Das glückliche Geheimnis – Arno Geiger

Das glückliche Geheimnis - Arno Geiger

In der autobiografischen Erzählung „Das glückliche Geheimnis“ von Arno Geiger geht es ums Aus- und Durchhalten – das Schicksal der Eltern, gesellschaftliche Veränderungen, die dunkle Seite seines Hobbys und Turbulenzen in der Liebe.

2.5/5

Inhalt

25 Jahre lang sucht der Schriftsteller Arno Geiger im Altpapier nach Interessantem. Anfangs ist es vor allem deshalb lukrativ, weil er viele Bücher zu guten Preisen auf dem Flohmarkt verkauft. Mit der Zeit entdeckt er den Wert von Handschriftlichem, von Tagebüchern und Briefen. Der Alltag der Menschen fasziniert ihn, ihre unverstellten Aufzeichnungen geben ihm ein Wissen, das er sonst nie erlangt hätte – und das sein Schreiben nachhaltig beeinflusst.

Autobiografisch

„Das glückliche Geheimnis“ ist eine Erzählung, die nicht nur das glückliche Geheimnis des Herrn Geiger birgt. Es gibt Unglück; das gehört zum Leben – und findet sich somit auch in diesem autobiografischen Werk.

Ich gestehe, dass ich den Autor, dessen Roman „Es geht uns gut“ im Jahre 2005 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, bisher nicht kannte. Dies ist mein erstes Buch von ihm. Fans seiner Geschichten, die mehr über ihn wissen, ein paar private Details erfahren wollen, werden sicher Freude an der Erzählung haben, zumal es bereits viele positive Stimmen und sogar den Rheingau-Literaturpreis für „Das glückliche Geheimnis“ gab. Ich konnte nur bedingt etwas mit dem Werk anfangen.

Zwiegespalten

Einerseits interessierten mich seine Ausflüge in die rot-grünen Altpapierbehälter Wiens, andererseits gibt es wenig Konkretes. Er verrät ein paar Titel, das älteste und wertvollste Buch, das er gefunden hat, ansonsten finden sich wenig Details.

Einerseits steht Arno Geiger zu seinen Gefühlen, hat kein Problem damit, zuzugeben, dass er schwere Phasen hatte, in denen er häufig geweint hat. Seine Schilderungen aus der Zeit, als er jung war und feststeckte, sind glaubwürdig. Andererseits kommt der Text distanziert und so rüber, als gibt es allerhand Aussparungen. Vieles wird nur angerissen. Die Schicksale seiner Eltern hätten sicher andere Gefühle in mir auslösen können. Die Emotionen kamen nicht bei mir an, weil ständig umgeschwenkt und nicht in die Tiefe gegangen wird.

Einerseits mochte ich die Erkenntnisse, die er aus den schwierigen Zeiten mit seiner heutigen Ehefrau gezogen hat. Andererseits ermüdeten mich seine Frauengeschichten, die ein paar „Schocker“ bereithalten. Mich überzeugten diese nicht, ich hatte vielmehr den Eindruck, sie sollen über die Lücken hinweghelfen.

Einerseits habe ich das Buch gern gelesen, wenn ich dabei war. Andererseits habe ich Anlässe zum Aufschieben gesucht: Kann ich irgendetwas anderes erledigen, bevor ich zu dem Buch greife? Sinnlos am Handy scrollen vielleicht? Das kenne ich von Büchern, die mich fesseln, nicht.

Das Doppelleben

„Doppelleben“, dem Begriff haftet etwas an, oder? Keine Sorge, der Autor gesteht in seinem Buch nicht, ein Schwerkrimineller zu sein. Anfangs tat ich mich mit dem Wort schwer, denn auf den ersten Blick wirkt das Ganze harmlos ohne Ende: Er hat im Müll gewühlt, na und? Aber es stimmt schon: Wer ein Doppelleben führt, wechselt zwischen zwei Milieus – und das hat er getan. Er, ein gebildeter Mann, tat etwas, das von der sozialen Norm abweicht und nicht zu dem Bild eines Menschen passt, der es schafft, im Verlauf zu einem bekannten und ausgezeichneten Schriftsteller zu werden.

Arno Geiger hadert mit seinen Streifzügen durch Wien, hat Bedenken, dass sie „etwas Schmuddeliges“ sind. Es ist ein Auf und Ab, beispielsweise bestärkt ihn ein Film, er fühlt danach eher Stolz als Scham. Ich kann das nachvollziehen, manchmal braucht es eine Art Legitimation von außen, ein Okay von jemandem, der zu der Sache, die fragwürdig erscheint, ungeniert steht. Allerdings mischen sich immer wieder leise Zweifel unter – ohne ihn auf Dauer von seinem Vorhaben abzubringen. Später wird die Anonymität, die die Touren mit sich bringen, zu einem willkommenen Fluchtweg. Ich verstehe, weshalb er all die Jahre lang an den Ausfahrten festgehalten hat.

Inspiration

Arno Geiger gibt offen zu, dass sich sein Schreiben durch die Fundstücke verändert hat. Wer jetzt aufschreien möchte à la „Alles nur geklaut?“: Ich fühle das, ich war auch mal da. Aber: Nein. Die Handlung hat er erfunden, die Charaktere ausgearbeitet. Diesen Punkt finde ich an der ganzen Sache am wenigsten verwerflich. Ich musste an Austin Kleons „Alles nur geklaut – 10 Wege zum kreativen Durchbruch“ denken, das meinen Blick auf die Thematik vor einiger Zeit ein Stück weit verändert hat.

Grauzone

Am Ende des Buches kommt Arno Geiger mit der Frage um die Ecke, die sich der Leserschaft zwangsläufig stellt: „Darf er das überhaupt?“

Darüber habe ich mir viele Gedanken gemacht. Ist das okay, was er jahrelang tat? Wie vielen Menschen, die ihre Tagebücher weggeworfen haben, ist es egal, dass ein ihnen Unbekannter sie gelesen hat? Und wie vielen nicht?

Arno Geiger meint, dass die Menschen, die etwas wegwerfen, etwas Privates zu Abfall machen. Da er fremd ist, keinen Bezug zu den Personen hat, bleibt es ein Dokument, etwas Sachliches, wird nicht wieder zu etwas Privatem. Das ist als Ansicht zu akzeptieren. Kurze Zeit später schreibt er allerdings im Zusammenhang mit einem Schredder:

"Bei manchen Fundstücken hielt ich mich nicht für berechtigt, sie nochmals in andere Hände gelangen zu lassen."

und

"Das verträgt sich nicht mit meinem Empfinden manchen Fundstücken gegenüber, eine Sache zwischen ihnen und mir."

Ist das nicht widersprüchlich? Wird es nicht seiner Meinung nach automatisch von etwas Privatem zu Abfall? Gibt es also doch Grenzen?

Zu bedenken ist auch, dass nicht nur man selbst Papiere wegwirft und entsprechend „vorsorgen“ kann. Ich habe mich als Kind und Jugendliche in zahlreichen Briefen offen mit meiner Tante ausgetauscht. Was hat sie mit all den Blättern getan? Ich bin mir sicher, dass sie viele (alle?) weggeworfen hat. Sie wird sie kaum zerschnitten oder geschreddert, nicht mit dem Gedanken entsorgt haben, dass jemand sie liest. Ja, Arno Geiger kennt mich nicht. Aber ist es nicht dennoch meine Entscheidung, ob diese intimen Aufzeichnungen gelesen werden dürfen?

Auch der Einsatz der Polizisten im Buch erscheint mir bemerkenswert. Einmal nimmt er einen im Auto mit, der ihn u. a. zur Geschwindigkeitsüberschreitung auffordert. Diese Stelle wird nicht zum Spaß ihren Weg ins Buch gefunden haben, oder? Wir sind alle nicht einwandfrei. Okay, verstanden.
Ein anderes Mal wird er bei seinem Hobby erwischt – und nicht gemaßregelt, sondern gebeten, etwaige Kochbücher für den Beamten aufzuheben. Niemand hat ihn je aufgefordert, mit der Wühlerei aufzuhören. Dann muss es ja in Ordnung sein?

Tja.

Es ist eine Grauzone, da hat er recht.

Mutig

Es koste ihn Überwindung und er wolle es hinter sich haben, schreibt Arno Geiger, und:

"Ich hoffe, ich bin gerüstet für das, was mich erwartet."

Ich sehe nicht alles so wie der Autor. Und ich habe keine schlechte Meinung von ihm. Ich mag, dass ich den Eindruck hatte, dass er seine Geschichte ehrlich und ungeschönt beschreibt. Dass er sich auf seinen zwielichtigen Streifzügen Inspiration geholt hat, ist interessant. Dass er dabei geblieben ist, obwohl er selbst immer wieder Vorbehalte hatte, zeigt, wie viel ihm daran lag. Und dass er sein Geheimnis trotz Bedenken lüftet, finde ich mutig.

Aufbau/Stil

Das Buch ist in 27 nicht nummerierte Kapitel unterteilt. Vereinzelt werden Jahreszahlen genannt.

Es handelt sich um einzelne Stationen seines Lebens, die der Autor beschreibt. In meinen Augen wird zu kurz bei einem Thema verweilt, um einen tiefen Einblick zu geben.

Der Autor schreibt leicht und – wie er es sich einst vorgenommen hatte – ungekünstelt.

Die Stimmung ist zumeist melancholisch.

Trotz der geringen Seitenzahl habe ich gefühlt ewig gebraucht, um es zu beenden. Das lag nicht am Schreibstil. Wenn ich dabei war, las es sich flott weg.
Für mich liegt der Fokus oft an anderer Stelle, als ich ihn mir gewünscht hätte, während das Spannende, das das Thema zu bieten hat, zu kurz kommt. Seine Beziehungsdramen nehmen viel Platz in Anspruch, ohne dass ich eine klare Vorstellung von allem bekommen hätte. Ja, es gibt pikante Geständnisse. Aber was da war, die Verbindung zu O. usw., bleibt mir ein Rätsel. Ich habe das nicht gefühlt, da kam nichts rüber. Auch seine Vorbehalte gegen seine Müllwühlerei werden häufig angesprochen, im Gegensatz zu dem, das ich spannend gefunden hätte: Ich hätte mir mehr zu den Funden gewünscht, zu dem, was er mitgenommen – und was das mit ihm gemacht hat. Konkret. Keine Abdrucke von Texten, aber seine Eindrücke, sein Mehrwert. Vieles, das länger besprochen wurde, erschien mir belanglos. Die Gewichtung war für mich eine falsche.

Fazit

Manches hat mir gefallen, anderes interessierte mich weniger. Ich hätte mir einige Teile detaillierter und nicht derart sprunghaft gewünscht. Manchmal musste ich mich zum Lesen durchringen, obwohl das Buch leicht geschrieben und flott beendet ist. Zum Nachdenken bringt „Das glückliche Geheimnis“ allemal.

Das glückliche Geheimnis - Arno Geiger

Das glückliche Geheimnis – Arno Geiger

Originaltitel: –

Übersetzung: –

Verlag: Hanser Verlag

Erschienen: 10.01.2023

Seiten: 240

ISBN: 978-3-446-27617-8

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