Spitzweg – Eckhart Nickel

Inhalt

Im Kunstunterricht sollen Selbstporträts angefertigt werden. Kirsten, die einzig Begabte in der Klasse, erhält ein zweifelhaftes Lob von der Lehrerin – und rennt aus dem Raum. Carl, der in „Spitzweg“ erst seit ein paar Tagen auf der Schule ist, findet, dass Frau Hügel es besser wissen müsste – und sinnt auf Rache. Mit Hilfe des namenlosen Ich-Erzählers präsentiert er Kirsten seinen Plan. Sie macht mit – bis sie ihr eigenes Spiel vorzieht…

Die Charaktere

Der Abiturient, der uns die Geschichte erzählt, ist Kirstens Fehlpate. Er bleibt namenlos, wird öfter in etwas hineingezogen, hat eine Menge Fantasie und sieht mehr als andere. Eingangs stellt er klar:

"Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht."
(S. 9)

Er ist eher für Spiegel als den (seiner Meinung nach stets gescheiterten) Versuch einer Abbildung.

Und dann kommt Carl.

Carl ist neu auf der Schule – und hat ein anderes Verhältnis zu den Dingen. Er würde eine Zeichnung immer einer Aufzeichnung vorziehen, hat ein eigenes Kunstversteck und eine Vorliebe für Kunst, Literatur und Musik – und insbesondere für seinen Vornamenszwilling Carl Spitzweg. Durch seine wohlüberlegten Äußerungen fasziniert er den Erzähler.

Kirsten, die das künstlerische Talent der Klasse und die dritte Protagonistin darstellt, lebt durch ihre Mutter, die eine Allergie gegen alles Moderne und Künstliche entwickelt hat, ein wenig zeitgemäßes Leben.

Die strenge Kunstlehrerin Frau Hügel spielt schon dadurch eine wichtige Rolle, dass sie durch ihre spontane Aussage die Handlung in Gang setzt. Man hinterfragt ihre Worte. Wie war ihr Kommentar gemeint? War es ein Lob? Hat sie aus bloßem Versehen die jugendlichen Selbstzweifel getriggert? Sind die Reaktionen gerechtfertigt?
Auch Dr. Fant, der Deutschlehrer mit den interessanten Ideen und der optimierten Bibliothek, nimmt einigen Raum ein.
Lehrkräfte, die in Erinnerung bleiben.

Die Zeit

Die drei Hauptfiguren in „Spitzweg“ sind eigen. Sie tragen Tweed und Wallabees, besitzen Sockenhalter und Spazierstöcke, verbeugen sich, wirken endlos altmodisch. Ihre Ausdrucksweise ist gehoben. Sie sind das Gegenteil von hippen jungen Erwachsenen. Man könnte annehmen, der Roman würde vor langer Zeit spielen.

Gleichzeitig spricht vieles dafür, dass es eine Geschichte ist, die irgendwo in der Gegenwart (oder Zukunft?) angesiedelt ist. Über Carl heißt es:

"Er war wirklich jemand, der im vorteilhaftesten Sinn aus der Zeit gefallen war und sich in fast allem völlig von der unheldenhaften Gegenwart abhob, die er, so war ich mir sicher, genauso verachtete wie ich."
(S. 158)

Er serviert After Eight, spricht in seinem Referat ein Thema an, das auch gegenwärtig bedeutsam ist, und sein Schallplattenspieler ist ein moderner Technics SL-1200MK7.

Also – wann spielt „Spitzweg“? Wir werden im Unklaren gelassen. Es gibt lediglich den Hinweis, dass sich die Geschichte im Frühherbst abspielt.
Genannt wird einmal der vergangene 7. September. Die Zahl begegnet uns häufiger innerhalb des Romans, ich bringe unter „Aufbau/Stil“ ein paar Beispiele. Ich habe beim Lesen richtiggehend darauf gewartet, wieder eine zu entdecken. Suchen und Finden, ein Thema des Buches.

Skurril – und besonders

Der Anfang erschien mir vielversprechend. Ich habe die eBook-Leseprobe geladen und war zunächst angetan vom Schreibstil und der Idee. Ich wollte wissen, was sich aus der Selbstporträt-Kommentar-Sache und dem ersten Kunstraub entwickeln würde. Nach Ende der Probe und Entdeckung des Kindle-Deals war mir klar: Da muss ich zuschlagen.

„Spitzweg“ von Eckhart Nickel ist meiner Meinung nach kein Roman für die breite Masse. Es ist ein spezielles Buch. Es wird nicht allen gefallen. Die Charaktere, die Story, alles ist skurril. Aber das ist okay, das soll so sein, das macht es zu etwas Besonderem. Ich war angetan.

Manchmal zu langgezogen

Leider ließ meine Begeisterung mit der Zeit nach. Es gibt mir zu viele Rückblicke, zu wenig im Hier und Jetzt. Die Spannung fällt ab. Die Angelegenheit um Kirsten, die mich neugierig machte, kommt mir zu kurz. Sie ist plotmäßig nicht das, was ich erwartete. Ich dachte an mehr Handlung. Die Geschichte an sich ist lütt und schnell erzählt, sie ist Mittel zum Zweck, um unterzubringen, was gesagt werden wollte. Für mich wäre „Spitzweg“ mit mehr Aktion fesselnder und noch überzeugender gewesen.

So kam mir der eine oder andere Monolog zu lang vor – und das in einem 256-Seiten-Buch. Für mich ist beispielsweise der Besuch bei Dr. Fant zu gestreckt, insbesondere der Tee-Part dehnt sich. Ich erkenne seine Wichtigkeit an – und doch…
Auch das Referat – und Carl ist für seine Reden bekannt – war in dem Ausmaß ermüdend.

Ich will mich nicht über die Künstlichkeit des Buches beschweren, mir hat das gefallen. Aber dieses künstlich in die Länge Gezogene war mir ab und an zu viel des Guten.

Kunst und Künstlichkeit

Das Buch steckt voller Kunst – und Künstlichkeit. Und es überzeugt damit.

„Spitzweg“ beginnt mit einem Selbstporträt im Kunstunterricht, geht weiter mit einem kleinen Kunstraub und einem Kunstversteck. Chopin wird zum rettenden Wurfgeschoss, der Hagestolz zum Bewunderten. Das Bild der Ophelia von Millais wird nach eigenem Belieben verändert, ein anderes kurzerhand beschnitten. Ein Besuch in der Bibliothek des Lehrers, ein durch Kuckucksuhr-Mechanismus verschwindendes Foto, ein zweiter Kunstraub im Museum, die Fehler-Suchbilder, all das zwingt zu näherer Betrachtung, wie Kunst das allgemein tut.

Die Kunst erlaubt es den drei Protagonisten, sich selbst zu suchen – und bei Bedarf mit ihrer Hilfe abzutauchen.

Und dann ist da das Problem mit der Künstlichkeit, das sich bei Kirstens Mutter in Form einer Allergie äußert. Dr. Fants Frau heilte ihre Hautkrankheit mit dem Gegenteil der Künstlichkeit, nämlich mit dem natürlichen Ceylon Virgin White Tea.

Inhaltlich wirkt alles aufeinander abgestimmt und rund, die Story ergibt ein stimmiges Gesamtbild.

Was ist ein Hagestolz?

Immer wieder ist von ihm die Rede, im Übrigen ziert er das Cover. Doch was ist ein Hagestolz überhaupt?
Kurz gesagt: Ein ewiger Junggeselle, ein unabhängiger Einzelgänger.
Auf das Buch bezogen: Eventuell das, was Carl in Zukunft sein könnte. Über ihn sagt der Ich-Erzähler:

"Manchmal hatte ich den Eindruck, dass er eher zu den Menschen gehörte, die eigentlich schon die Tatsache, dass es überhaupt so etwas wie das Geschlechtsleben gibt, kolossal befremdet."
(S. 76)

Aufbau/Stil

Die Geschichte wird in 24 Kapiteln erzählt, die jeweils mit einer Überschrift versehen sind.

Der Autor mag Schachtelsätze. Der Schreibstil passt zum Inhalt, mir hat er gefallen.

„Spitzweg“ kann als untypischer Coming-of-Age-Roman angesehen werden. Die Gedanken des Ich-Erzählers, seine jugendlichen Unsicherheiten, die Schwärmereien und Fantasien sind glaubwürdig.

Ein paar Symbole fallen auf. Immer wieder traf ich u.a. auf die Sieben. Sie kommt als Datum vor, als Hausnummer 7 und Nummer 3(+)4. Der Tee braucht sieben Minuten, der erste Eindruck sieben Sekunden – und der Ich-Erzähler benutzt seine sieben Sinne.

Fazit

„Spitzweg“ ist ein ungewöhnliches Buch über Kunst und Künstlichkeit. Ich mochte die kauzigen Charaktere, die Idee und den Erzählstil. Es ist ein skurriler Roman, der nicht allen zusagen wird. Mir schon. Manche Stellen waren mir aber zu langgezogen, zu „schwafelig“, ich hätte mir mehr Handlung rund um Kirsten gewünscht.

Für das Buch, das für den Deutschen Buchpreis 2022 nominiert ist, gibt’s von mir

3,5-4/5!

Lust auf ein Buch fernab des Mainstreams?

 

256 Seiten / EAN 978-3-492-07143-7

 

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