Novecento – Alessandro Baricco

Novecento - Alessandro Baricco

„Novecento“ ist eine humorvolle und bezaubernde Geschichte über einen Ozean-Pianisten, der auch an Land eine Legende ist, obwohl er es nie betreten hat, kein einziges.

4.5/5

Inhalt
Ein Leben an Bord

Tim Tooney ist 17, als er im Jahre 1927 mit seiner Trompete die „Virginian“ betritt. Auf dem Schiff spielt er in der Atlantic Jazz Band, zu der auch der legendäre Pianist Danny Boodmann T. D. Lemon Novecento, zu diesem Zeitpunkt 27, gehört. Sie freunden sich an. Während Tim von Anbeginn an weiß, dass er nicht ewig auf See bleiben wird, kann sich Novecento nichts anderes vorstellen. Er ist auf dem Schiff geboren und gefunden worden, hat seinen neuen Vater hier verloren, sein Talent, seine Liebe zur Musik entdeckt. Er hat das Passagierschiff nie verlassen. Doch irgendwann wird er es tun müssen. Oder?

Erinnerungen an Novecento

Der Ex-Trompeter Tim Tooney, der sechs Jahre auf der „Virginian“ lebte, erzählt die Geschichte des titelgebenden Ausnahmetalents aus seinen Erinnerungen heraus. Er ist mit Novecento, der mit vollem Namen Danny Boodmann T. D. Lemon Novecento heißt, befreundet.

"In jener Nacht da unten im Maschinenraum wurden Novecento und ich Freunde fürs Leben. Und für immer."

Das Besondere an dem Pianisten ist nicht nur sein außergewöhnliches Talent, sondern auch die Tatsache, dass er als Findelkind auf der „Virginian“ gefunden wurde – und diese nie verlassen hat. Er verwaist zweimal, pendelt zwischen Europa und Amerika, spielt für alle Passagiere, jahrelang. Er ist nirgendwo gemeldet, aber überall bekannt. Als Tooney nach sechs Jahren, am 21.08.1933, abdampft, bleibt Novecento in seinem sicheren Hafen: auf der „Virginian“.

Ich mochte ihn, er beweist mehrfach, dass er ein guter Mensch ist, etwa als Danny, sein Wahlvater, starb oder er den Erzähler bei dem Sturm mitnimmt. Auch bei dem unfreiwilligen „Duell“. Er ist feinfühlig und sympathisch. Er hat Ängste, geht seinen eigenen Weg, der ihn viel verpassen lässt, aber ein sicherer ist.

"Du bist nicht wirklich aufgeschmissen, solange du noch eine gute Geschichte hast und jemanden, dem du sie erzählen kannst."

Für mich ist er ein starker Charakter, ich habe seinen Kurs gern verfolgt.

Aufbau/Stil

Die Seiten bestehen aus einer Mischung aus Geschichte und kursiv gedruckten Anweisungen. Wie der Autor im Vorwort erklärt, hat er „Novecento“ für einen Schauspieler und einen Regisseur geschrieben, so dass die Einschübe nicht verwundern.

„Novecento“ stammt aus dem Jahre 1994, die Ereignisse spielen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Für mich ist es das zweite Buch von Alessandro Baricco. Ich finde, dass der Autor etwas ganz anderes geschrieben hat als mit „Seide“. Der Text ist klar, leicht, teils umgangssprachlich, es gibt Schimpfwörter – und viel Witz. „Seide“ fand ich poetischer, es hat mich nachhaltig beeindruckt. „Novecento“ hat mich lockerer unterhalten, ich hatte großen Spaß beim Lesen, trotz der Themen. Ich habe das Büchlein in einem Rutsch gelesen, mehr als eine Stunde brauchte ich nicht. Das liegt am Umfang, ja, aber nicht nur: Die Geschichte fesselt, lässt sich flott herunterlesen. Ich wollte wissen, wie sie weitergeht. Tims Hinweis auf das Ende macht zusätzlich neugierig. Ich werde auch dieses Buch noch einmal lesen, definitiv.
Parallelen zu „Seide“ sehe ich folgende:

Unerfüllbare Sehnsucht

Wieder geht es um diese unerfüllbare Sehnsucht, die Sehnsucht nach etwas, das unmöglich ist. Die Hauptfigur findet eine Lösung, indem sie durch die Passagiere, durch die Studie von und die Gespräche mit ihnen, lebt. Die Musik ist Novecentos Trost, seine Zuflucht. Während er spielt, bereist er die Welt, die er aus Erzählungen kennt, spürt die Emotionen – und gleichzeitig gibt er etwas zurück. 

Ich glaube das, denn er macht es ein bisschen wie ich: Ich nehme alles, was geht, aus Büchern mit; wenn ich lese, lebe ich dort – und versuche, das in meiner Rezension wiederzugeben, etwas zurückzugeben, zu teilen.

Wie in „Seide“ bleibt auch in „Novecento“ einiges unausgesprochen. Unnötige Details gibt es nicht, dafür Fragen, die nicht beantwortet werden, etwa wo der Junge war, als er an die Behörden übergeben werden sollte, oder woher sein Talent plötzlich kam. Dass sie offenbleiben, stört nicht, es unterstreicht den Legenden-Charakter.

Einige Stellen bringen zum Nachdenken und können interpretiert werden, was ich sehr mag.

Traurig? Schön?

Für Tim ist das ewige Leben auf dem Schiff nichts, für Novecento ist alles andere unvorstellbar. Er bleibt dort, wo er sich sicher fühlt. Der Dampfer ist seine ganze Welt, er ist mit und auf ihm verankert, er kennt es nicht anders, als sich auf dem begrenzten Gebiet zu bewegen. Nur in der Vorstellung schafft er es, auszusteigen, Festland zu betreten, ein Leben zu führen, das größer ist. Ich finde seine Angst nachvollziehbar. Seine Herkunft ist ungeklärt, mit acht wurde er zum zweiten Mal ein Waisenkind – er kann sich an nichts und niemanden mehr binden als das Schiff, seine Konstante, die immer da ist. Er hatte nie eine Wahlmöglichkeit – und da draußen gibt es zu viele.

Baricco schreibt im Vorwort: „Ich finde, es ist eine schöne Geschichte, die es wert war, erzählt zu werden.“ Ich unterschreibe das. Die Geschichte ist schön. Sie ist auch traurig, ja. Aber nicht nur. Das Ende muss meiner Meinung nach zwangsläufig aussehen, wie es aussieht. Manchmal ist das so.

Ich schreibe so etwas eigentlich nicht, aber ernsthaft: Baricco verzaubert mich mit seinen Geschichten. Ich kann‘s nicht ändern. 

Fazit

Nach dem letzten Satz fiel es mir schwer, das Buch zuzuklappen, die dritte Stufe zu nehmen. Es wäre so einfach, oder? Ist es aber nicht. Es kommt darauf an, was uns wo hält. Ich habe ihn, Danny Boodmann T. D. Lemon Novecento, viel zu gut verstanden.

„Novecento“ ist eine kleine Geschichte, die ich wieder lesen werde. Sie ist unglaublich unterhaltsam. Schön, traurig. Und bezaubernd.

Novecento - Alessandro Baricco

Novecento – Alessandro Baricco

Originaltitel: Novecento (1994)

Übersetzung: Karin Krieger

Verlag: Hoffmann und Campe, Atlantik

Erschienen: 20.02.2018

Seiten: 96

ISBN: 978-3-455-00095-5

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Deine Meinung

2 Antworten

    1. Danke. :)

      Ja, ich mochte das Büchlein auch sehr und werde die Geschichte auf jeden Fall noch einmal lesen.

      Liebe Grüße

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