zu zweit – Simon Strauß

Zu zweit - Simon Strauß

Feinfühlige Gedanken und Sätze sowie die zahlreichen Möglichkeiten, den Text zu interpretieren, machen „zu zweit“ zu einer besonderen Novelle.

3.5/5

(Mein Herz vergibt 10/5*)

Inhalt

Als der Teppichverkäufer bemerkt, dass die Stadt überflutet ist, sind alle schon weg. Was bleibt: Katzen vor der Tür seiner Dachkammer, die Dinge, die immer da sind – und das Wasser, das ihm den Antrieb gibt, der bisher fehlte.

Faszination Begegnung

Da mir der Prolog so gut gefallen hat, lasse ich ihn sprechen:

"Jede Begegnung - ein kleines Wunder: Bei all den unzähligen, die man verpasst, weil man doch noch die Fenster geputzt oder zu früh die Straßenseite gewechselt hat, einen Anruf bekommt oder seinen Schal verliert - winzige Unpässlichkeiten, die einen Lebenslauf entscheiden."

Die Novelle beschäftigt sich mit der Frage, warum eine Verbindung zwischen zwei Menschen beginnt, weshalb sie endet – oder überhaupt nicht entsteht.

Der Teppichhändler und die Dinge

Protagonist der Geschichte ist ein namenloser Verkäufer, der das Geschäft seiner Eltern, der Vater war Raumausstatter, übernommen hat. Dass er in einer Dachkammer wohnt, unterstreicht seine Zurückgezogenheit, das Ausgeschlossensein. Er redet wenig, kommt beim Zuhören nicht mit. Schon als Kind hatte er Schwierigkeiten, Vertrauen zu fassen, hat zu viel Fantasie, um nichts Schlimmes zu erwarten. Er zieht Dinge vor, behandelt sie mit Respekt, denn sie werden ihm nicht in den Rücken fallen. Skurrile Szenen, etwa wenn er Butter isst und eine Taschenlampe „füttert“, müssen dabei hingenommen werden.

So seltsam man ihn finden mag: Ist es möglich, ihn nicht gernzuhaben, wenn man weiß, aus welchen Gründen er Busstationen aufsucht? Ich mochte ihn und seine feinfühlige Art.

Entschuldbar unwahrscheinlich

„zu zweit“ ist eine Novelle. Dafür fällt mir in diesem V. Kapitel umfassenden Buch einiges zu lang aus. Manche Nachsätze sind überflüssig, weil längst alles gesagt und klar ist.

Wer die Extraportion Glaubwürdigkeit braucht, ist gut beraten, ein anderes Buch zu wählen. Dieses möchte nicht realistisch sein.
Die Flut stellt ein Ereignis dar, das ohne Frage im Rahmen des Möglichen liegt. Dass die Rettungsmaßnahmen an ihm vorbeigegangen sind, lässt sich akzeptieren: Der Protagonist ist ans Verlassenwerden gewöhnt, er unter all den Evakuierten, das geht für mich nicht zusammen – und kann nicht sowieso nur gerettet werden, wer sich helfen lassen will? Möchte er, der sein Licht löscht, wenn der Hubschrauber über ihm kreist, in Sicherheit gebracht werden? Ist er nicht gerade geschützt, weil alle anderen weg sind, jede Konkurrenz und Gefahr ausgeschaltet ist?
Die Katzen, die ihn in dieser Flutnacht aus der Reserve locken und überallhin begleiten, die Häusererkundung und der Zufall, bei dem er der Vertreterin, der zweiten Hauptfigur, geradezu zufällt, sind unglaubwürdig ohne Ende. Und doch kann ich nichts dagegen sagen, denn darum geht es: Wie zufällig ist alles?! Jede Bekanntschaft und jedes Nicht-Zusammentreffen – wieso begegnen wir uns, lernen uns kennen, finden zueinander oder eben nicht? Welche Kräfte wirken dabei? Das ist ein großes Thema, das zum Nachdenken und Staunen einlädt.

Die Flut

Mir hat die Atmosphäre der Novelle gefallen. Anfangs hatte ich allerdings Schwierigkeiten, mir das Ganze vorzustellen. Alles ist überflutet – und der Verkäufer watet da lang. Es hat ein paar Gedanken à la „habe ich etwas überlesen?“ und Zeit gedauert, ehe sich konkretere Bilder einstellten.

Ich habe viel über „zu zweit“ nachgedacht, unter anderem: Warum diese Flutwelle?
Es entsteht eine gewisse Endzeitstimmung durch sie – und einiges geht ja auch zu Ende. Ohne sie wäre der Verkäufer nicht losgelaufen, sondern weiterhin seinen Routinen gefolgt, seinem Alltag, den er vom Vater übernommen hat, obwohl er nicht zu ihm zu passen scheint. Das Wasser rollt heran, wie ihn die Verliebtheit übermannte. Die Flut treibt ihn an, vor sich her, zu jemandem hin. Ihre Eigendynamik reißt ihn mit. Sie zerstört – und schafft etwas Neues.

Die Elemente, die er im Gegensatz zu anderen achtet, arbeiten für ihn, der Wind schiebt ihn an.

Der Sprung bringt ebenfalls zum Nachdenken. Für mich ist er ein Ausdruck der Rebellion. Das Wasser rebelliert gegen die erzwungene Anpassung und Begrenzung – und er tut es ihm gleich. Auch der gesichtslose Traum lässt sich deuten – wie fast alles.

(Voraus-) Deutungen

Der Verkäufer hat Träume, Vorstellungen, Erinnerungen, die dafür sorgen, dass das Werk voller Vorausdeutungen steckt, unter anderem:

Es hat Spaß gemacht, danach zu fahnden, sie sich erfüllen zu sehen. Es ist ein Buch, das aufmerksam gelesen werden will.

Die zahlreichen Möglichkeiten, den Text zu interpretieren und mehr herauszulesen, als auf dem Papier steht, haben mich ebenso begeistert wie die subtilen Hinweise (die Information, die die Vertreterin bei der Begegnung im Laden fallen lässt, die schwarzen Haare auf dem Fensterbrett usw.). Ich könnte mich stundenlang darüber auslassen. Oder über Formulierungen wie „Treuesucht“ (eBook Kap. I., S. 24/148, 15 %) sprechen.

Einigen könnte die Novelle überladen vorkommen. Mir gefällt es, dass so viele Wörter eine weitergehende Bedeutung haben und Beachtung finden wollen. Es ist eine komplexe Lektüre, die mehrmals Freude macht, weil es beim nächsten Durchgang Neues zu entdecken gibt, da bin ich sicher.

Eine Geschichte der Gegensätze

Ich mochte die Darstellung der Kontraste, das Aufzeigen, dass alles nebeneinander existiert: das Fröhliche, das Traurige, das Fremde, das Bekannte. Und es kann sich jederzeit ändern – wie hier, wo der laute Alltag zum Schweigen gebracht wird, die Anwältin und mit ihr die Ordnung verschwindet, die Regeln ihren Stellenwert verlieren.

Der Protagonist wünscht sich etwas Unverhofftes, doch wenn es geschieht, flüchtet er. Die Flut bringt die Kraft mit, die ihm bisher fehlte, die Wandlungsfähigkeit des Wassers steckt ihn an: Er weicht nicht mehr aus, wächst über sich hinaus.

Vertrauen bildet die Basis stabiler Beziehungen. Schon als Kind fiel es dem Verkäufer schwer, Zutrauen zu haben. Seinem einzigen Freund brachte er Misstrauen entgegen: Wie ernst ist es ihm? Ist er gar gefährlich? Dass sich diese Szene wiederholt und wie sie es tut, ergriff mich. Er, der Stille, verliebt sich in eine nie schweigende Vertreterin. Das Ganze scheint aussichtslos, der Kontakt versiegt, ehe es doch weitergeht. Und wie er das Schlimmste erwartet, sich zum Schutz in den Teppich hüllt, letztlich, bereit zu einer wie auch immer gearteten Auseinandersetzung, seine Frage flüstert, das hat mich gekriegt. Mut lebt neben der Angst.

Zart

Ich liebe Gefühle. Und ich mag, wie Simon Strauß sie in „zu zweit“ einbringt, beschreibt und zeigt. In den entscheidenden Momenten geht es behutsam zu, es wird beobachtet, abgewartet und ausgewichen. Es wird die Schulter gedrückt, weil die Worte fehlen, und geflüstert. Die Unsicherheiten sind spürbar, es ist ein Herantasten, immer wieder. Selbst die Schneeflocken fallen nicht einfach herab:

"Zögernd erst, als wollten sie prüfen, ob sie auch wirklich nicht stören, fliegen sie ins Zimmer.

Manche Sätze berührten mich. Ich mochte das sehr.

Wenn nicht „jetzt“, wann „dann“?

Jetzt, plötzlich, im nächsten Moment, kurz darauf, eben. Dann. Immer, jederzeit, meist, hin und wieder, nie. Das sind nur ein paar Beispiele der genannten Zeitangaben – und über einige davon bin ich zu oft gestolpert. Ich konnte sie nicht mehr überlesen. Mein Kopf hat ein Spielchen daraus gemacht: Welche Zeitadverbien sind die nächsten? Ich achtete darauf, obwohl ich es nicht wollte. „Dann“ und „Jetzt“ waren gefühlte Spitzenreiter. Letzteres ist ein starkes Wort, eines, das in die Geschichte passt. Aber es war zu viel des Guten, lenkte mich ab.

Offenes Ende?

Bis vor Kurzem habe ich es gehasst, ein Buch zuzuklappen, das mir nicht deutlich mitteilt, wie ich mir das weitere Leben der Beteiligten vorzustellen habe, ob es eine Zukunft gibt. Es ärgerte mich. Inzwischen sehe ich das differenzierter, habe gelungene offene Enden gelesen. Muss es zwingend eine vorgeschriebene Richtung geben? Ich denke nicht. Ich finde mich zurecht, vielen Dank.

Zu“zu zweit“ passt ein Ende wie das, das uns präsentiert wird, perfekt. Das Unausgesprochene ist die Stärke des Buches – an jeder Stelle. Außerdem, das ist mein Gefühl, testet die Novelle aus, wie viel die Leserschaft verträgt. Wie wird die eigenartige Hauptfigur angenommen? Kann man ihr zwei gegensätzliche Menschen vorsetzen, die sich (zumindest einseitig) innerhalb von 40 Minuten verlieben – und dann den Kontakt abbrechen lassen? Wird es akzeptiert, dass diese beiden übrigbleiben, der Protagonist von einer Brücke springt – und auf die Person trifft, in die er sich verguckt hat? Obendrein das bewegende Ende. Es ist gewagt. Und doch: Ich habe das ausgehalten, sogar gerne. Durch das Absurde ist etwas Neues entstanden, bei dem mit allem außer Langeweile zu rechnen ist.

Das Ende ist eine Auslegungssache. Für mich steht fest, wie die Geschichte ausgeht, die Hinweise haben es mir geflüstert. Ich mag Happy Ends und das Gegenteil, ich bin zufrieden mit meiner Annahme – und mit den Alternativen. Egal, wie man den Ausgang liest, er löst etwas aus, lässt nicht kalt. Mehr kann man nicht wollen.

Fazit

Eine unwahrscheinlich schöne Novelle, die lange beschäftigt.
Manche Gedanken, Formulierungen und Handlungen haben mir so gut gefallen, dass mein Herz für 10/5* plädiert. Die Stellen, die mich aus dem Text und Fühlen rissen, kann ich allerdings nicht ausblenden.

Ich bin gespannt, was Simon Strauß noch schreibt – vermutlich werde ich es lesen … Na gut, ehrlicherweise werde ich mich, sofern es thematisch passt, darauf stürzen in der Hoffnung, mehr von diesen zartfühlenden Momenten zu finden, die dieses Buch zu einem besonderen machen.

Zu zweit - Simon Strauß

zu zweit – Simon Strauß

Verlag: Klett-Cotta, Tropen

Erschienen: 14.01.2023

Seiten: 160

ISBN: 978-3-608-50190-2

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Deine Meinung

6 Antworten

  1. Ich glaube, dass man eine Begegnung, die für einen bestimmt ist, gar nicht verpassen kann. Vielleicht lenkt uns das Schicksal dahingehend, dass man eben mal noch ein Fenster putzt, damit man nicht die unbedeutende Person trifft, die es dann verhindern würde, dass man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist um die richtige Person zu treffen. :-)

    1. Das klingt schön. <3

      In der Geschichte treffen sie sich auch, obwohl alles dagegenspricht, es ist ein total unwahrscheinliches Szenario. Ich meckere oft an so etwas herum, aber in dem Kontext und zu dem Buch passt es. :)

    1. Eine schöne Vorstellung. :)

      Ehrlich gesagt überrascht mich das selbst. Manche Dinge störten, es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich damit abfinden und die Geschichte nehmen konnte, wie sie ist. Aber mein Herz ist sehr empfänglich für empfindsame Charaktere wie den Protagonisten und so sanfte Momente wie die, die hier überall verteilt sind.

  2. Was für eine tolle, selbst literarische Besprechung, die mich sofort zu dem Buch greifen lässt. Danke! Oft lese ich Rezensionen und weiß gar nicht, ob das ein Buchdeckel, Cover oder eine Anzeige ist, aber deine glänzt und leuchtet und macht Mut zu mehr Literatur und auch mehr Emotion und Beschreibung, was passiert, wenn Literatur gelingt. Bin sehr gespannt! Danke für das Leseereignis.

    1. … Und damit hast du einen der schönsten Kommentare verfasst, die man unter eine Buchbesprechung schreiben kann. Ich danke dir sehr für deine Worte. :)

      Ich bin gespannt, wie dir das Buch gefällt. Es ist ziemlich speziell, aber ich konnte mich darauf einlassen und über vieles hinwegsehen. Der Text hatte eine besondere Wirkung auf mich – obwohl die Novelle nur 160 Seiten hat, hätte ich ewig darüber nachdenken und schreiben können. Und wenn ich jetzt keinen Punkt setze, fängt es wieder an. :)

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