Gentleman über Bord – Herbert Clyde Lewis

Gentleman über Bord

„Gentleman über Bord“ ist eine Geschichte, die sich zwischen Hoffnung und Verzweiflung abspielt. Der würdevolle Henry Preston Standish fällt ins Wasser – und kann der Wahrheit nicht länger entfliehen: Sein Leben ist leer.

4.5/5

Inhalt

„Als Henry Preston Standish kopfüber in den Pazifischen Ozean fiel, ging am östlichen Horizont gerade die Sonne auf.“

Ein interessanter erster Satz, ich musste weiterlesen und eintauchen in die Geschichte des 35-jährigen Henry Preston Standish, diesem vornehmen Börsenmakler, der im Rahmen einer Midlife-Crisis seine Familie in New York zurücklässt. Er befindet sich auf der S. S. Arabella, die von Honolulu zur Kanalzone unterwegs ist, einer 21-tägigen Reise, die für ihn an Tag 13 endet. Ein falscher Schritt und er findet sich im Pazifischen Ozean wieder. Kein Problem, schließlich wird das Schiff umdrehen und ihn auflesen. Oder?

Acht weitere Passagiere

Ich gestehe, dass ich den schmalen Roman schon einmal angelesen und abgebrochen habe. Anfangs werden die Beteiligten kurz vorgestellt: Mrs. Benson, die mit ihren vier kleinen Kindern an Bord ist, Mr. und Mrs. Brown, eine gottesfürchtige Einheit. Mit Nat Adams, einem 73-jährigen Farmer aus Neuengland, freundet sich Henry an. Auch die Besatzung kommt zur Sprache. Mir war das zu viel. Bzw. zu wenig: Hier ein Sätzchen, da ein Stichwort. Ich dachte: So viele Namen, so wenig, das ich mit ihnen verbinde, das wird nichts. Aber es wurde im zweiten Anlauf doch etwas. Man muss nur weiterlesen.

Die Gedanken eines Gentlemans

Die Hauptfigur hat mich fertiggemacht. Ehrlich.

Henry Preston Standish ist stolz darauf, dass er, wie seine Vorfahren, geistig gesund und vornehm ist. Er verfällt nicht in Panik, jedenfalls nicht wegen seiner Lage, oh nein. Seine Devise: bloß niemandem zur Last fallen. Er schreit nicht um Hilfe, er flüstert. Er möchte nicht gerettet werden und dumm dastehen, aber weiterleben wäre schon schön. Sein Missgeschick ist ihm peinlich, er verbringt viel Zeit damit, sich selbst niederzumachen.

"Das Anstandsgefühl eines Mannes war genauso wichtig wie sein Leben."

Dem Autor gelingt es, den Protagonisten glaubhaft erscheinen zu lassen. Ich habe Standish sein Verhalten und die Gedanken abgekauft, so absurd sie in dieser Situation auch sein mögen. Kennen wir nicht alle die eine oder andere Person, die es mit „Das macht man nicht“ und „Was sollen die Leute denken?“ ein wenig übertreibt? Sind nicht ziemlich viele Menschen – gar der Großteil? – ganz schön unfrei?

Nichts

Henry schaut nicht hin, sieht der Wahrheit nicht ins Auge. Zunächst stürzt er sich in seine Arbeit, als ihm dies nicht mehr möglich ist, geht er aufs Schiff und konzentriert sich auf seine Mitmenschen, statt seinen Blick nach innen zu richten. Erst im absoluten Nichts, fernab jeder Ablenkung, gelingt ihm das. Als er sich für einen Moment als Ertrinkender wahrnimmt, erwartet er, sein Leben in der Rückschau vorbeiziehen zu sehen.

"Standish wartete geduldig darauf, dass etwas passierte, war aber nicht dazu in der Lage, ein einziges Ereignis aus seinem vergangenen Leben heraufzubeschwören. Es ärgerte ihn ein wenig, dass er im Rückblick nichts sah."

Ist das nicht schrecklich? Da ist nichts, an das es sich zu erinnern lohnt. Er lenkt sich von dieser quälenden Einsicht ab, aber er weiß es. Genau wie wir erfahren, wie es angefangen hat, denn auf Seite 35 heißt es:

"Eine strenge Erziehung hatte ihm die lebhaften Farben entzogen und ihn als so langweilig wie eine Leinwand in Grau zurückgelassen."

Er wuchs in einem Umfeld auf, in dem er zu einem gehemmten Menschen wurde. Diese Verlegenheit und Zurückhaltung ist ein großes Problem innerhalb der Geschichte; auch Nat Adams ist zur ungünstigsten Zeit innerlich blockiert. „Gentleman über Bord“ ist ein perfektes Beispiel dafür, wie unsinnig, gar gefährlich falsche Scham ist.

Und wo wir bei „langweilig“ sind: Dass Herbert Clyde Lewis es schafft, dass man dranbleibt bei einem Mann wie Standish, ist ein Ding für sich.

Und, immer noch auf S. 35:

"Er erledigte alles stets ordentlich, aber ohne Begeisterung."

Das sind die Themen, die das Buch für mich irre stark machen. Ich konnte das fühlen. Da ist dieses trostlose Leben, da ist dieser Mann, der weiterleben, noch eine Chance haben will. Er, der all das Gute, das ihm widerfuhr, als selbstverständlich hinnahm, erkennt, wie wahllos das Schicksal zuschlägt. Endlich hat er etwas zu erzählen, wenn auch unfreiwillig. Doch ob es jemals dazu kommen wird?

Aufbau/Stil

Zehn Kapitel und ein Nachwort von Jochen Schimmang hält das Buch, dessen Titel „Gentleman über Bord“ ich perfekt gewählt finde, bereit.

Einen Ich-Erzähler gibt es nicht. Wir erfahren das, was wichtig ist, nebenbei, bekommen sowohl einen Blick auf Standish und sein Gedanken-Auf-und-Ab als auch auf das Schiff, auf dem das Leben weitergeht. Herbert Clyde Lewis ist ein toller Erzähler, ich mag seinen Stil sehr. Er schreibt eher sachlich, teils mit Ironie gespickt, in jedem Fall so, dass ich mit dem, oder sagen wir: für den Protagonisten gefühlt und ihm seine seltsamen Einfälle abgekauft habe.

Ich empfand alles als gut überlegt. Ist es ein Zufall, dass das Unglück an einem Mittwoch, den 13. um 05:23 geschieht, oder dass er von genau dieser Stelle stürzt? Ich denke nicht.

Fazit

„Gentleman über Bord“ ist ein ruhiges und dramatisches Buch, das in Erinnerung bleibt.

Gentleman über Bord

Gentleman über Bord – Herbert Clyde Lewis

Originaltitel: Gentleman Overboard (1937)

Übersetzung: Klaus Bonn

Verlag: mare

Erschienen: 01.06.2023

Seiten: 176

ISBN: 978-3-86648-696-6

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Deine Meinung

2 Antworten

  1. Wie toll das klingt. ❤️ Ich habe das Buch auch schon seit einiger Zeit auf meiner Leseliste. Jetzt rückt es weiter nach oben.
    Einen schönen Sonntag wünsche ich dir
    Alles Liebe,
    Marie

    1. Ja, mir hat es wirklich gefallen und ich habe tatsächlich schon häufiger daran zurückgedacht. Werde es irgendwann noch einmal lesen. :)

      Danke für deinen Kommentar und
      liebe Grüße <3

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