Seide – Alessandro Baricco

Seide - Alessandro Baricco

„Seide“ ist eine sehr zarte und gefühlvolle Geschichte über Begehren und Liebe, die in nicht viel mehr als einer Stunde gelesen ist. Gedanklich beschäftigt sie weitaus länger.

5/5

Eine Liebesgeschichte?

Um was geht es in „Seide“ von Alessandro Baricco? Liebe auf den ersten Blick? Die Liebe als fixe Idee? Um einen unerreichbaren Traum?

Ich glaube, man muss bereit sein, in diese Geschichte abzutauchen, ohne allzu viele Fragen zu stellen. Darum geht es nicht, nicht beim Lesen, hier soll gefühlt werden. Hinterher habe ich über den Inhalt nachgedacht, eine Menge. Aber während der Lektüre konnte ich mich voll auf sie einlassen. Ich sah hier lange Begehren im Vordergrund. Und vor allem: Sehnsucht – und den Schmerz, den sie auslöst.

Der Twist am Ende bringt wieder die Liebe ins Spiel, die, die wirklich existiert, die echte. Die, die man schnell übersieht, wenn das Unbekannte und Exotische lockt, wenn es so leicht und aufregend ist, einer Sache zu verfallen, die weder real noch imaginär ist. Die Liebe, die in Gefahr ist, wenn man immer das will, das man nicht haben kann.

Ein Seidenraupenhändler

Hervé Joncour kauft und verkauft Seidenraupen. Er lebt mit seiner Frau Hélène im südfranzösischen Lavilledieu. Als die Nosemaseuche um sich greift, soll er nach Japan, in das Land, in dem die schönste Seide der Welt wartet und Krankheiten dieser Art keine Rolle spielen. Das Problem: Dort wird niemand die Eier verkaufen wollen – und Joncour würde sich strafbar machen, wenn er versuchen würde, sie außer Landes zu bringen. Er fährt trotzdem. Am 06. Oktober 1861, er ist 32 Jahre alt, geht’s los. 

Der Protagonist ist kein Mann der Tat. Er tut zwar – aber das, was man ihm sagt. Zunächst hört er auf den Vater, dann auf Baldabiou. Er reagiert. So ist er eben.

"Er war übrigens einer jener Menschen, die dem eigenen Leben gern beiwohnen, während sie jegliches Bestreben, es zu leben, für unangebracht halten."

Die Fahrten lassen ihn Grenzen überschreiten, nicht nur im Außen. Plötzlich sind da andere als die üblichen Eindrücke und Reize. Die Fremde weckt seine Leidenschaft; als es um die letzte Reise geht, kommt seine Entschlossenheit durch. Er will fahren, er wird fahren, obwohl er nicht soll, nicht muss. Hervé ist nicht länger bloß Zuschauer. Er setzt alles aufs Spiel, seine Ehe, sein ganzes Leben. 

Das Wesentliche

Die Charaktere werden kaum beschrieben. Dadurch sind sie nicht recht greifbar. Das passt ins Gesamtbild, denn alles hat einen unwirklichen Touch. Der Autor lässt viel weg, beschränkt sich auf das Nötigste – und verpackt das in poetisch gefärbte und schnörkellose Sätze, die manchmal – auch in ihrer Form – an ein Gedicht erinnern. Dialoge sind im Gegensatz zu Auslassungen wenig vorhanden. Die Stimme des Mädchens hört er nie. 

Es gibt einen intimen Brief, aber das Ganze driftet nie in irgendeine unangenehme Richtung ab, die Sanftheit, die Baricco in seine Zeilen legt, ist durchgängig präsent.

Am Ende wartet eine Überraschung, mit der ich nicht gerechnet habe. 

Wiederholungen

Manchmal sind Wiederholungen etwas, das man bemängeln möchte, hier ist das Gegenteil der Fall. Sie machen die Novelle besonders, unterstreichen das Musikalische: Die Töne sind sanft, die Melodie lieblich, der Refrain kehrt wieder, ich erwartete ihn. Die Textpassagen sind fast unverändert – ich war gespannt, welches Wörtchen sich nächstes Mal verändern würde, denn die Geschichte, die sich wunderbar klangvoll und lyrisch liest, spitzt sich zu. Dass lange Wiederholungen wie diese in einem derart überschaubaren Werk Platz finden und wie der Autor mit wenigen Worten und ultrakurzen Kapiteln das Nötigste sagt, ist beeindruckend. Ich mochte den Stil sehr. Ich empfehle, das Büchlein am Stück zu lesen, um all die Elemente, mit denen Baricco spielt, wahrzunehmen. 

Auch tauchen immer wieder Wortwiederholungen auf, die das Märchenhafte des Buches widerspiegeln. Es erscheint alles stimmig und rund.

Fazit

„Seide“ ist eine sehr zarte und gefühlvolle Geschichte über Begehren und Liebe. Wunderschön und ruhig erzählt, mit Wiederholungen, die etwas Besonderes hineinbringen. Das Buch ist in nicht viel mehr als einer Stunde gelesen, beschäftigt in Gedanken wesentlich länger.

Die Bewertung fällt mir schwer. Ich wollte 4* vergeben. Aber:
Seit Tagen denke ich über den Inhalt nach, kann mich kaum einer anderen Geschichte widmen, habe überlegt, den Roman direkt noch einmal zu lesen. „Seide“ lässt mich nicht los.
Ich packe das Buch zu den Favoriten und suche weiter nach einer Begründung für seine enorme Wirkung auf mich. 

Seide - Alessandro Baricco

Seide – Alessandro Baricco

Originaltitel: Seta (1996)

Übersetzung: Karin Krieger

Verlag: Atlantik, Hoffmann und Campe

Erschienen: 17. März 2017

Seiten: 144 (mit viel Freiraum)

ISBN: 978-3-455-00056-6

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