inhalt

Sein Vater, halb Ojibwe, möchte, dass der 16-jährige Franklin Starlight zu ihm kommt. Das Verhältnis der beiden ist schwierig, Frank ist bei „dem Alten“, seinem Vormund, aufgewachsen, ohne seine Geschichte zu kennen, seinen alkoholabhängigen Vater hat er kaum gesehen. Doch nun ist Eldon krank. Er wird sterben. Und er will, dass sein Sohn ihn nach Art der indianischen Krieger begräbt. Franklin stimmt zu – und bekommt endlich Antworten auf all die Fragen, die sich einem Menschen stellen, der nicht weiß, woher er kommt.

Der Alte, der Vater und Franklin

Viel mehr als die drei Figuren sind hier nicht wichtig:

Der Alte, der den Jungen auf seiner Farm aufgezogen und ihn alles gelehrt hat, was er braucht, um sich allein in der Natur zurechtzufinden. Der versucht hat, ihn an seine Wurzeln heranzuführen, ohne ein Indianer zu sein. Der Alte, der sein Bestes getan hat, um ihm zu zeigen, wie man ein guter Mensch ist.

Der Vater, Eldon „Twinkles“ Starlight, der sich eher dem Alkohol als Frank zugewandt hat. Der ihn immer wieder enttäuscht hat – und nun dieses Anliegen vorbringt. Der Vater, der mit seinen unterdrückten Schamgefühlen kämpft.

Und Franklin, der sich in der Schule fremd vorkommt, nichts über seine Mutter und kaum etwas von seinem Vater weiß. Dem es besser geht, wenn er allein ist. Der Junge, der endlich die Antworten bekommt, die ihm seit jeher fehlen.

Geschichten

In „Das weite Herz des Landes“ geht es um eine Vater-Sohn-Beziehung (oder eher: um zwei bzw. drei), darum, die Natur wertzuschätzen. Es geht um Scham, darum, dass Verdrängen keine Heilung bringt. Es geht um die Wichtigkeit von Geschichten.

Zunächst ist nicht deutlich, wieso Franklin seinen Vater überhaupt besucht und anhört, weshalb er ihm seinen Wunsch erfüllen und ihn 60 km weit entfernt, dort, wo Frank immer gejagt hat, begraben sollte. Er schuldet ihm nichts. Doch auf den zweiten Blick ist es glasklar: Sein Vater hat das Wissen, das ihm fehlt. Er braucht die Antworten, bevor es zu spät ist.
Letztlich ist diese letzte Reise für beide eine Chance: Eldon, im Sterben begriffen, ist bereit, eine Geschichte zu erzählen: seine …

"'Ich hab noch nie Geschichten erzählt.'"
"'Solltest du aber. Geschichten zu teilen heißt Dinge verändern.'"

… – und damit die von Franklin, der erfährt, wer er wirklich ist.

"''Mehr sind wir letztendlich auch nicht. Nur unsere Geschichten.''"

Medicine Walk/Medizingang

Der Originaltitel, „Medicine Walk“, ist überaus passend, wenn man sich die Bedeutung ansieht.
In der Übersetzung finden wir innerhalb des Textes einen Bezug dazu, als Frank erzählt, dass ihn der Alte von klein auf mitgenommen, ihm die Pflanzen und das Sammeln dieser gezeigt hat:

"''Alles, was man braucht, ist da, wenn man es nur will und weiß, wo man suchen muss', sagte er immer. 'Du musst dir die Zeit nehmen, zu sammeln, was du brauchst. Was du brauchst, um dich bei Kräften zu halten.' Einen Medizingang hat er das genannt.'"

In dem Buch geht es um Heilung – diese Wanderung, auf die Vater und Sohn sich begeben, hat das Potenzial, alles zu verändern, die Wunden, die auf beiden Seiten da sind, ein Stück weit zu reinigen. Saubere Wunden heilen besser.
Eldon ist endlich bereit, sich seiner Geschichte zu stellen, die Wahrheit zu sehen und sie zu erzählen.
Franklin braucht jede Information, die er von seinem Vater kriegen kann. Also sammelt er sie auf dem Weg nach und nach ein. Ein Medizingang.

Aufbau/Stil

„Das weite Herz des Landes“ spielt in Kanada, im Hinterland von British Columbia, und wird in 26 Kapiteln erzählt. Ich gebe zu, dass mich Landschaftsbeschreibungen schnell langweilen – hier war das nicht der Fall. Ich habe all die Schönheit und Gefahr wirklich gesehen.

Es gibt immer wieder Rückblicke, wir erfahren, dass Frank mit sieben das Schießen gelernt hat und mit neun zum ersten Mal allein losgezogen ist – für vier Tage. Die Vergangenheit des Jungen nimmt nicht allzu viel Platz ein. Das unterstreicht die Lücken, die es in seinem Leben gibt. Es ist vor allem die Gegenwart und letztlich die Geschichte des Vaters, die erzählt werden muss.

Die Charaktere sind spröde, mögen kühl und hart rüberkommen, insbesondere durch die knappen und direkten Dialoge. Doch darunter, das merkt man, sind sie voll von Gefühlen, alle drei. Ist der Junge brutal ehrlich? Ja. Aber nicht nur anderen gegenüber. Aus diesem Grund kann er sich auch eingestehen, verletzt zu sein, sich zugestehen, zu weinen.
Am liebsten mochte ich den Alten im Umgang mit dem Jungen. Wie er ihm Sachen erklärt und beschreibt. Er sagt einige Sätze, die mich berührten.

Dass Richard Wagamese einiges von sich in seine Figuren gelegt hat, macht sie glaubwürdig und die Geschichte umso ergreifender. Dieser Umstand hat sicher dazu beigetragen, dass er mich auf emotionaler Ebene derart gekriegt hat. Ich habe die Gefühle der Charaktere gespürt und ihnen die Sachen, die sie gesagt haben, geglaubt.

Mein Problem mit der Übersetzung

Wagamese nutzt Symbole, mir ist zum Beispiel die Farbe Lila aufgefallen, die immer einen Übergang darstellt:
Als der Junge die lila Prellungen seiner Mutter sieht (Kap. 11, 36 %), als sein Vater von Jimmy gesprochen hat und er zur „lilaschwarzen Himmelsdecke“ hinaufsieht (Kap. 17, 64 %), der Himmel, der ihm „wie ein violetter Fleck“ erscheint (Kap. 17, 65 %).

So weit, so gut.

In der Übersetzung spürt Eldon dann in Kapitel 20 „so etwas wie eine Prellung, einen bläulichen Schmerz“ (eBook, 79 %). Hier wird die Prellung wiederholt, aber auch die Situation: Er steht erneut kurz davor, unfreiwillig wegen eines Mannes eine geliebte Frau zu verlassen. Lila hätte so gut ins Bild gepasst. Warum steht da „bläulich“ statt „lila“? Die Frage ließ mich nicht los. Manchmal kann ich nicht anders, dann muss ich das recherchieren, weil es mir keine Ruhe lässt. Also habe ich mir das Original vorgenommen – und siehe da: Er spürt einen „purple ache“, was mir sofort runder erschien. Bei Wagamese wirkt kaum etwas zufällig.

Ich habe nicht den ganzen Text auf Englisch gelesen, aber sehr wohl festgestellt, dass es weitere Stellen gibt, an denen er auf das Symbol setzt – und die wieder anders übersetzt wurden. Wenn da steht „It was evening. Purple. […]“, dann finde ich die Übersetzung mit „Es war Abend. Dunkelrot. […]“ (eBook, Kap. 2, 4 %) in diesem Fall schwierig. Das Wort eines Einwortsatzes ist wichtig, oder? Ich hätte diese Verstärkung und diesen Auftakt gerne gelesen, wie er geschrieben wurde.

Lila ist eine Mischung aus Blau und Rot, „bläulich“ und „dunkelrot“ sind nicht völlig falsch, im Gegenteil, die Änderungen sind gut überlegt, die Mehrheit wird ebenfalls mit Blut rot, mit einer Prellung blau assoziieren. Dass also aus „purple mud“ dunkelroter Schlamm (eBook, Kap. 17, 63 %) wird, macht Sinn – und dennoch finde ich es schade, dass nicht konsequent „lila“ beibehalten wurde, weil es keine zufällige Wiederholung ist. Der Autor hat nirgends „bluish“ geschrieben, es war nicht vorgesehen, dass die Leserschaft im Kopf Farben mischen muss, um den Wink zu verstehen.

Ich kann die Übersetzung nicht in Gänze beurteilen, da ich fast ausschließlich nach „purple“ gesucht habe. Sie macht ansonsten auf den ersten Blick einen guten Eindruck – und überhaupt: No hate, niemals von mir. Aber ich hätte so gerne „lila“ gelesen, wo „purple“ stand. Es hätte sich stimmiger angefühlt.

Fazit

Ich habe eine Schwäche für Geschichten, in denen es um Unausgesprochenes und weggesperrte Gefühle geht, für Menschen, die sich verletzlich zeigen und offenbaren. Kein Wunder, dass mich „Das weite Herz des Landes“, dieses raue, leise, schmerzhafte und bewegende Buch, das schnell gelesen ist, aber nicht vergessen wird, gekriegt und berührt hat.

Das weite Herz des Landes von Richard Wagamese

Das weite Herz des Landes – Richard Wagamese

Originaltitel: Medicine Walk (2014)

Übersetzung: Ingo Herzke

Verlag: Heyne

Erschienen: 10.08.2022

Seiten: 288

ISBN: 978-3-453-42633-7

Jetzt zu Amazon:

Links mit einem Sternchen (*) sind Affiliate-Links. Wenn du einen Affiliate-Link anklickst und im Partner-Shop einkaufst, erhalte ich eine kleine Provision. Für dich entstehen keinerlei Mehrkosten.

Deine Meinung

3 Antworten

  1. Deine Rezension klingt so gut. Danke für den Tipp. :)
    Spannend finde ich deinen Absatz zur Übersetzung – so tiefgehende Gedanken habe ich mir noch nie darüber gemacht.
    Liebe Grüße
    Marie

Und was sagst du dazu?

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Lass Dich über neue Rezensionen benachrichtigen.