„So weit der Fluss uns trägt“ von Shelley Read ist die berührende Geschichte einer 17-Jährigen, die zu einer starken Frau wird, weil sie von zu Hause weg- und über sich hinauswachsen muss.
Inhalt
Torie war zwölf, als die Hälfte ihrer Familie bei einem Unfall ums Leben kam. Seither schmeißt sie den Haushalt, in dem sie mit ihrem Vater, der kaum spricht, ihrem Bruder Seth, der trinkt und für Ärger sorgt, und ihrem vom Krieg gezeichneten Onkel Og lebt.
Als die verantwortungsbewusste 17-Jährige auf Wilson Moon trifft, ändert sich alles. Doch das Glück ist nicht von Dauer: Weil Wil verschwindet und ihr Bauch wächst, muss sie von zu Hause fort, eine Zeit lang allein in der Wildnis klarkommen – und letztlich eine folgenschwere Entscheidung treffen.
Vorurteile
Die Protagonistin verfällt Wil sofort. Sie sieht ihn so:
"Die Augen des Fremden waren dunkel und glänzten wie Rabenflügel. Und freundlich - das ist meine stärkste Erinnerung an diese Augen, freundlich vom ersten Blick bis zum letzten Starren -, da war eine Sanftheit, die aus seiner Mitte zu entspringen schien und sich verströmte wie ein überfließender Brunnen."
(S. 12)
Die Einwohner Iolas finden andere Worte für den Jungen, den sie als Indianer bezeichnen, als Kriminellen beschuldigen und zur Suche ausschreiben. Es ist erschreckend zu lesen, wie der ganze Ort hinter Wil her ist, während ein einziges Mädchen still und heimlich zu ihm hält:
"Ich konnte meinen Eindruck von Will einfach nicht mit der anderen Version von ihm in Einklang bringen, die sich gerade in der Stadt verbreitete, die einer Bedrohung, eines Wilden, eines Diebs. Ich fragte mich, wie ich überhaupt die Wahrheit über ihn herausfinden sollte, jenseits aller Gerüchte und aus blinder Bigotterie geborenen Gehässigkeit und meiner eigenen starken Sehnsucht."
(S. 94)
Es geht um Rassismus in diesem Buch. Es geht um die Angst vor dem Fremden – und zwar nicht nur durch Wils Beispiel. Wir haben hier eine weitere Figur, über die schlecht geredet wird. Sie wird gemieden statt verfolgt, doch am Ende ist auch die Abneigung gegen Ruby-Alice Akers nichts als absurd. Ich hätte gerne mehr über sie und ihre Geschichte erfahren.
Die Verwandlung
Ich habe Victoria Nash gerne auf ihrem Weg verfolgt.
Dabei habe ich sie zunächst als Jugendliche kennen gelernt, die für die Männer des Hauses – zumindest nach Außen hin – nicht mehr als eine Arbeitskraft auf der Pfirsichplantage und in der Küche darstellt. Durch Wil spürt sie zum ersten Mal, was Anziehung ist. Wie es ist, gesehen zu werden. Er und ihre Verliebtheit ändern alles. Sie schleicht sich raus, widersetzt sich den Regeln und der allgemeinen Vorverurteilung. Als Wil verschwindet, muss sie nicht nur mit der Ungewissheit – abgelöst durch brutales Wissen – zurechtkommen, sondern auch mit der Erkenntnis, schwanger zu sein. Sie verlässt die Farm, geht in die Big Blue Wilderness und erkennt, wie stark sie wirklich ist. Sie wird hier nicht ewig bleiben, so eine Geschichte ist das nicht, aber sie schließt Frieden mit der Umgebung, die so viele Gefahren birgt und Ängste auslöst, und findet ihn auch in sich:
"Als ich in meiner neuen Heimat im Wald in den Schlaf hinüberdämmerte, eingewoben in einen riesigen, geheimnisvollen Teppich, war das einzige Geräusch, dem ich lauschte, der stete Puls dieser riesigen Ansammlung schlagender Herzen, das Einatmen und Ausatmen von Millionen von Leben, die neben meinem geführt wurden. Da wurde mir klar, dass ich noch nie in meinem Leben so wenig Angst gehabt hatte."
(S. 153, 154)
Die Natur spielt eine große Rolle in „So weit der Fluss uns trägt“, sie erzeugt Demut in der Protagonistin und hilft ihr gleichzeitig, zu erkennen, wie viel in ihr steckt.
Aufbau/Stil
Das Debüt von Shelley Read, von Victoria Nash aus der Ich-Perspektive erzählt, besteht aus fünf Teilen und 26 Kapiteln. Dabei nimmt sie uns über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten mit (1948-1971).
Der Titel ist passend. „So weit der Fluss uns trägt“ spielt in Iola am Gunnison River, der zu einem See gestaut werden soll. Das Ganze wird im Verlauf auf die eine oder andere Art immer wieder aufgegriffen.
Übrigens: Iola, Colorado, wurde tatsächlich überflutet, als ein Staudamm gebaut wurde, was die Thematik im Buch noch dramatischer macht.
Ich mochte die Geschichte, sie berührte mich. Ich habe mit Victoria gefühlt, als sie die distanzierte Stimmung innerhalb der Familie aushält, die Tatsache, dass mehr verschwiegen als gesprochen wird; als sie aufblüht durch Wils Aufmerksamkeit, Erkenntnisse in der Natur sammelt, sich zu der starken Frau entwickelt, die dennoch nie hinwegkommt über das, was ihr genommen wurde, das, was sie gehen lassen musste. Allerdings muss man hier mit einem Schreibstil klarkommen, der zu viele Adjektive beinhaltet. Ich würde auch nicht ausschließen, dass manche Zeilen als kitschig eingestuft und einige Seiten als langatmig wahrgenommen werden. Das Ende hätte ich mir dagegen ausführlicher gewünscht.
Fazit
„So weit der Fluss uns trägt“ ist eine traurige Geschichte – und eine schöne. Ich habe sie gerne gelesen, auch wenn ich die Anzahl der Adjektive erschlagend fand.
So weit der Fluss uns trägt – Shelley Read
Originaltitel: Go as a River (2023)
Übersetzung: Wibke Kuhn
Verlag: C. Bertelsmann
Erschienen: 28.06.2023
Seiten: 368
ISBN: 978-3-570-10513-9
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