„Der heutige Tag – Ein Stundenbuch der Liebe“ steckt voller Verpflichtungen, aber auch Liebe und Mitgefühl. Das autofiktionale Buch berührt, ohne rührselig zu sein.
Inhalt
„Der heutige Tag – Ein Stundenbuch der Liebe“ ist ein autofiktionaler Roman. Helga Schubert ist seit 58 Jahren mit ihrem Mann, sie nennt ihn Derden, zusammen. Als er pflegebedürftig wird, schauen sie sich Einrichtungen an, doch letztlich will er zu Hause bleiben, bis zum Ende. Was auch bedeutet: Sie muss für ihn da sein, rund um die Uhr, jeden Tag, zum überwiegenden Teil ganz allein – bis zum Schluss.
Ein berührender Einblick in ein aufopferungsvolles Leben
Helga Schubert schildert verschiedene Situationen ihres Alltags mit ihrem kranken Ehemann. Ich hatte den Eindruck, sehr intime Einblicke zu bekommen.
Die Autorin beschreibt, wie es ist, allein zuständig zu sein, bis oben hin voll mit Verantwortung und Aufgaben, immer, jeden Tag, jede Stunde. Sie zeigt, wie schwer es ist, dem anderen den Wunsch zu erfüllen, bis zuletzt zu Hause zu leben. Sie macht darauf aufmerksam, wie anstrengend bis aussichtslos es ist, eine Vertretung zu organisieren, die verfügbar, bezahlbar und passend ist.
Wie kann man es verkraften, wenn man nicht mehr erkannt wird – nach all den gemeinsamen Jahren? Wie soll man reagieren, wenn der Kranke auf eine Schilderung besteht, von der man weiß, dass sie falsch ist? Wie behält man die Nerven? Wie akzeptiert man, dass das gewohnte Leben vorbei ist, dass die Möglichkeiten nur noch klein sind?
Eins ist klar: Ohne Verständnis geht es nicht.
"Wir alle können hilflos werden und brauchen Erbarmen."
eBook S. 44/165
Und so lässt sie sich ein auf die Welt, in die Derden gegangen ist. Er gegen seinen Willen, sie freiwillig – aus Liebe, Dankbarkeit für die Vergangenheit, die sie in dem Buch immer wieder beleuchtet, aus dem Mitgefühl heraus, das sie empfindet. Eine größere Liebeserklärung gibt es kaum, oder?
Ein starker Wille
Aus den Zeilen spricht durch die Strapazen, die die Pflege eines Menschen mit sich bringt, zwangsläufig eine gewisse Verzweiflung. Der Alltag findet innerhalb der eigenen vier Wände statt, bewegt sich irgendwo zwischen starrer Routine und schlechten Überraschungen. Doch es ist kein Buch, das runterzieht. In „Der heutige Tag – Ein Stundenbuch der Liebe“ gibt es jede Menge Liebe. Ich finde es bewundernswert, dass die Autorin immer wieder zurückfindet zu ihren zugewandten Gefühlen. Sie beschönigt nichts, verschweigt ihre negativen Gedanken und die der anderen nicht, nimmt sie hin, kommt darüber hinweg, soweit möglich.
"Es geht nämlich um das Loslassen,
das Annehmen,
es geht um das Friedenschließen,
das Einverstandensein,
um das nicht dauernd den andern, sich und das Leben Ändernwollen."eBook S. 24/165
Helga Schubert ist über 80 – wie viele Menschen schaffen es da, sich zu jeder Tages- und Nachtzeit in dieser Form um jemanden zu kümmern? Und wie viele wollen es? Für mich steht hier ihr starker Wille im Vordergrund. Ohne den wäre dieses Leben so nicht möglich. Es ist eine Entscheidung, die sie getroffen hat – und wieder schreibe ich es: aus Liebe, Dankbarkeit und Mitgefühl.
Aufbau/Stil
Ein wenig sprunghaft wirkt der Aufbau von „Der heutige Tag – Ein Stundenbuch der Liebe“ schon, bewegen wir uns doch zwischen einzelnen aktuellen Ereignissen, der Vergangenheit und den Episoden anderer Menschen. Ich fand vor allem die Einblicke in das Heute interessant.
Der Text liest sich leicht weg, obwohl der Inhalt belastend ist.
Fazit
„Der heutige Tag – Ein Stundenbuch der Liebe“ berührt, ohne rührselig zu sein. Das Buch bringt den schweren Inhalt rüber, ohne zu erdrücken. Es macht Mut, an Entscheidungen, die man gegen die Ratschläge anderer getroffen hat, festzuhalten, ohne zu beschönigen. Es erinnert an die eigene Sterblichkeit und Verletzlichkeit, daran, dass uns ein solches Schicksal – auf welcher Seite auch immer – alle treffen kann. Ich bin beeindruckt von Helga Schuberts Leistungen – als Autorin, als pflegende Ehefrau, als Mensch.
Der heutige Tag – Helga Schubert
Originaltitel: –
Übersetzung: –
Verlag: dtv
Erschienen: 16.03.2023
Seiten: 272
ISBN: 978-3-423-28319-9
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3 Antworten
Sehr schöne Besprechung. Wichtig finde ich den Umstand, dass Schubert ihren Text als „Stundenbuch“ bezeichnet, also als Besinnungstext und nicht als Roman. Erst als ich diese spirituelle und religiöse Seite voll erfasste, verstand ich Aufbau und Rhythmus. Es ist keine Narration – es ist eine Art Zwiegespräch mit dem eigenen Glauben, zumindest ergab aus dieser Perspektive für mich der Text einen klaren Sinn. Viele Grüße
Ich will ganz ehrlich sein: Ich habe das so nicht gesehen. In der Inhaltsangabe heißt es „Entlang der Stunden eines Tages erzählt Helga Schubert davon, (…)“ – und so ähnlich habe ich das gedeutet. Wie Stundenzettel. Weil Liebe, nicht nur, aber gerade in ihrem Fall, Arbeit ist. Und darum geht es.
Dein kluger Gedanke macht Sinn, das Buch beginnt ja sogar mit einem Bibelvers.
Du hast keine Rezension dazu geschrieben, oder? Habe auf dem Blog nur „Vom Aufstehen“ gefunden.
Ich habe tatsächlich diesen Aspekt herausgearbeitet, aber die Rezension erscheint erst in zwei Wochen, denke ich. Ich lass mir gerne Zeit. Es ist nur ein Hobby. Deine Lesart passt ja auch. Ich habe nur „Stundenbuch“ als Begriff genommen [siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Stundenbuch%5D … und dann mit Rilke quergelesen. Es ist ein außerordentliches Buch!! Mir hat aber „Vom Aufstehen“ mehr zugesagt.