„Kasse 19“ ist ein eigenwillig geschriebener Roman, der die ausgefallenen Gedanken der namenlosen Erzählerin ungefiltert und ohne Begrenzung in die Welt entlässt.
Die Erzählerin
In „Kasse 19“ folgen wir einer namenlosen Erzählerin, die sich an prägende Stationen ihres Lebens erinnert. Sie wächst in der Arbeiterklasse im Südwesten Englands auf, über ihre Familie erfahren wir wenig. Später geht sie nach Irland.
Ihre Namenlosigkeit erscheint zwangsläufig. Fällt mir ein passender Name für sie ein? Nein. Sie lässt sich generell schwer einordnen. Von Beginn an entspricht sie nicht dem „Standard“. Sie ist intelligent, verschlingt Bücher, versucht sich an eigenen Texten. Im Gegensatz zum großen Rest der Schülerschaft liebt sie Literatur. Sie denkt nicht darüber nach, ob Bücher sie interessieren. Sie braucht sie, unabhängig davon, ob sie sie liest. Das ist ihr Normalzustand.
Auch im Verlauf will sie in keine vorgezeichnete Rolle passen. Sie widersetzt sich der Beschränkung von Gedanken – ihre sind wild, ungewöhnlich, manchmal vielleicht sogar abstoßend, immer skurril.
Bücher, Bücher, Bücher
Ist die Erzählerin einsam? Zu Hause scheint etwas zu passieren, was genau, bleibt offen. In der Highschool hat sie Schwierigkeiten, andere für ihre Gedanken zu erwärmen. Sie spricht davon, Freunde zu haben, doch die wenigen Schilderungen sind eher oberflächlich. Auch ihre Beziehungen zu Männern sind prekär. Ich denke, dass sie ein Stück weit einsam ist. Was ihr allerdings immer, in jeder Lebensphase, zur Seite steht: Bücher, von klein auf. Sie machen ihr Leben nicht perfekt, aber sie spenden ihr Trost. Sie umgibt sich gern mit ihnen.
In der Schule wird ein Lehrer auf ihre ersten eigenen Versuche aufmerksam, sie schreibt ihm jeden Freitag etwas Neues. Tarquin Superbus entsteht später, die Hauptfigur einer ihrer Kreationen, die sie in „Kasse 19“ nacherzählt und bei der Gelegenheit ordentlich ausschmückt. Dass es dabei um einen einzigen Satz geht, den ihr Protagonist zwischen vielen leeren Seiten und Büchern finden soll, ist bezeichnend. Sie glaubt an den einen Satz, er kommt mehrmals vor, zum Beispiel hier:
"Trotzdem konnte ich den Gedanken nie ganz loslassen, dass irgendwo darin ein Satz von überirdischem Glanz gestanden hatte, nur ein einziger Satz, der die Welt umgehauen hätte."
eBook S. 119/186
Dass sie keine Probleme damit hat, aus einer einfachen Sache wie einer Aubergine die seltsamsten Ideen herauszuholen, beweist sie mehrfach. Und sie glaubt sogar an einzelne Wörter, daran, dass sie für sich und ohne weitere Informationen und Zusammenhänge bestehen können, wie die Listen zeigen.
Wenn sie in Erinnerungen schwelgt, was sie das gesamte Buch über tut, nennt sie zur zeitlichen Einordnung Bücher. Sie weiß von vielen, wann und wo sie sie gelesen hat. Die Bücher geben ihrem Leben einen Rahmen, bestimmen es mit, etwa wenn sie wegen eines Werkes nach Italien will.
Es überrascht nicht, dass sie sich für ein Literaturstudium entscheidet. An der titelgebenden Kasse 19, die nicht allzu oft auftaucht, jobbt sie – und auch hier gibt es einen Bezug zu Büchern, denn ein Kunde schenkt ihr ein Exemplar. Diese Szene ist eine von denen, die doppelt beschrieben werden, beim zweiten Mal detaillierter. Sie denkt sie neu, wenn sie sie wiedergibt, die Dinge verändern sich durch neue Erfahrungen, neue Lektüre. Sie bleiben nicht, wie sie einmal waren.
Wer sich für klassische Literatur interessiert, wird viel Lesestoff finden, es werden zahlreiche berühmte Schriftsteller, später insbesondere Autorinnen, teilweise mit Buchtiteln, aufgeführt.
Aufbau/Stil
Das Buch besteht aus VII. Kapiteln, die jeweils mit einem Zitat überschrieben sind.
Ich, sie, wir – Perspektiven sind mehrere vorhanden.
Claire-Louise Bennett schreibt in einer Mischung aus umgangssprachlich und anspruchsvoll. Der Text wirkt experimentell, ungeordnet, wirr. Das passt zur Erzählerin, der es schwerfällt, sich im Leben zurechtzufinden. Es handelt sich um ungefilterte Gedankengänge, was mich grob an Mrs. Dalloway erinnerte. Allerdings mochte ich die Rückversicherungen/Bekräftigungen nicht, die Wiederholungen, die Listen. Im Übrigen hätte ich gerne gesehen, dass die Geschichte auf etwas hinausläuft, viel mehr als sie es tut. Da es sich wohl um eine Art der Autofiktion handelt, was ich vorher nicht wusste, ist das aber nicht zu erwarten.
Ich wollte das Buch mehrfach abbrechen. Manchmal nervte mich der Bewusstseinsstrom, ich saß da und dachte: „Bitte nicht noch ein ’nicht wahr‘, kein ‚Ja. Oh ja‘ mehr“ – keine Chance.
Dass Themen wie die Periode etc. auf den Tisch kommen, ist eine gute Sache, aber das Wie … Ich kann das deuten, war beim Lesen jedoch kein Fan, echt nicht. Nein. Nein, gar nicht.
Eine Assoziation führt zur nächsten, es wirkt alles aufgeregt und chaotisch. Man muss sich darauf einlassen wollen, akzeptieren, dass manchmal (tatsächlich) ohne Punkt und Komma geplappert wird. Ich habe es getan, ich wollte das Buch mögen, das von der New York Times (Book Review) als eines der besten zehn Bücher aus 2022 auserkoren wurde. Obwohl ich mich oft fragte, worauf das alles hinauslaufen soll, was es mir sagen möchte, blieb ich dran. Das Werk ist überschaubar, ein Ende in Sicht. Das wunderte mich mit am meisten: Hätte mir jemand gesagt, dass es eine Redewendung wie „vom Hölzchen aufs Stöckchen kommen“ gibt, die eigens für die Erzählerin erfunden wurde, hätte mich das ebenso wenig überrascht wie eine Seitenzahl von über 1000.
Ich blieb also dran – eine gute Entscheidung? Tja. Rückblickend hat mir die Lektüre nichts gegeben. Ich sehe sie als Kunst an, erkenne, dass sie besonders ist. Meinen Geschmack hat sie nicht getroffen, kalt gelassen hat sie mich aber auch nicht, beispielsweise wenn es um das geht, was Dale getan hat – und wie sie darauf reagiert, direkt danach und später.
Fazit
Ich erkenne die Kunst, die Wortgewandtheit der Autorin. Ich glaube an ihre kraftvollen Sätze. Dennoch:
Dieses Buch war nicht für mich. Und das ist okay.
Dieses Buch ist für dich, wenn es skurril, weitschweifig und chaotisch sein darf; wenn du mehr Wert auf einen außergewöhnlichen Schreibstil und eigenwillige Gedanken legst als auf einen spannenden Plot. Es ist für dich, wenn es in Ordnung ist, dass die Erzählerin absichtlich Blutflecken in der Öffentlichkeit hinterlässt, um auf etwas aufmerksam zu machen, und das meiste nirgends hinführt.
Kasse 19 – Claire-Louise Bennett
Originaltitel: Checkout 19
Übersetzung: Eva Bonné
Verlag: Luchterhand
Erschienen: 15.03.2023
Seiten: 304
ISBN: 978-3-630-87711-2
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