Ein Tag mit Herrn Jules – Diane Broeckhoven

Ein Tag mit Herrn Jules - Diane Broeckhoven

„Ein Tag mit Herrn Jules“ ist die Novelle, mit der Diane Broeckhoven der internationale Durchbruch gelang. Es ist ein unaufgeregtes Büchlein, in dem alles aufeinander abgestimmt wirkt.

3/5

Inhalt

Vom Kaffeeduft geweckt, beginnt Alice ihren Tag wie immer. Doch etwas ist anders: Jules ist tot. Ihr Ehemann sitzt auf dem Sofa – und wird dort vorerst bleiben, beschließt sie. Alice ist noch nicht bereit, ihn gehen zu lassen.

Rituale und andere Pläne

Dass sie einmal zur Hinterbliebenen werden würde, damit hat Alice nicht gerechnet. Sie fand sogar die Vorstellung, an Demenz zu erkranken, gar nicht so schlecht. Aber dass ihr Ehemann stirbt? Nein, das war nicht geplant. Doch nun ist er tot – und das durchkreuzt die täglichen Routinen und sicheren Bahnen, die ihr gemeinsames Leben ausmachten. Alice muss sich den Veränderungen stellen, ist dazu jedoch – verständlicherweise – zunächst nicht bereit.

"Er war nicht tot, solange sie niemandem davon erzählte. Er lebte, solange sie das wollte."

Der Tod ihres Mannes betrifft jedoch nicht nur ihr Leben. Der autistische Nachbarsjunge kommt jeden Tag um Punkt zehn zum Schachspiel mit Herrn Jules – ein Termin, den sie nicht absagen kann, im Gegenteil: Seine Mutter ist ebenfalls in einer Ausnahmesituation, alles ist durcheinander – und David braucht so viel Normalität wie möglich. Also lässt Alice ihn herein. Und obwohl der Besuch anders abläuft als sonst, hilft er letztlich beiden.

Eigene Wege und klare Worte

Was erwartet man vom Verlauf? Dass sie einen Arzt ruft? Sich mit einem Bestatter in Kontakt setzt? Möglicherweise. Diane Broeckhoven lässt Alice jedoch anders handeln. Jules bleibt, wo er sich zuletzt niedergelassen hat: auf dem Sofa. Er verändert sich – genau wie Alice. Sie spricht aus, was sie nie konnte, als er noch am Leben war. Ihre Art ist realistisch, sie verklärt die Vergangenheit nicht, blickt zwiespältig auf sie zurück.

Alice nimmt sich Zeit, um sich von dem Mann, mit dem sie ein halbes Jahrhundert verbracht hat, zu verabschieden. David findet und schenkt ihr klare Worte, die letztlich zu ihr durchdringen:

"'Herr Jules ist weg. Das ist die Hülle von Herrn Jules'", sagte er.

Zweifellos eindrücklich.

Ungewöhnlich und verständlich, traurig, aber nicht sentimental

Ich sag’s, wie’s ist: Ich fand den Text an manchen Stellen reichlich befremdlich. Gleichzeitig konnte ich Alice‘ Gedanken nachvollziehen. Wie kommt es, dass wir ein anderes Verhalten von einem Trauernden erwarten? Von jemandem, für den das Gestern plötzlich ein Früher ist, der ohne Vorwarnung von der Ehefrau zur Witwe wird? Nichts ist seltsam an der Tatsache, dass jede Verabschiedung ihr eigenes Tempo hat.

Ist „Ein Tag mit Herrn Jules“ traurig? Ja. Ist die Geschichte herzzerreißend? Nein, für mich nicht.
Der Text an sich hat mich nicht sehr berührt. Wenn ich darüber nachdenke, was ich da gelesen habe, sieht es anders aus. Hätte man hier die Extraportion Sentimentalität einbauen können? Selbstverständlich. Wenn man gewollt hätte. Wahrscheinlich beeindruckt die Novelle aber gerade dadurch, dass sie so ist, wie sie ist. Sie erfüllt die Erwartungen nicht, ist eigen. Sie schreckt weder vor dem Thema Tod zurück noch behandelt sie ihn so, wie man es kennt. Da wird kein Abstand gehalten, der Verstorbene nicht schnellstmöglich außer Sichtweite gebracht. „Ein Tag mit Herrn Jules“ bringt zum Nachdenken: darüber, was Routinen ausmachen, wofür sie da sind und wie sie angepasst werden können, falls erforderlich. Darüber, wie viel man nicht ausspricht und zurückhält, um sich und/oder andere zu schützen. Und auch darüber, ob es richtig ist, was Alice tut. Würde man ähnlich handeln, wenn man die Chance dazu hätte?

Ein gemäßigtes Buch

„Ein Tag mit Herrn Jules“ ist eine einfach geschriebene Geschichte, die bescheiden, zurückhaltend und intim rüberkommt, kurz, aber ausreichend lang ist. Es wird alles gesagt – endlich. Die Ereignisse (Beas Notfall, das Wetter etc.) wirken aufeinander abgestimmt, in viele Sätze lässt sich mehr hineinlesen, etwa hier:

"'Der Schnee bleibt draußen, die Wärme ist drinnen'", sagte er.

Die Figuren sind – wie die Anzahl der Seiten – begrenzt: Jules, der auf dem Sofa sitzt, Bea, die wegmuss, David, der zu Besuch kommt – und Alice, die Protagonistin. Der Sohn Herman und dessen Frau Aimée werden kurz erwähnt, spielen aber keine Rolle. Dies ist die Verabschiedung einer Ehefrau von ihrem Ehemann.
Die Charaktere werden dem Umfang entsprechend wenig, aber doch so beschrieben, dass ich sie mir vorstellen konnte.

Übrigens: Am Ende wartet eine zarte Zuversicht. Man wird nicht hoffnungslos zurückgelassen.

Das Cover

Ich gehe selten auf die äußere Gestaltung ein, muss aber erwähnen, dass ich das Original-Cover des Taschenbuchs von 2018 (9789460016905) mit dem Foto der Hand favorisiere. Durch diesen Ausschnitt kriegt der Inhalt (für mich) eine intensivere Note. Als ich das Bild nach der Lektüre gesehen habe, hat es mich berührt. Vielleicht hätte ich den Text noch mehr gefühlt, wenn ich ihn mit dieser Titelseite vor Augen gelesen hätte, so doof das auch klingt.

Fazit

Eine unaufgeregte und ungewöhnliche Novelle, die sich an einem einzigen Tag abspielt. Sie bringt zum Nachdenken, (mich) aber nicht zum Weinen (und ich bin da wahrlich keine Herausforderung).

Ein Tag mit Herrn Jules - Diane Broeckhoven

Ein Tag mit Herrn Jules – Diane Broeckhoven

Originaltitel: De buitenkant van meneer Jules (2001)

Übersetzung: Isabel Hessel

Verlag: C. H. Beck

Erschienen: 2005

Seiten: 92

ISBN: 978-3-406-52975-7

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Deine Meinung

6 Antworten

  1. Danke für die Rezension. Das Thema wirkt bedenklich aufgearbeitet, da ein solcher Monolog ja keine herkömmlichen literarischen Mittel darstellen können – auch passt das Ruhige nicht wirklich zu dem Schock, den ich im übrigen von Bekannten kenne, denen exakt so etwas passiert ist. Da wird nicht gedacht. Da herrscht Panik und zwar große. Ich weiß nicht, wie sich das motivieren lässt, ohne eine sehr lange Beschreibung der betreffenden Figuren. Aber das Thema wird nicht häufig behandelt, oder? Ich behalte es mal im Hinterkopf. Viele Grüße!

    1. Ja, ich finde auch, dass das Thema selten aufgegriffen wird – und schon gar nicht so.

      Die Geschichte ist ruhig, weil wenig gesprochen wird, sich alles innerhalb dieser einen Wohnung abspielt usw. – und vor allem, weil Alice verdrängt, nicht wahrhaben will. Innerlich ist da anfangs Panik – und die wird unterdrückt.

      Ich fand’s insgesamt okay. Schade fand ich, dass es mich nicht wirklich berührt hat. Das habe ich mir bei diesem Thema anders vorgestellt.

      Liebe Grüße

  2. Ich bin ja nicht unbedingt der richtige Ansprechpartner für solche Novellen, aber Deine Rezension hat mich jetzt doch neugierig gemacht. Wenn ich drüber stolpere, nehme ich das Buch auf jeden Fall mit.

    LG Babsi

    1. Da bin ich gespannt, wie es dir gefällt, falls du es dir irgendwann holst. :)

      Ich habe Novellen auch erst für mich entdeckt. Und diese hier fand ich okay. Schade, dass sie mich so wenig berührt hat. Aber thematisch mal etwas ganz anderes.

      Liebe Grüße

  3. Deine Rezension hat mich sehr neugierig auf das Buch gemacht. Ich kenne diese Novelle nicht, sie klingt aber absolut nach meinem Geschmack. Ich notiere sie mir mal auf meiner Leseliste. :)
    Liebe Grüße
    Marie

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