Ich nannte ihn Krawatte – Milena Michiko Flašar

Ich nannte ihn Krawatte - Milena Michiko Flasar

Für Fans von kurzen Sätzen, Kapiteln und Büchern: „Ich nannte ihn Krawatte“ behandelt viele wichtige Themen, es geht um das Anderssein, vorgezeichnete Wege, eigenständige Entscheidungen. Und um Mitgefühl.

3/5

Inhalt

Der 20-jährige Taguchi Hiro wagt sich nach langer Zeit wieder vor die Tür. Dabei lernt er einen Salaryman kennen, der ebenfalls jeden Tag den Park aufsucht und die gegenüberliegende Bank besetzt. Der Mann mit der Krawatte seufzt, isst, trinkt, liest, raucht und schläft – und Taguchi erträgt, was sonst nicht auszuhalten ist. Er findet Gefallen an der Gesellschaft, bricht nach zwei wortlosen Jahren sein Schweigen, vertraut sich dem 58-Jährigen an, der ihm seinerseits offenbart, was er seiner Ehefrau nicht sagen kann.

Vor sieben Wochen haben sich die beiden zum letzten Mal gesehen. Warum? Wo steckt Tetsu?

Hikikomori

Hast du das Wort Hikikomori schon einmal gehört? Ich habe es durch „Ich nannte ihn Krawatte“ kennen gelernt. Es ist die japanische Bezeichnung für Menschen, die sich zurückziehen und jeden Kontakt vermeiden. Die soziale Isolation kann jahrelang dauern. Oft geht es dabei um vorgezeichnete Wege, um die Angst, den Ansprüchen der Gesellschaft nicht zu genügen. Auch Schuldgefühle können eine Rolle spielen.

In dem Buch von Milena Michiko Flašar haben wir mit dem Protagonisten und Ich-Erzähler Taguchi einen Hikikomori.

"Mein Dasein bestand darin, dass ich fehlte."

Er lebt bei seinen Eltern, eingeschlossen in seinem Zimmer, das er allenfalls verlässt, wenn er weiß, dass beide außer Haus sind. Seit kurzer Zeit schafft er es, in den Park zu gehen, sich auf eine Bank zu setzen, sie – und letztlich noch vieles mehr – nach Blicken und Gesten mit Ohara Tetsu zu teilen.

Der Mann mit der Krawatte

Auch Ohara Tetsu ist jemand, der sich zurückgezogen hat, allerdings hat er kein Problem damit, das Haus zu verlassen, im Gegenteil: Er tut es, obwohl er es nicht müsste. Dem 58-Jährigen ist passiert, wovor Hikikomori sich fürchten: Er genügt den Ansprüchen der Gesellschaft nicht mehr, wird nach vielen Jahren im Berufsleben kurzerhand abgeschossen, weil er nicht mehr mithalten kann. Ein Versager? Zumindest ein Mensch, der aufgrund seiner Erfahrungen schnell vor der Falle steht, sich für einen zu halten.

Seit 30 Jahren ist er verheiratet, doch er schafft es nicht, sich Kyoko zu öffnen, ihr zu beichten, dass er arbeitslos ist. Jeden Morgen bindet sie ihm die Krawatte, spielt er das Spielchen weiter. Er kann nicht ausbrechen, ist weiterhin gefangen in dem Hamsterrad, das er nicht mehr zum Laufen bringt.

Taguchi sucht seine Identität, wird erwachsen. Ohara Tetsu hat seine Identität verloren. Er macht weiter, weil er ohne die Arbeit nicht weiß, wer er ist, wer er sein kann.

Was sie verbindet: Beide funktionieren nicht wie erwartet. Sie schaffen es, eine Verbindung aufzubauen, die auf Mitgefühl, Offenheit, Ehrlichkeit basiert. So haben sie die Chance, voneinander zu lernen.

Anderssein

Anders zu sein, ist ein Problem. Man fällt auf, eckt an. Im Fall von Taguchi zeigen die Eltern, wie mit jemandem umgegangen wird, der sich nicht konform verhält: Die einzige Sorge, die nach der ersten Zeit übrigbleibt, ist die, dass das Tun (bzw. Lassen) des Sohnes auffallen könnte. Sie setzen alles daran, es zu verbergen. Sie schämen sich, denken sich Ausreden aus, erfinden Dinge, nur um nicht zuzugeben: Ja, hier läuft etwas anders.

Auch die Geschichte um Tetsus Sohn verdeutlicht, wie befangen Menschen anderen gegenüber sind, wenn sie nicht der Norm, nicht dem Durchschnitt entsprechen. Ich fand diese Schilderungen, Geständnisse und Einsichten berührend.

Bedeutsam

Die Punkte, die in dem Roman angesprochen werden, sind aktuell und wichtig. Allerdings werden so viele bedeutungsvolle Themen eingebracht, dass ich das Gefühl hatte, keines wird ausreichend tief behandelt. Klar, letztlich läuft alles darauf hinaus, dass man zu funktionieren hat.

"Die Zähne zusammenbeißen und denken: Das ist Erwachsenwerden. Die Dinge, so wie sie sind, zu überstehen und sie selbst dann, wenn man sich nicht von ihnen erholt, für überstanden zu halten."

Und doch wirkte die Geschichte überladen, für die Vielfalt zu kurz. Mir fehlte etwas, mehr Seiten, mehr Auseinandersetzung mit den einzelnen Erlebnissen, Glaubwürdigkeit. Ich wollte stärker mitfühlen, hätte eine engere Verbindung gebraucht, die durch weitere Ausführungen möglich gewesen wäre. Auch ein bestimmtes Wiederauftauchen fand ich schwierig. Insgesamt war ich weniger von der Story angetan als an den Themen interessiert.

Die Wiederannäherung an die Eltern überzeugte mich hingegen. Die Überwindung. Das Drumherumreden, immer noch. Ich hätte da gerne mehr von gelesen.

Aufbau/Stil

„Ich nannte ihn Krawatte“ besteht aus 114 knappen Kapiteln und wird von Taguchi als Ich-Erzähler erzählt. Die Stimmung ist melancholisch.

Die in Japan spielende Geschichte fängt spannend an, weil wir wenig erfahren und viele Fragezeichen entstehen. Die Sätze sind kurz, manchmal abgehackt, in jedem Fall so sparsam wie das ganze Buch, das auch auf Anführungszeichen verzichtet. Ich habe die Erzählweise als intim wahrgenommen, als würde Taguchi sich mir spontan und aufgewühlt anvertrauen, ohne über die Form nachzudenken. Eindringlich.

Fazit

Thematisch sehr interessant. Die Erzählweise ist gewöhnungsbedürftig. Ich hätte mir eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den einzelnen Erlebnissen gewünscht.

Ich nannte ihn Krawatte - Milena Michiko Flasar

Ich nannte ihn Krawatte – Milena Michiko Flašar

Verlag: Klaus Wagenbach

Erschienen: 24.09.2020

Seiten: 144

ISBN: 978-3-8031-2829-4

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