Die Wand – Marlen Haushofer

Inhalt

Ende April fährt die Ich-Erzählerin aus „Die Wand“ mit ihrer Cousine Luise und deren Mann Hugo ins Jagdhaus. Drei Tage wollten sie bleiben, doch es kommt anders: Luise und Hugo verlassen abends die Hütte – ohne zurückzukehren. Auf der Suche nach den beiden trifft sie auf eine Wand, hinter der kein Leben mehr ist. Eine Wand, die alles verändert…

Die unsichtbare Wand

Es ist eine unsichtbare Wand, auf die die Protagonistin trifft. Eine Wand, die sie nicht sieht, die sie aber spürt. Eine Wand, durch die sie schauen kann, ohne zu verstehen, was dahinter wirklich los ist. Eine Wand, die wehtut, wenn sie ihr zu nahe kommt. Eine Wand, die sie nicht einfach überspringen, unter der sie sich nur mühevoll hindurchgraben könnte – vielleicht. Eine Wand, mit der sie sich abfinden, mit der sie leben kann. Eine Wand, die sie nur zu überwinden versuchen wird, wenn der Leidensdruck groß genug wird, wenn die Verlockungen auf der anderen Seite groß genug erscheinen – denn was dann kommt, ist ungewiss.

Ja, es gibt sie, die unsichtbare Wand – und mit ihr so viel Interpretationsspielraum!

Die Protagonistin

Die Hauptfigur des Romans ist eine 40-jährige Witwe, die zwei fast erwachsene Töchter hat. Das Buch besteht aus einem langen Bericht ihrerseits. Die Ich-Erzählerin bleibt namenlos, was thematisch gut passt, weil es distanzierend wirkt.

Ich konnte die Protagonistin ganz gut kennen und einschätzen lernen. Sie macht eine Entwicklung durch, weil sie erkennt, dass sie plötzlich ihren natürlichen Begabungen nachgeht, einem Leben, das ihr viel eher entspricht als das stressige Stadtleben, das auf Dauer krank macht. Sie braucht das Gefühl, gebraucht zu werden – früher haben ihr ihre Kinder dieses Gefühl gegeben, heute sind es die Tiere, die mit der Zeit zu ihr finden. Vor diesen ist sie größtenteils sie selbst, während sie vor den Menschen größtenteils eine Rolle spielte. Heute kann sie ehrlich sein, muss niemandem mehr etwas vormachen. Sie empfand das Familienleben als einengend, die Welt als frauenfeindlich und nicht glücklich machend. Einerseits ist sie nun freier als vorher, andererseits natürlich dennoch gefangen. Ihr jetziges Leben hat einige Schattenseiten, die sie, um zu überleben, dennoch betreten muss. Ich konnte die Konflikte, die ihre Situation mit sich bringt, nachvollziehen, fand die Protagonistin stark.

Eine ruhige Geschichte

Der Anfang war für mich richtig gruselig. Das Wegbleiben der Mitreisenden, die Suche, die Wand. Die Vorstellung, völlig isoliert und abgeschnitten zu leben. Nicht zu wissen, was passiert ist, nur zu vermuten, dass es niemanden sonst mehr gibt, keine wirkliche Hoffnung auf Hilfe. Gru-se-lig!
Dieses Gefühl ging bei mir nie ganz weg, aber ich habe quasi die Akzeptanz der Protagonistin übernommen, habe gesehen, dass sie klarkommt. Dadurch ist die Dramatik ein wenig eingeschlafen, wobei sie nie ganz nachlässt, denn es geht permanent ums Überleben – und dramatischer geht es wohl kaum. Dennoch wirkte es zeitweise extrem ruhig. In den richtigen Momenten nimmt sie in ihrem Bericht spätere Ereignisse vorweg, so dass ich gespannt war, wie es zu diesen kommen würde. Auch das hielt mich am Lesen. Dennoch: Dieses Ruhige, das muss man mögen bzw. muss man Lust auf eine leise Geschichte mit viel Interpretationsspielraum haben, damit „Die Wand“ überzeugen kann. Es gibt hier keine sich ständig überschlagenden Ereignisse, es läuft im Gegenteil darauf hinaus, die Hauptfigur erkennen und zugeben zu lassen, dass sie in dem stressigen Stadtleben nur gelitten hat, sie sehen zu lassen, was sie dadurch verpasst hat. Es gibt viele sich wiederholende Tätigkeiten und Gedankengänge, die Einsamkeit wird überdeutlich. Genauso deutlich wird, dass nichts nur gut oder schlecht ist – die Menschen kommen allerdings insgesamt nicht gut weg in der Geschichte: „Der einzige Feind, den ich in meinem bisherigen Leben gekannt hatte, war der Mensch gewesen.“ (Pos. 222/3503) Ähnliche Sätze gibt es mehrmals.

Leser*innen, die eine wendungsreiche Geschichte suchen oder auf Erklärungen hoffen, werden wahrscheinlich enttäuscht zurückbleiben.

Vage

Erklärungen gibt es im Rahmen des Berichts selbst nicht, aber interpretieren kann man einiges. Das Ende macht wegen der Bedeutung, die der Text hat, für mich Sinn, so dass ich, obwohl ich grundsätzlich vollständig abgeschlossene Geschichten bevorzuge, zufrieden zurückbleibe. Zumal sich ja doch einige positive Entwicklungen abzeichnen, ganz zart, was ich schön fand.
Ob man mit diesem Buch glücklich wird, hängt ganz davon ab, was man in ihm sucht. Wer nicht so gerne Sätze deutet und einfach eine unterhaltsame Story zum Runterlesen sucht, wird sich hier vermutlich langweilen und fragen, was das alles eigentlich soll. Mir kam „Die Wand“ zu einem günstigen Zeitpunkt, ich war in der Stimmung für eine ernste und tiefgehende Lektüre, ich mochte das Buch, konnte manches viel zu gut nachvollziehen.

Teils sehr berührend

Das Buch hat schon ein paar Jährchen auf dem Buckel – und das merkt man auch. Manche Sätze klingen ungewohnt. Es ist aber alles gut verständlich und lässt sich leicht lesen. Mir haben viele Formulierungen gefallen, manche haben mich auch berührt. Der Roman erinnert daran, wie viel eigentlich dazu beiträgt, dass wir leben und überleben. Wie schnell alles vorbei sein kann. Wie wenig planbar das Leben ist. Die Natur erobert sich hier zurück, was der Mensch von ihr nur geliehen hatte. Die Geschichte zeigt, wie unwichtig manche Dinge sind, wie (überlebens-) wichtig hingegen die Intuition ist. Dass die Sachen, die die richtigen für uns sind, nicht immer die offenkundigen sind. Sie zeigt, dass es immer weitergeht, wenn man das will. Irgendwie. Und das ganz ohne starken Mann.

Fehlerhafte eBook-Ausgabe

Ich habe die eBook-Version gelesen. Diese beinhaltet einige Fehler, die wohl dadurch entstanden sind, dass der Text nicht richtig erkannt wurde. Einzelne Buchstaben wurden z.B. falsch übernommen. Man kann die eigentliche Bedeutung problemlos verstehen, aber ein bisschen störend ist es dennoch. Dreimal heißt es „nickt“ statt „nicht“, zweimal wird „audi“ aus „auch“ usw.

Verfilmung

„Die Wand“ wurde verfilmt. Martina Gedeck spielt die Hauptrolle. Wie immer kenne ich den Film (noch) nicht.

Fazit

Eine sehr ruhige Geschichte, über die ich viel nachgedacht habe, eine, in der es einiges zu deuten gibt.

4/5!

Die Wand: Roman

288 Seiten / ISBN: 9783548605715


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