Die Stille des Meeres – Donal Ryan

Die Stille des Meeres - Donal Ryan

In „Die Stille des Meeres“ von Donal Ryan lesen wir drei Geschichten über drei Charaktere, die eines verbindet: Sie haben jemanden verloren und trauern, jeder auf seine Weise – und am Ende treffen alle aufeinander.

4/5

Inhalt

Drei Männer, die trauern, weil sie etwas verloren haben: Farouk seine Frau Martha und die gemeinsame Tochter Amira, Lampy seine große Liebe Chloé, John erst seinen Bruder, dann seine Geliebte. Jeder Verlust hat Spuren hinterlassen – und so gehen die drei Menschen drei unterschiedliche Wege, um mit ihrem Schmerz zu leben: Farouk klammert sich an die Hoffnung, Lampy kämpft mit seiner Wut, John entwickelt Freude an der Manipulation, am Leid anderer. Und eines Tages treffen alle aufeinander.

Drei Geschichten

Farouk

Zunächst lernen wir Farouk kennen, der mit seiner Familie im Kriegsgebiet lebt. Er ist Arzt – und ein Beschützer. Um seiner Tochter Amira ein besseres Leben zu ermöglichen, entscheiden er und seine Frau Martha sich zur Flucht – mit fatalen Folgen.

"Du hast die Pflicht, deine Reise fortzusetzen und zu erfahren, was du bekommst für den grausamen Preis, den du gezahlt hast."

Lampy

Lampy heißt eigentlich Laurence und ist 23. Er wohnt mit seiner Mam und Pop zusammen, kennt seinen Vater nicht. Seine große Liebe Chloé hat ihn verlassen, er versucht vergeblich, den Verlust mit Eleanor zu kompensieren. Er ist wütend, will sich und seine Vergangenheit neu schreiben.

"Wie sollte er seinem Großvater klarmachen, dass er doch nur nach einem Ort suchte, an dem an einen Mann andere Maßstäbe angelegt wurden."

Er neigt zum Wagemut und Übersprungshandlungen. Dass er oft in Gedanken woanders ist, bringt ihn nun endgültig in Schwierigkeiten.

John

John ist der einzige Ich-Erzähler des Buches. Sein Bruder, zu dem alle aufschauten, starb früh.

"Mein Vater verlor seinen Erstgeborenen und Lieblingssohn und begann daraufhin, Land zu kaufen. Als bräuchte er Platz für das Ausmaß seiner Trauer."

Er entwickelte Freude an der Manipulation und am Leid anderer. Obwohl er verheiratet war, verliebte er sich zum ersten Mal – doch es kam anders als erhofft. Nun schaut er zurück – und bittet um Vergebung.

Ein Puzzle

Zunächst haben die Kapitel nichts miteinander zu tun. Wir lesen über Farouks Leben und lassen ihn – leider – zurück. Aber nicht hinter uns. Ich hatte ihn auch in den anderen Kapiteln im Kopf. Wenn ich nur das Cover anschaute, kriegte ich die Krise und dachte an seine Geschichte. Er bleibt präsent. Und ja, er kommt wieder. Spätestens im letzten Kapitel von „Die Stille des Meeres“. Aufmerksame Leser ahnen das allerdings schon vorher.

Wir kriegen von Anfang an nicht alles vorgekaut, müssen uns vieles erschließen, weil es zunächst nicht auf dem Papier steht. Wir erfahren Dinge, die wir erst bald danach zuordnen können. Ich habe die ganze Zeit über Hinweise gesammelt, ein Stichwort, aus dem ich etwas folgern konnte, mutmaßen: Ist das etwa…?, später die Auflösung, aha, wusste ich es doch. Mir hat das Spaß gemacht – aber man muss es mögen, Lust auf das Spielchen haben, konzentriert lesen. Denn der Aufbau ist das Besondere.

Aufbau/Stil

Dies ist kein gewöhnlicher Roman, hier hat sich Donal Ryan etwas Besonderes überlegt. Ein kleines Wagnis, wenn man mich fragt:

Zunächst lesen wir Farouks Geschichte. Ich war sehr berührt, es steckt so viel Gefühl darin. Der Schreibstil hat mich abgeholt, es gibt auch wieder diese atemlosen Endlossätze, die ich von ihm kennen und lieben gelernt habe und die so eindrucksvoll den Sturm zeigen, der in den Charakteren tobt.

Dann kommt Lampy ins Spiel – und ich wollte das nicht. Ich wollte bei Farouk bleiben. Der erste Part liest sich so wunderbar einfühlsam – und nun soll ich mich auf ihn einstellen? Das ist zu locker, ich wollte die volle Portion Gefühl zurück. Na gut, ich sah, woher seine Wut kommt, ich gewöhnte mich an ihn. Auch Pop trägt dazu bei, dass ich zwar dem Vorangegangenen hinterhertrauerte, mich aber auf die Story einließ, schließlich täuschen die derben Witze nicht darüber hinweg, dass sich in ihm jede Menge Liebe verbirgt.

Tja. Und dann gibt’s da den dritten Charakter – und ich war versucht, den Rest nur noch zu überfliegen, um herauszukriegen, worauf es hinausläuft. John, der um Vergebung bittet, interessierte mich wenig.

Aber. 

Das Ende

Im vierten Kapitel, „Seeinseln“, werfen wir einen neuerlichen Blick auf die drei, aus anderer Perspektive, aus Dixies/Pops Sicht, aus der von Mrs Coyne und Florence. Die Verbindungen werden deutlich (hier habe ich mich außerdem an den Anfang erinnert, als Farouk seiner Tochter die Geschichte über die Verbindung von Bäumen erzählt – das lässt sich durchaus auch auf die Ereignisse beziehen). Wir verstehen, weshalb alle drei ihren Auftritt gebraucht haben. Und ja, wahrscheinlich hätte eine Story ausschließlich um Farouk nicht genug geboten, ich gebe das zu. In keinem Fall hätte sie dieses unerwartete Finale ermöglicht, nach dem ich da saß und dachte: Wow. So geht’s also zu Ende. Da hat Donal Ryan wirklich ein cleveres großes Ganzes erschaffen. Und so ist es ein Wagnis, das sich auszahlt. Und ganz gewagt möchte ich abschließend hinzufügen: Selbst in diesem katastrophalen Ausgang lässt sich an einigen Stellen ein wenig Trost herauslesen.

Fazit

Was für ein Buch! Hier gibt’s ganz viel Gefühl. Jede Menge Abwechslung. Und ein Ende, das sich wie ein Krimi liest. Ich mag den Autor am liebsten, wenn er einfühlsam schreibt, gerne in seinen überlangen Sätzen. Aber diese interessante und wohlüberlegte Komposition hier… ja. „Die Stille des Meeres“ hat mich am Ende wieder eingefangen.

Zusammenfassung Die Stille des Meeres von Donal Ryan

Dieses Buch ist für dich, wenn du

Die Stille des Meeres - Donal Ryan

Die Stille des Meeres – Donal Ryan

Originaltitel: From a Low and Quiet Sea (2018)

Übersetzung: Anna-Nina Kroll

Verlag: Diogenes

Erschienen: 25.01.2023

Seiten: 288 Seiten

ISBN: 978-3-257-24667-4

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