Der Traum meiner Mutter – Alice Munro

Der Traum meiner Mutter - Alice Munro

„Der Traum meiner Mutter“ enthält vier Kurzgeschichten, die ein seltsames bis unangenehmes Gefühl, allerhand Fragen sowie den Wunsch hinterlassen, mehr von Munro zu lesen. Ein Mysterium – wie die Storys selbst.

Inhalt

„Der Traum meiner Mutter“ ist mein erstes Buch der Autorin. Meine Meinung nach den vier Kurzgeschichten allgemein:
Alice Munro schreibt mitreißend und fesselnd, ich mochte ihren Stil. Sie verwirrt, lässt Lücken, teils offene Enden. Sie schreckt nicht vor brenzligen Themen zurück, ist nicht darauf aus, harmlose und behagliche Storys zu verfassen. Ihre Geschichten bieten viel Raum für Interpretationen und Diskussionen. Trotz der unangenehmen Gefühle, die die Kurzgeschichten auslösen, wollte ich mich sofort in die nächste stürzen. Die Sammlung wird kaum meine einzige Erfahrung mit der kanadischen Literaturnobelpreisträgerin bleiben. Aber hier fangen wir an, mit vier Titeln, in denen es um Frauen geht, die auf die eine oder andere Art und Weise nach Liebe suchen – und feststellen, dass sie sich zunächst selbst finden/befreien müssen:


 

Der Traum meiner Mutter

Die titelgebende Kurzgeschichte startet mit einem Traum: Eine junge Mutter hat ihr Baby über Nacht draußen vergessen, es fiel Schnee, das Baby starb. Ganz schön hart – und effektiv. Ich war sofort drin in der Geschichte, umgeben von Gefühlen wie Angst und Schuld, wollte wissen, was es mit dieser Szene auf sich hat. 

Nach und nach, ziemlich ungeordnet, erfahren wir, wem wir folgen:

Juli 1945: Als der Ehemann der Geigerin Jill im Krieg fällt, ist sie schwanger. Sie zieht zu den Schwestern und der dementen Mutter ihres verstorbenen Mannes George. Das Mädchen, das sie zur Welt bringt, erzählt die Geschichte aus der Ich-Form heraus, was seltsam erscheint, weil es anfangs nicht einmal geboren war. Eine Perspektive, die erstaunlich gut funktioniert.

Das Verhältnis zwischen Jill und ihrer Tochter ist gestört. Georges Schwester Iona übernimmt den größten Teil der Pflege des Säuglings – bis die Familie Kirkham eines Tages einen Ausflug macht und Jill alleine klarkommen muss. 

Die Geschichte liest sich wie ein Kampf – zwischen der jungen Mutter und dem Mädchen, der Musikerin und ihrem Instrument, Jill und den Schwägerinnen. Wie ein Wettkampf zwischen dem, was Jill in ihrem Zustand geben kann, und dem, das Iona überflutet. Überraschenderweise ist es ein Kampf, der für alle gut ausgeht, was sich bis zuletzt nicht abzeichnet. 

Es ist keine allzu ernstzunehmende Erzählung. Dennoch beeindruckten mich beispielsweise die Sätze zur Wirkung des Schreiens des Kindes auf die Mutter. Die Verzweiflung ist nachvollziehbar. Auch das Fehlen der Romantisierung im Hinblick auf die Themen Mutterschaft und Künstlerdasein sind bemerkenswert. 

Ich mochte vor allem, wie sich der Text las. Ich kam da nicht raus, ehe ich mich am Ende wiederfand. 

Die Kinder bleiben hier 

Familie Keating verbringt die Ferien an der Ostküste von Vancouver Island: Lehrer Brian, seine Ehefrau, die beiden Töchter und seine Eltern. Brians Vater bestimmte den Ort, zwei Wochen sind angesetzt, alles wie immer. Zumindest fast, denn nach und nach entdeckt Pauline, dass da noch mehr ist, dass es andere Möglichkeiten gibt.

Pauline übt für eine Aufführung – ihre erste überhaupt. Sie soll im September Eurydike spielen, musste nicht einmal vorsprechen, wurde wegen ihres Aussehens genommen. Sie genießt die sonntäglichen Proben, fühlt sich frei an diesen Nachmittagen, schlüpft nicht nur in ihre Rolle, sondern als sie selbst auch ein Stück weit in ein anderes Leben – in eines ohne Anhang.

Brian verteidigt Pauline vordergründig vor seinem bissigen Vater, hintenrum verlangt er einiges von ihr, denn sie soll alles unter einen Hut bekommen: die Kinder, die Gefühle der Schwiegereltern, das Lernen des Textes. Er sieht sie nicht, hört ihr nicht richtig zu, unterstützt sie nicht, vereitelt Zeit, die sie für sich haben könnte. Er nimmt nichts allzu ernst – und erwartet quasi das Gleiche von ihr, nur dass ihr das nicht möglich ist. Sie ist anders eingestellt – und sie muss allerhand Verpflichtungen nebenbei erfüllen. In dem Leben mit ihm hat sie keine andere Wahl.

Die Geschichte wird 30 Jahre später erzählt, so dass wir eine grobe Ahnung davon kriegen, wie es für die Beteiligten nach dem Urlaub weitergegangen ist. Die Ausführungen zum Thema akuter/chronischer Schmerz haben mich berührt.
Wie in der titelgebenden Story, wird auch in „Die Kinder bleiben hier“ deutlich, dass ein Bruch nicht endgültig sein muss, dass man trotz allem zueinanderfinden kann. Munro beschönigt wieder nichts: Eine perfekte Verbindung ist nicht drin. Aber Pauline hat ihre Entscheidung getroffen, eine, die nicht rückgängig zu machen ist; die Autotür ist zu, der Schlüssel drinnen. 

"Eine Flüssigkeit, eine Wunschvorstellung, wird auf den Boden geschüttet und erhärtet sofort; nimmt eine endgültige Form an."

Sie hat sich entschieden. Für sich. Weil beides, die Kinder und sie, nicht möglich war. Den Preis dafür bezahlt sie ein Leben lang.

Stinkreich

Ich glaube, dass „Stinkreich“ viel Interpretationsspielraum bietet – und ich wüsste lieber mehr darüber, wäre mir gerne sicherer, wie diese unangenehme Kurzgeschichte tatsächlich gemeint ist.

Wir haben hier ein elfjähriges Mädchen, Karin, das erwartet, von seiner Mutter und deren Freund am Flughafen abgeholt zu werden. Um Derek einen Spaß zu bereiten, trägt Karin eine Baskenmütze und roten Lippenstift, hält eine Zigarettenspitze parat. Sie versucht, wie eine Prostituierte zu wirken, obwohl ihr bewusst ist, dass ihr das nicht gelingen wird.

Diese Anfangsszene löst unangenehme Gefühle aus, die bis zum Schluss nicht vergehen. Ist sie wirklich elf? Ist das ein angemessenes Verhalten? Warum tut sie das? Wer ist dieser Mann überhaupt?

Wir erfahren: Dieser Mann gehört zu einem Dreiergespann, das von Karins Mutter Rosemary und Dereks Ehefrau Ann komplettiert wird. Bei diesen wenig verantwortungsbewussten Leuten verbringt Karin ihre Ferien, so auch in diesem Sommer des Jahres 1974.

Es ergeben sich viele Fragen, die Lücken und Ungereimtheiten verwirren. Zögerlich setzt sich ein Bild zusammen, von dem ich mir nie sicher war, wie es final aussehen und ob ich es richtig deuten würde.

Ich denke, neben der Verkleidung am Flughafen zeigen schon das Zwinkern des „verhutzelten Mannes“ im Doughnut-Laden, Karins Deutung und Rosemarys Einschätzung dazu, in welche Richtung diese Geschichte geht. Die Frage ist, wie Derek einzuschätzen ist. Warum legt er Karin auf, ihre Mutter zu trösten? Weshalb gibt er ihr – einem Kind! – einen Joint? Welche Absichten verfolgen die Figuren? Es ist alles äußerst bedenklich. Und wir sind vollständig auf Karins Bericht angewiesen. 

Fest steht: Inmitten der fragilen Beziehungen zwischen den drei Erwachsenen muss das Mädchen seinen Platz finden.

Die Wahl des Titels wirft ebenfalls Fragen auf. Rosemary wird von Derek als „stinkreich“ bezeichnet. Ihre Eltern waren wohlhabend, es scheint zu stimmen, auch wenn sie für Derek in einen Wohnwagen in seine Nähe gezogen ist. Ist sie überhaupt nur wegen des Geldes interessant für Derek – und geduldet von Ann?

„Stinkreich“ ist eine Story, die viel Raum für Diskussionen bietet.

Vor dem Wandel

In „Vor dem Wandel“ schreibt eine 24-Jährige einen Brief an Robin, abgekürzt R. Sie war mit ihm verlobt, bevor ein Streitpunkt in ihrem Leben auftauchte, über den sie niemals hinwegkommen würden.

Die junge Frau ist in ihr Elternhaus gefahren, ihr Vater, ein Arzt namens Dr. Strachan, duldet sie – wenn auch nicht ihren Tatendrang, Dinge zu verändern. Das Verhältnis zwischen beiden war immer distanziert und schwierig. Hinzu kommt, dass die Erzählerin um sein Geheimnis weiß – und bei ihrem Aufenthalt sogar hineingezogen wird.

„Vor dem Wandel“ ist eine extrem ungemütliche Geschichte, die zu einer Zeit spielt, in der Abtreibungen illegal waren. Es gibt eine Szene, die sich hochgradig qualvoll liest.
Das ist jedoch nicht alles, denn die Erzählerin kam schon einmal mit dem Thema in Berührung – und traf ihre Entscheidung aus wenig sentimentalen Gründen. Dieser Punkt macht die Story für mich noch düsterer.

Es wird deutlich, dass die Protagonistin die Briefe in eigener Sache verfasst. Sie wird sie nicht abschicken. Sie reflektiert, erhält Einsichten. Am Ende der Geschichte könnte sie sich betrogen fühlen, einsam. Aber sie ist glücklich. Denn sie ist frei.

Es bleiben viele Fragen, auf die die Autorin keine Antworten gibt. Das ist das, was ich an Storys dieser Art mag: Man denkt ewig darüber nach, was hier die Hintergründe, was da tatsächlich los gewesen sein könnte. Wieso hat der Vater getan, was er getan hat? Hat das Schicksal seiner Frau damit zu tun? Warum hat Mrs. B. das Geld? Hat sie es erpresst? Hat er es ihr gegeben? Ich kann mir mehrere Lösungen vorstellen. Eine gewisse Unsicherheit bleibt. Wer kein Fan von Rätseln dieser Art ist, wird nicht glücklich mit Munros „Der Traum meiner Mutter“.

Fazit

„Der Traum meiner Mutter“ enthält vier Geschichten, die ein seltsames bis unangenehmes Gefühl und allerhand Fragen hinterlassen – und den Wunsch, mehr von Munro zu lesen, die so fein und fesselnd schreibt, dass man sich kaum trennen kann.

Der Traum meiner Mutter - Alice Munro

Der Traum meiner Mutter – Alice Munro

Originaltitel: My Mother‘s Dream, The Children Stay, Rich as Stink, Before the Change

Übersetzung: Heidi Zerning

Verlag: S. Fischer

Erschienen: 01.04.2005

Seiten: 224

ISBN: 978-3-596-16163-8

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