Blutige Nachrichten – Stephen King

Blutige Nachrichten von Stephen King

„Blutige Nachrichten“ besteht aus vier Novellen, die allesamt Horror der soften Art bereithalten.
„Chucks Leben“ hat mich schwer beschäftigt – und ist deshalb mein Favorit.

3.5/5

Inhalt

Die Novellensammlung „Blutige Nachrichten“ enthält folgende Geschichten:

Ich werde zu jeder ein paar Sätze schreiben:

Mr. Harrigans Telefon

Craig ist neun, als er anfängt, für den Milliardär John Harrigan zu arbeiten. Er liest ihm vor, erhält dafür fünf Dollar pro Stunde – und viermal im Jahr eine Grußkarte inklusive Rubbellos. 2008, vier Jahre später, zahlt sich das liebgewonnene Ritual aus: Craig legt dreimal die Dreitausend frei – Jackpot! Selbst fasziniert von seinem Handy, nutzt er einen Teil des Gewinns, um dem Ruheständler Mr. Harrigan eines zu kaufen, der sich trotz Abneigung prompt für das Apple-Gerät begeistert. Als Harrigan stirbt, schmuggelt Craig das iPhone in den Sarg.

Ich mochte die Geschichte, die der erwachsene Ich-Erzähler aus seiner Kindheit in Harlow erzählt. Trotz der Tatsache, dass der Milliardär die ganze Zeit über an seiner Förmlichkeit festhält, spürt man, dass Craig ihn gernhat. Der Einstieg fällt für eine Kurzgeschichte recht lang aus, wer auf den, nennen wir ihn: „unerklärlichen Teil“ wartet, braucht ein wenig Geduld. Aber keine Sorge: Er kommt. Zwar in der eher harmlosen Variante, die sich insgesamt durch das Buch zieht, aber mich überzeugte er. Ich konnte insbesondere Craigs Angst und Verwirrung nachvollziehen, als das Ganze anläuft – und die Verbindung der beiden fortbesteht.

Chucks Leben

„CHARLES KRANTZ. 39 WUNDERBARE JAHRE! DANKE CHUCK“ – diese Anzeige inklusive Foto sieht Marty auf der beleuchteten Reklametafel der Midwest Trust. Er macht sich Gedanken: Wer ist Charles Krantz, der Mann mit der schwarzen Brille? Ein Buchhalter? Ein hohes Tier der Bank, das in Ruhestand geht? Was hat er geleistet? Während die Welt den Bach runtergeht, trifft er – und nicht nur er – immer wieder auf Chuck: auf seinem Netflix-Startbildschirm, in Fernsehspots, als Schriftzug im Himmel, geschrieben von einem Flugzeug. Aber warum?

Chucks Geschichte ist eine besondere. Sie wird nicht nur verkehrt herum erzählt, zunächst lesen wir den 3. Akt, dann den 2. und schließlich den 1., sondern sie lässt sich auch verschiedentlich interpretieren. Ich mochte die zahlreichen Andeutungen, z. B.: „VERBINDUNG VERLOREN“ oder „die fünf Phasen der Trauer“. Sie haben mir geholfen, die Story so zu sehen, wie ich es getan habe. Eine Welt bricht zusammen? Nein. Viel mehr als eine. Für mich geht es darum, dass der Tod eines Einzelnen, unabhängig davon, was er geleistet hat, einen ganzen Weltuntergang darstellt. Für ihn. Und für andere. Und der Gedanke berührt mich. Natürlich tut er das.

Gleichzeitig deutet der Satz

"Die Vorstellung, dass sich in der zerbrechlichen Schale seines Schädels eine ganze Welt befand, überwältigte ihn."

an, wie wichtig es ist, die eigene Welt / das Leben zu gestalten. Chuck war ein „normaler Mensch“, ein Angestellter wie so viele, jemand, der vielleicht ein wenig im Alltagstrott steckte. Aber früher, da hatte er Spaß und Träume, war ausgelassen. Und an die verrückten Situationen, etwa als er sich hinreißen ließ, noch einmal das Tanzbein zu schwingen, erinnert man sich. Er. Andere.
Es gibt viele Welten innerhalb der Welt. Jeder Tag fügt der eigenen Welt etwas hinzu. Wieso die Einstürze und Ausfälle im 3. Akt? Weil sich seine Welt nicht mehr erweitert. Mit seinem Tod endet die Welt – die, die er erschaffen hat. In seinem Kopf.

Warum „Danke“? Weil er in seiner Welt viele Dinge am Leben erhalten hat, die nun – mit ihm – sterben. Hier musste ich an ein paar Sätze denken, die ich einmal gelesen habe (leider weiß ich nicht mehr wo), und die mich seither (nicht wörtlich, aber vom Gefühl her ♡) begleiten. Sie sagen in etwa: Ist es nicht verrückt, dass irgendwo jede Version von dir weiterhin existiert? An die, die auf dem Boden kauert und weint, erinnerst du dich. Die, die glücklich durch die Gegend tänzelt, lebt in der Erinnerung deiner Freunde weiter. Usw. usf. Und diese Versionen von verschiedenen Menschen (und anderem) gehen hier mit ihm. Aber erst jetzt. Danke, dass du sie bei dir behalten hast, jahrelang. Danke, Chuck.

So lese ich das. Und man merkt es: Je länger ich schwafle, desto mehr habe ich mich mit dem Text auseinandergesetzt, weil er mich zum Nachdenken gebracht hat – und desto mehr mag ich ihn. „Chucks Leben“ faszinierte mich nicht, weil ich alle Teile aufregend fand, überhaupt nicht, sondern in erster Linie wegen der Möglichkeit, das (mysteriöse) Gelesene auszulegen. In der Hinsicht kriegt es sämtliche Punkte.

Sicher handelt es sich nicht um eine Kurzgeschichte, die jeden Geschmack treffen wird, aber ich mochte sie – und die Stimmung, die sie erzeugt.

Blutige Nachrichten

Hier haben wir meinen Antrieb, das Buch zu lesen: Privatermittlerin Holly Gibney ist am Start. Und sie spielt nicht nur mit, nein, sie bekommt ihren ersten Soloauftritt.

Während Detective Ralph Anderson mit seiner Familie auf den Bahamas weilt, nimmt seine Nachbarin ein Päckchen von Holly Gibney entgegen. Darin: Ein USB-Stick mit Audiodateien, die sie aufgenommen hat, um sich abzusichern, die letzte am 19.12. Ist sie in Gefahr?

Den Anfang fand ich super. Ich war sofort dabei und gespannt auf den Rest – der mich dann ehrlich gesagt nur einigermaßen überzeugte. Alles wirkte seltsam übereilt. Das Ende war mir zu einfach. Ich bin nicht sicher, ob mir die Geschichte besser gefallen hätte, wenn sie ein ganzer Roman geworden wäre. Möglich ist es. Stoff genug bieten die Explosion an der Albert Macready Middle School und der rätselhafte TV-Reporter Charles „Chet“ Ondowsky.

Für die anderen Storys des Buches ist es unerheblich, hier – meiner Meinung nach – unverzichtbar: Vor „Blutige Nachrichten“ sollte man „Der Outsider“ gelesen haben. Unbedingt. Man könnte die Novelle als Der Outsider 2.0 bezeichnen.

Wer die „Bill-Hodges-Reihe“ kennt, wird sich freuen, dass Jerome wegen einer einjährigen Studiumsunterbrechung als Teilzeitangestellter vor Ort ist. Er spielt eine wichtige Rolle.

Ich mochte, dass Holly sich erneut mit ihrer Familie auseinandersetzen musste. Zudem gibt es einige Hinweise, wie es mit ihr weitergeht.

Stephen King sagt im Nachwort:

"Ich liebe Holly. So einfach ist das."

Mal schauen, was wir mit ihr noch erleben werden. Schließlich liebt Stephen King sie so sehr, dass er ihr nicht nur diese titelgebende Kurzgeschichte, sondern einen nach ihr benannten Roman gewidmet hat.

Ratte

Dozent Drew Larson kann nicht anders: Er muss in seinem Sabbatjahr einen Roman schreiben, auch wenn der Familie der letzte Versuch noch allzu lebhaft in Erinnerung ist. Mit Lucys zögerlichem Einverständnis fährt er in die abgelegene Hütte seines Vaters und findet sich letztlich tatsächlich in Bitter River in Wyoming wieder, seiner Romanidee, von der er sich nicht abbringen lässt, weder vom Wetter noch von einer Ratte, die ihm einen zweifelhaften Deal vorschlägt.

Schon in „Zwischen Nacht und Dunkel“ habe ich öfter gedacht, dass Stephen King Ratten mag. Oder zumindest gerne einsetzt. Hier also eine weitere Ratten-Story – und ich mochte die Geschichte um Drew, der unbedingt sein Buchprojekt umsetzen und sich mit allerhand Schwierigkeiten auseinandersetzen muss. Die Idee, die Frage in den Raum zu werfen, wie weit man gehen würde, um eine Herzensangelegenheit zu verwirklichen, ist eine gute. Insbesondere der Wahnsinn, der durchscheint, wenn die Wörter im Kopf nicht zur Ruhe kommen, ist großartig eingefangen. Gruselig fand ich hier herzlich wenig, die Novelle hat mich aber dennoch – auf ruhige Art – gut unterhalten.

Fazit

Die Sammlung hat mich weder vom Hocker gehauen noch gelangweilt. Echte Horror-Fans werden vielleicht einschlafen, selbst ich hatte wenig Anlass, mich zu gruseln. Übernatürliches gibt es allerdings reichlich.
Besonders gefallen hat mir im Nachhinein „Chucks Leben“, weil die Geschichte so viel aussagt. Wobei man auch in die anderen, vor allem in „Mr. Harrigans Telefon“ und „Ratte“, einiges hineinlesen kann. Wenn man möchte.

Blutige Nachrichten von Stephen King

Blutige Nachrichten – Stephen King

Originaltitel: If It Bleeds (2020)

Übersetzung: Bernhard Kleinschmidt

Verlag: Heyne

Erschienen: 10.08.2020

Seiten: 560

ISBN: 978-3-453-27307-8

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