Die Geschichte der Lucy Gault – William Trevor

Die Geschichte der Lucy Gault - William Trevor

„Die Geschichte der Lucy Gault“ ist eine traurige: Die Gaults, die ihre Tochter für tot halten, verlassen ohne sie Irland. Doch die Achtjährige lebt – und wird ihr Leben lang auf die Rückkehr ihrer Eltern hoffen.

3.5/5

Inhalt

Der Schuss war lediglich zur Abschreckung gedacht, doch Captain Everard Gault verwundet einen von drei Männern. Sie haben die Hunde vergiftet und wollten Lahardane in Brand stecken. Weil sich seine Frau Heloise aufgrund der Unruhen des Landes und der schicksalhaften Nacht des 21.06.1921 nicht mehr sicher fühlt, beschließt das Paar, Irland zu verlassen. Lucy, acht Jahre alt, belauscht die Gespräche und läuft von zu Hause weg. Auf dem Weg in ein Versteck knickt sie um, schafft es aus eigener Kraft nicht zurück. Ihre Eltern finden am Strand Indizien dafür, dass ihre Tochter ertrunken ist – und gehen fort. Ohne Lucy.

Die Schuldfrage

Weil Captain Gault und seine Frau, eine Engländerin, ihre Tochter für tot halten, entscheiden sie sich, abzureisen. Ziel war zunächst die Heimat von Heloise, doch sie ändern ihre Pläne. Nicht einmal die O’Reillys, die in dem Pförtnerhaus zurückbleiben, erhalten eine Nachricht, geschweige denn eine neue Adresse, weshalb die Eltern nicht benachrichtigt werden, als Lucy gefunden und nach Lahardane zurückgebracht wird.

Fortan leben alle Charaktere mit Schuldgefühlen:

"Ich war damals auch verliebt - in Bäume und Felstümpel und Fußabdrücke im Sand."

Glaubwürdig?

Ich als Leserin habe mich zwangsläufig gefragt, wie glaubhaft die Entscheidung des Paars ist. Würde ich als Mutter sofort davon ausgehen, dass meine Tochter ertrunken ist? Alle Hoffnung über Bord werfen? Zu keinem Zeitpunkt eine Adresse hinterlassen, für den Fall, dass sie gefunden wird – und sei es tot? Nie bei meinen Angestellten nachfragen? Könnte ich mich derart von dem Thema abschotten?

Dass die Zeit, in der sich Lucy allein durchschlägt, nicht näher beschrieben wird, trägt ebenfalls nicht zur Glaubwürdigkeit bei.

Glücklicherweise konnte ich mich dennoch auf den Inhalt einlassen, auch wenn er mich nicht tief berührt hat. Ich habe den Weg, den die Figuren gegangen sind und der ganz anders ist, als er hätte sein können, gerne verfolgt.

Das große Schweigen

Es zieht sich durch das Buch, dass Dinge nicht ausgesprochen werden. Zunächst spürt Lucy, dass etwas im Busch ist. Sie hat den nächtlichen Schuss verschlafen und wird nicht eingeweiht. Erst als sie die Gespräche der Erwachsenen belauscht, erfährt sie, dass ihre Eltern – wie viele andere um sie herum – ans Weggehen denken.

Auch später findet sich das Schweigen wieder, etwa wenn die Gaults es vermeiden, über die Vergangenheit – und somit ihre Tochter – zu sprechen. Heloise tut sich allgemein schwer damit, über ihre Gefühle zu reden:

"Aber morgen würde sie es besser machen. Sie hörte sich schon um Verzeihung bitten und dann über alles sprechen, worüber sie sonst nie sprechen wollte; bevor sie die Augen schloss, gingen ihr die Sätze leicht über die Lippen. Als sie jedoch einschlief und nach wenigen Minuten wieder wach wurde, hörte sie sich sagen, dass sie diese Unterhaltung nicht führen könnte, und sie wusste, dass sie Recht hatte."

Auch die Figur, die gegen Ende auftaucht und der eine zentrale Rolle zukommt, weil hier Lucys größte Entwicklung stattfindet, ist eine, die letztlich nicht spricht.

In diesem Roman ist es oft das, was nicht getan wird, das die Situation verschlimmert: Die Eltern nehmen Lucy und ihre Weigerung, das Haus zu verlassen, nicht ernst. Sie sprechen nicht mit ihr. Sie stellen die Suche rasch ein, geben die Hoffnung auf. Sie bleiben nicht. Weder steuern sie das geplante Ziel an noch teilen sie später ihre Adresse mit ihren Bekannten. Der Captain schreibt Briefe, schickt sie jedoch nicht ab. Lucy verliebt sich, gibt der Beziehung aber keine Chance, lässt ihr Glück nicht zu.

Man kann „Die Geschichte der Lucy Gault“ als einen Aufruf lesen, den Mut aufzubringen, hinzuschauen und Dinge zu tun, auch wenn es schmerzlich ist. Seine Gefühle zuzulassen und auszusprechen; sich zu öffnen, obwohl es wehtut. Und dann wiederum: sich nicht selbst zu quälen und zu bestrafen. Einen Mittelweg zu finden.

Die Sache mit der Hoffnung

Die Eltern verlieren sie, Lucy gibt sie nie auf: Die Hoffnung. Der Roman zeigt uns auch hier beide Seiten – und keine hat es leicht. Ich mag, wie William Trevor das Thema behandelt, die Story aufbaut und niemanden verurteilt, weder die Gaults noch die Zurückgebliebene. Ich kann sie alle verstehen, auch wenn ich bezweifle, dass ich gehandelt hätte wie sie. Der Autor hat es hingekriegt, dass ich ihre Verhaltensweisen glauben und hinnehmen konnte, dass ich nie das Gefühl hatte, mich auf eine Seite schlagen zu müssen.

Aufbau

Das Buch wird in fünf Teilen und verschiedenen Kapiteln auf 287 Seiten erzählt. Es gibt keinen Ich-Erzähler, wir verfolgen sowohl Lucys als auch den Werdegang ihrer Eltern.

Die Handlung ist überschaubar, große Überraschungen sind Mangelware. Dennoch habe ich das ruhige Buch gerne gelesen, weil ich gespannt war, wie „Die Geschichte der Lucy Gault“ ausgeht: Wird sie, die das Unerträgliche aushält, ihre Eltern wiedersehen und die Vergebung erfahren, die sie so dringend benötigt?
Im Übrigen mag ich Trevors einfachen, aber fesselnden Schreibstil, ebenso seine Ideen und die Umsetzung. Dies ist mein zweites Buch von ihm – und wieder war nach einer gewissen Zeit ausgeschlossen, dass es ein sorgloses Ende geben wird. In „Liebe und Sommer“ stand das von Anbeginn an fest, denn es gibt immer mehrere Seiten – und mindestens eine wird enttäuscht zurückbleiben. Der Autor schafft es, dass wir Sympathien für seine Figuren entwickeln und uns das Unmögliche für sie wünschen. Aber er hat es nicht so mit Happy Ends. Bzw. schreibt er lieber schmerzlich-lebensnah als märchenhaft-verklärt. Und das ist gut so. Ich mag seine Geschichten, sie bringen zum Nachdenken.

Fazit

„Die Geschichte der Lucy Gault“ ist einerseits ein trauriger Roman. Andererseits haben alle das (aus ihrer Sicht) Beste aus der Situation gemacht – und am Ende ist es zwar ein melancholisches, aber auch ein versöhnliches Buch mit einer absolut willensstarken Hauptfigur.
Ich mag, was und wie der Autor schreibt. Einige seiner Werke warten noch auf mich – und ich freue mich auf sie.

Die Geschichte der Lucy Gault - William Trevor

Die Geschichte der Lucy Gault – William Trevor

Originaltitel: The Story of Lucy Gault (2002)

Übersetzung: Brigitte Jakobeit

Verlag: Hoffmann und Campe

Erschienen: 20.10.2014

Seiten: 287

ISBN: 978-3-455-81319-7

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Deine Meinung

2 Kommentare

  1. Die mangelnden Gefühlsregungen sind vielleicht auch durch die Zeit, in der die Geschichte spielt geprägt? Damals hat man nicht wirklich viel auf echte Gefühle gegeben. Und Kinder wurden auch nicht so behandelt wir heute.
    Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ich als Mutter so reagiert hätte. Wenigstens die Nachbarn informieren.

    1. Da stimme ich dir zu, wobei Captain Gault seine Kleine sehr gut behandelt hat und sich mit seinen Gefühlen auseinandersetzen konnte.

      Ich hätte die Hoffnung nicht so schnell aufgeben und weggehen können. Das ist ein Punkt, den, wie ich im Nachhinein gelesen habe, viele in ihren Rezensionen bemängeln. Aber ich konnte das hier akzeptieren – jeder reagiert halt anders.

      Danke für deinen Kommentar. :)

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