Inhalt
„Der Schwimmer“ enthält zwölf Kurzgeschichten des US-amerikanischen Schriftstellers John Cheever. Der Originalband „The Stories of John Cheever“ erschien 1978.
Das Werk zählt zu den Klassikern – und ich kann es verstehen.
John Cheever verzichtet auf nichtssagendes Geschwafel. Er beschreibt nie nur irgendwelche Umgebungen, er erzählt gleichzeitig so viel über die Person, ihre innere Verfassung. Alles hat eine Bedeutung. Der Autor nutzt Vergleiche und Metaphern. Es gibt allerhand Symbole – und etliche Interpretationsmöglichkeiten. Die Kurzgeschichten sind traurig, lassen sich teils humorvoll lesen, sie sind gesellschaftskritisch, ohne belehrend zu sein. Seine Protagonisten, oft mittelalte Menschen, die desillusioniert werden, dem Alkohol zusprechen, sind nicht astrein, aber er lässt ihnen immer auch gute Seiten. Ihr Verhalten ist erklärbar.
Ich mochte das Buch sehr.
Meine Ausgabe stammt aus dem Jahre 1995, es gibt eine neuere von 2009. Beide sind nur noch gebraucht erhältlich.
Ein kleiner Überblick über die Storys:
Das grauenvolle Radio
Originaltitel: The Enormous Radio
John Cheevers Buch „Der Schwimmer“ beginnt mit der Kurzgeschichte „Das grauenvolle Radio“, in der Jim Westcott seiner Frau Irene ein neues Radio kauft, nachdem das alte den Geist aufgab. Doch das Gerät hat eine Störung: Die Westcotts empfangen die Gespräche ihrer Nachbarn – und die Einblicke verändern ihr Leben.
Mein erster Gedanke, als ich am Ende ankam: „Huch, das war’s?!“ Ja, das war alles. Es kam abrupt – und das ist gut so. Die paar Seiten, aus denen die Geschichte besteht, spukten mir noch einige Zeit im Kopf herum – verstärkt durch den nicht erwarteten und effektiven Schlusspunkt.
Es ist erschreckend, wie sehr die Einblicke in die Leben anderer beide Eheleute verändern, auf ganz unterschiedliche Weise. Das Radio, mit dem Jim seiner Frau eine Freude machen wollte, löst Grauen aus, bringt Leid in ihre Wohnung. Die Story stimmt nachdenklich. Was wäre aus den eigenen vier Wänden zu hören? Sehen wir unsere Probleme oder stürzen wir uns auf die von anderen? Wählen wir nicht alle sorgfältig aus, was wir preisgeben? Wie stark beeinflusst uns das Verhalten anderer? Übernehmen wir es unbesehen, weil es sich als Normalität verkauft? Wenn man das Radio durch Instagram ersetzt, erscheint die Geschichte hochaktuell. Wieso sind wir besessen von den Leben der anderen?
Die Stimmungswechsel (Irene empfindet Interesse, das zu einer Art Sucht wird. Ihre Abscheu und Angst entwickeln sich in Trost und eine Fluchtmöglichkeit) sind geglückt und glaubhaft.
Ich finde es faszinierend, wie viel der Autor mit so wenigen Sätzen gesagt hat.
Der Schwimmer
Originaltitel: The Swimmer
In der titelgebenden Story „Der Schwimmer“ geht es um Neddy Merrill, der um der Originalität willen eine neue Route durch den Bezirk krault: Vom Westerhazyschen Schwimmbassin nach Hause, durch private Pools und eine öffentliche Badeanstalt. Allerdings erwartet ihn auf seinem Weg eine böse Überraschung.
Ned ist zunächst voller Tatendrang – und dann nicht mehr. Was daran liegt, dass er anfangs mit Erfolg ausblendet, was er nicht wahrhaben will. Das geht so lange gut, bis eine Bemerkung von außen zu ihm durchdringt, ihn runterzieht. Die ausgelassene Stimmung stirbt. Alles verändert sich, er nimmt die Temperaturen anders wahr, wird schwächer. Älter. Der Wechsel kündigt sich an (durch das Gewitter, das leere Bassin der Welchers etc.) und spitzt sich langsam zu. Zunächst ist er kindlich, rutscht das Treppengeländer herunter, später fehlt ihm die Kraft, sich am Beckenrand hochzuziehen. Auf die Frage, ob er nie erwachsen werden wolle, antwortet er ausweichend mit „Was ist denn?“ (S. 41)
Ned kommt vier Meilen weit, ohne dass ihn jemand auf die wichtigen Dinge seines Lebens anspricht. Dass es bei den Hallorans geschieht, einem Zusammentreffen, bei dem alle nackt sind, schutzlos, ist sicher kein Zufall. Hier zeigt sich die unverhüllte Wirklichkeit, die Wahrheit, die er nicht verstecken kann. Ich finde es großartig, wie wirkungsvoll Cheever Symbole einbaut.
Wie lange funktioniert Verdrängung? Werden wir früher oder später nicht immer von der Realität eingeholt? Wie kostbar ist die vermeintliche Idylle aus Partys, Picheln und Pläuschchen? Wie viel ist man wert, wenn man nicht mehr mithalten kann? Was haben wir bis dahin verloren?
„Der Schwimmer“ bietet einigen Interpretationsspielraum und eine Menge zum Nachsinnen.
Der Brigadekommandeur und die Golf-Witwe
Originaltitel: The Brigadier And The Golf Widow
Mrs. Pastern, bekannt für ihre spöttischen Bemerkungen, soll im Rahmen der Sammelaktion für Leberkranke die Schecks ihrer Nachbarn zusammentragen. Zwei Häuser überlässt sie ihrem Mann Charlie, darunter das der Flannagans – und bei der Gelegenheit holt er sich nicht nur das Geld. Doch er gibt auch – und zwar mehr als er hat.
Die Shortstory, in der es um das Thema „Mehr Schein als Sein“ geht, wird von einem Ich-Erzähler vorgetragen, der sich namentlich nicht outet. Da seine Familie in der Nachbarschaft der Pasterns mit Blick auf deren verhängnisvollen Atombunker lebt, weiß er auch das traurige Ende der Geschichte zu erzählen.
Es gibt oft eher Andeutungen als klare Ausführungen. Für mich steht die Abgabe des Schlüssels für die Aufgabe der Verteidigung – und Mrs. Pastern nutzt die Gelegenheit, um die längst überfällige Explosion auszulösen. Dass Mrs. Pastern anschließend mit dem Wort „Fürsorge“ (S. 67) in Verbindung gebracht wird, halte ich für eine bedeutungsvolle Formulierung.
Insgesamt hat „Der Brigadekommandeur und die Golf-Witwe“ ein bisschen weniger zu mir gesprochen als zum Beispiel „Der Schwimmer“. Dass der Bunker im Verlauf zum „Grabhügel“ (S. 68) wird, macht den Schluss allerdings eindrücklich.
Der Einbrecher von Shady Hill
Originaltitel: The Housebreaker of Shady Hill
Johnnie Hake ist pleite. In seiner Verzweiflung bricht er bei den Warburtons, die Freunde seiner Familie sind, ein. Er ist nicht stolz darauf, findet jedoch immer mehr Anzeichen dafür, dass er im Grunde unschuldig und nur einer von vielen ist. Zeichen, überall. Und das Geburtstagsgeschenk… ist das auch eins?
Ich-Erzähler Johnnie Hake, 36, gibt uns tiefe Einblicke in sein Leben – direkt und indirekt. Sein Name – Hake, Hecht, Raubfisch, also einer, der sich von anderen Fischen ernährt – spricht Bände. Allgemein wird das Thema häufiger aufgegriffen, beispielsweise wenn er sich nach Forellenbächen sehnt, die für die Unbeschwertheit stehen, die ihm fehlt. Alles ist aufeinander abgestimmt.
Johnnie ist ein hadernder und widersprüchlicher Charakter. Er verurteilt sich für seine Tat, lässt sich von den Zeitungsmitteilungen beruhigen, die ihm zeigen, dass seine Aktion kein Einzelfall ist. Im Verlauf ist er gewillt, Rechtfertigungen zu finden – und in einer Welt, in der alle Ähnliches tun, kann es ja so schlimm nicht sein, oder? Er achtet auf die – vermeintlichen – Missetaten der anderen, um sich von seinen eigenen abzulenken. Doch wie lange geht das gut?
„Der Einbrecher von Shady Hill“ ist eine Geschichte, die zeigt, dass alles eine Frage der Perspektive ist. Ein Paradebeispiel für selektive Wahrnehmung. Die Story deutet an, dass das größte Chaos nicht ewig währen und der Untergang nicht zwangsläufig sein muss. Ich mochte sie. Vor allem für Bilder wie das mit dem Millionär, der sich nicht über Wasser halten kann, oder den letzten Absatz, der durch die Lüge dafür sorgt, dass das Happy End nicht allzu rein erscheint und man mit ein paar Restzweifeln zurückbleibt.
O Jugend, o Schönheit
Originaltitel: O Youth and Beauty!
Am College war Cash Bentley ein erfolgreicher Sportler, nun, im mittleren Alter, zeigt er auf den Feiern seiner Freunde, wie fit er ist, indem er über deren Möbel springt. Als er stürzt, schlägt er nicht nur auf, sondern fällt in einen Abgrund, dem Boden der Tatsachen immer noch ausweichend.
In „O Jugend, o Schönheit“ bleiben wir in Shady Hill. Die Geschichte beginnt mit einem Bandwurmsatz, der fast die ganze Seite einnimmt. Wir lernen Trace Bearden und Cash Bentley kennen, die Nachbarn sind. Cash, in seinen 40ern, ist mäßig behaart und flüssig, aber noch immer sehr sportlich. Er ist für seine Hürdenrennen über Möbel bekannt, die er auf den Partys seiner Freunde aufführt. Auch mit seiner Frau Louise gibt es Hindernisse zu überwinden. Die Situation spitzt sich zu, als er sich nach einem Sturz von den Möbelsprüngen verabschieden muss. Doch wie soll das gehen, wenn es seine einzige Freude ist? Was bleibt ihm ohne? Zumal sich gezeigt hat, wie wenig er seine College-Spitzensportler-Zeit hinter sich lassen kann.
Es ist eine schmerzliche Story übers Älterwerden und Nicht-wahrhaben-Wollen. Ich mochte, wie Cheever die Gedanken und Gefühle zeigt, indem er den Protagonisten beispielsweise auf dem mit Spinnweben verhangenen Dachboden im Dunkeln und schwindenden Licht seiner Taschenlampe den Universitäts-Pulli suchen lässt. Er kramt nach der Zeit, die ihn verlassen hat. Endgültig.
Die richtige Zeit für eine Scheidung
Originaltitel: The Season of Divorce
Ein Mann berichtet von seiner Ehe, die ihm „glücklich und hilfreich“ (S. 121) vorkam – bis Dr. Trencher, ein Bekannter, anfängt, Ethel zu verfolgen und ihr seine Liebe zu gestehen. Ethel ist gebildet, hängt seit einigen Jahren als Mutter und Hausfrau fest – und merkt durch die Bekundungen des Doktors, dass ihr etwas fehlt.
John Cheever lässt einen namenlosen Ich-Erzähler über seine Ehe reden. Man spürt sofort, dass er Ethel als Frau nicht zu schätzen weiß. Er spricht ihr Dinge ab, macht sich zu Beginn Sorgen, dass sie zu lasch mit den Kindern ist – und später gegenüber Dr. Trencher. Durch seine emotionsarme Art fühlt man die Probleme der Ehefrau noch stärker. Zunächst ist er mit Leugnen beschäftigt, dann bemerkt er, dass „[…] dies genau die richtige Zeit für eine Scheidung war.“ (S. 134), ehe es ernst wird und er komplett die Nerven verliert. Er ist kein Mann, der sich etwas wegnehmen lässt.
Ethel (Bedeutung: edel) wurde von dem Autor mit einem Diplom und einem Verehrer ausgestattet, der mit Liebesbekundungen um sich schmeißt. Er ist das ganze Gegenteil der Stimme, die die betrübliche Geschichte erzählt – allerdings auch etwas zu viel des Guten, denn er stalkt sie. Ethel lebt unter ihren Möglichkeiten, das wird deutlich. Was wird sie tun, was wird sich ändern? Ich werde es nicht verraten, aber das Ende hinterlässt einen starken Eindruck.
Die Kinder
Originaltitel: The Children
In „Die Kinder“ geht es um Victor Mackenzie, der als Einwanderer für den unbeliebten Botschafter Mr. Hatherly anfing, ehe er nach einer Abfertigung mitsamt seiner Theresa bei Mrs. Brownlee in Salisbury Hall strandete. Neun Jahre blieben sie, doch dann kehrt Hester, die Tochter der Brownlees, nach 15 Jahren zurück – und ersetzt die beiden, deren Reise damit weitergeht.
Die Kurzgeschichte hat mir nicht ganz so gut gefallen. Victor und Theresa, die ihre Eltern jeweils früh verloren haben, sind ergebene Helfer. Sie lassen sich wieder und wieder einspannen, werden teilweise als „Kinder“ betitelt – und ständig so behandelt. Kinder sind abhängig von den Launen ihrer Eltern – Victor und Theresa sind es von denen der Reichen.
Es gibt viele gescheiterte Eltern-Kind-Beziehungen innerhalb der Story – und so endet nicht nur der Kontakt zu ihrer eigenen Tochter Violet. Es ist eine Geschichte über zwei Heimatlose, die nur so lange gern gesehen sind, bis der nächstbeste Besuch eintrifft, aber nicht müde werden, sich für kleines Geld und große Aufgaben an alte Menschen und Gemäuer zu binden. Eine zeitlich begrenze Win-win-Situation mit bitterem Beigeschmack, aus der sie nie als Gewinner hervorgehen. Ich konnte den Figuren nicht viel abgewinnen und fand die Reise zäh.
Stadt der Enttäuschungen
Originaltitel: O City of Broken Dreams
Die Malloys verlassen Wentworth in Indiana, um in New York groß rauszukommen, nachdem Alice dem Theaterleiter, dessen Vortrag sie besuchte, ihren Mann empfahl. Der ehemalige Nachtbusfahrer Evarts Malloy hat nämlich angefangen, an einem Stück zu schreiben – und Dramatiker werden dringend gesucht. Doch in New York läuft es für ihn anders als erwartet.
In „Stadt der Enttäuschungen“ folgen wir dem arglosen Evarts, der mit seiner naiven Frau Alice und der 5-jährige Tochter Mildred-Rose nach New York geht. Von Anfang an ist klar, dass die Reise unter keinem guten Stern steht – die Pläne sind unkonkret, die Versprechungen leer, die Malloys stürzen sich blind in ihre Hoffnungen. Sie werden kindisch und verloren dargestellt („Evarts saß auf der Bettkante und ließ die Beine baumeln.“ – S. 182), ich wollte sie am liebsten vor dem ganzen Zirkus bewahren. Alice‘ Auftritt schießt den Vogel ab. Man möchte sie alle schütteln, es ist kaum ernst zu nehmen.
Evarts scheint im Verlauf einiges durchzumachen, die Szene mit Susan Hewitt lässt tief blicken. Alice sieht hingegen noch immer die Diamanten, die von Anbeginn an nicht da waren.
Das Ende ist so ungenau wie der Anfang. Wir nehmen eine gewisse Entwicklung wahr („Sie hatten ihre Reiselektion schnell gelernt […]„, S. 202), werden aber bloß mit Möglichkeiten zurückgelassen, vagen Vorstellungen davon, was passieren könnte. Wenn ich mir anschaue, dass Evarts „Hirt(e)“ bedeutet, macht es das spannender und offener, weil die Entscheidung von ihm abhängt und er „[…] wolle es sich überlegen […]“ (S. 202), gleichzeitig kann ich mir denken, wie es weitergeht; immer weiter.
Der Hausverwalter
Originaltitel: The Superintendent
Seit 15 Jahren ist Chester Coolidge Hausverwalter. In dieser Story aus dem Sammelband „Der Schwimmer“ geht es um den Tag seines Lebens, an dem er sich unter anderem mit einem Alarm des Dachtanks und dem Auszug der Bestwicks beschäftigt, die acht Jahre lang gute Mieter waren.
Die Bestwicks ziehen aufgrund einer Mieterhöhung aus. Sie müssen „[…] sich von einer sozialen Rangstufe trennen und in die nächstniedere begeben […]„, wie es auf S. 224 heißt. Insgesamt werden es immer mehr Reiche, die sich in dem Komplex einfinden. Das Souterrain wird in der Anfangsszene als „ganz still“ (S. 205) bezeichnet, während es weit oben komplett anders aussieht. Es wird kein Zufall sein, dass es um einen Tank geht, der auf dem Dach steht, und dessen Überflutungsschalter defekt ist. Ich denke, darum geht es in „Der Hausverwalter“. Um Verdrängung, soziale Stufen, den Auf- und Abstieg.
Chester grenzt sich ab von denen, die unter ihm stehen, betont, dass er nicht der Hausdiener ist, fasst es als beleidigend auf, wenn angenommen wird, er sei der Hausmeister.
Entscheidet das Einkommen über unseren Stand? Über den Respekt, der uns zusteht? Wie viel ist genug, wenn selbst die Bestwicks mit ihren Unmengen an „Porzellankisten“ (S. 212) nicht mehr ausreichen?
Für Chester ist es wichtig, anderen zu helfen. Er ist stolz auf seine Arbeit und seine hilfsbereite Frau. Doch er stößt an Grenzen. Den Bestwicks kann er nicht helfen, er kennt weder die Verwalter, die über ihm stehen, noch hat er sonstige Handhabe – und das nach all seiner Zeit dort.
Chesters Gedanken über „[…] die Summe, die gleich Null war“ (S. 226) sorgen am Ende dafür, dass man zum Nachdenken gebracht wird.
Der Sommerfarmer
Originaltitel: The Summer Farmer
Jeden Sommer verbringt Familie Hollis die Zeit auf ihrer Farm nördlich von Hiems. Im Herbst geht es für Paul, Virginia und die beiden Kinder in die Stadtwohnung in New York. Als Überraschung haben die Eltern ihren Kids zwei Kaninchen gekauft, die ein bitteres Ende erwartet – sowieso.
In „Der Sommerfarmer“ erleben wir den 40-jährigen Paul und seine Frau Virginia. Sie kaufen ihrer Tochter und ihrem Sohn je ein Haustier. Der Plan: Wenn es im Herbst in die Stadtwohnung geht, könnte man die Kaninchen dem Nachbarn und Tagelöhner Kasiak geben. Zum Essen. Doch so kommt es nicht, die Tiere finden ein vorzeitiges Ende.
Paul ist im Sommer Bauer (oder Urlauber?), ansonsten ist er ein Städter mit Job. Er nimmt nichts allzu ernst, versucht sich an einer entspannten Haltung, gibt sich Mühe mit seiner Frau, den Kindern, seiner alkoholkranken Schwester und dem gebürtigen Russen Kasiak, der bekennender Kommunist ist. Als sich alles zuspitzt, in einen Wettstreit ausartet, zu viel wird, verliert er, der Geduldige und Nachsichtige, die Kontrolle.
Die Geschichte zeigt, was Vorurteile anrichten können. Sie beweist, wie sie unsere Wahrnehmung verändern und einschränken. Es geht um ein Leben, das uns zufriedenstellen soll – wie sieht es aus? Wie viel müssen wir dabei zurückstecken – und anderen durchgehen lassen? Es geht um Selbstachtung.
Es gibt so etwas wie selbsterfüllende Prophezeiungen innerhalb der Story. Die Kaninchen sollen sterben. Sie sterben. Zwar anders als gedacht, aber doch. Zu Beginn sieht das Ehepaar „[…] – buchstäblich – ihre Farm liegen […]“ (S. 230). Die umgestülpten Gartenmöbel „[…] schienen in einem plötzlichen Gewitterschauer vergessen und seit Pauls Jugend dort zu trocknen.“ (S. 230) Und Kasiak sagt auf S. 240 zu Paul: „Sie kommen nächstes Jahr nicht wieder. Sie werden schon noch sehen.“ Ob das ebenfalls Vorwegnahmen sind? Zwar aus anderen Gründen als gedacht, aber doch? Zumindest ist das Ganze nicht ohne Spuren an Paul vorbeigegangen, wie uns Cheever eindrucksvoll schildert.
Für die Armen ist Weihnachten ein trauriges Fest
Originaltitel: Christmas is a Sad Season for the Poor
Charlie Leary ist gefangen – in seinem Job als Fahrstuhlführer, seiner relativen Armut, seiner Einsamkeit. Es ist der Weihnachtstag, er erzählt den wohlhabenden Menschen um sich herum von seinem Schicksal – mit Folgen.
Charlie bemerkt eingangs eine „allgemeine Bewußtlosigkeit“ (S. 245) – hier im Zusammenhang mit Schlaf, mit Nichtstun. Dieser Zustand wird sich im Verlauf der Geschichte umkehren, denn dann kriegt er Aufmerksamkeit bis zur Bewusstlosigkeit. Durch die Zuwendungen, teils durch Lügen erschlichen, wird Charlie übermütig – und muss sich den Konsequenzen stellen.
Der Titel lässt sich auf Charlie beziehen, der arm ist und sich vor allem so fühlt. Für die, die er für arm hält, die selbst aber einen anderen Blick auf die Welt haben, ist es kein trauriges Fest. Es geht um die Perspektive, immer wieder, denn er phantasierte sich schon vorher ein düsteres Bild für eine andere Familie zusammen. Wer ist wirklich arm? Kann man es immer sofort erkennen? Wie fühlt es sich an, als arm angesehen zu werden?
Außerdem geht es darum, dass sich all die Gutmütigkeit auf einen einzigen Tag beschränkt, an dem sich alle anders verhalten als sonst, sich womöglich sogar dazu verpflichtet fühlen. Vorher hat sich Charlie mit den Leuten, die er seit sechs Monaten täglich sieht, nicht ausgetauscht, so dass seine Lügen nicht auffallen.
Charlie sucht die Hauswirtin nur auf, weil seine Unwahrheiten auf ihm lasten. Er tut sich selbst dabei mehr Gutes als den Beschenkten.
„Für die Armen ist Weihnachten ein trauriges Fest“ ist eine Geschichte, die sich flott wegliest, keine unnötigen Details, aber viel Stoff zum Nachdenken enthält.
Im Schatten der Ginflasche
Originaltitel: The Sorrows of Gin
Amy Lawton hört fast ausschließlich Befehle von ihren Eltern, die ständig Alkohol trinken und ausgehen. Die ältere Köchin Rosemary begegnet ihr hingegen freundlich, sie teilen ihre Einsamkeit. Als die Köchin die Viertklässlerin bittet, den Gin ihres Vaters wegzuschütten, geht die Geschichte richtig los.
„Im Schatten der Ginflasche“ behandelt die Konsequenzen, die der übermäßige Konsum von Alkohol auf die Umgebung hat. Die Eltern trinken, der Vater torkelt schon mal, die Köchin zeichnet das düstere Bild ihrer verstorbenen Schwester, die trank – und greift später selbst zur Flasche.
Auffällig ist der Umgang der Eltern mit Amy: Sie kriegt fast nur Befehle und wenig sonstige Zuwendung. Während Mr. Lawton ihr etwas befiehlt, bittet er die Angestellte – bis er entdeckt, dass sie trinkt. Dann setzt der Befehlston auch ihr gegenüber ein.
Den Satz „Das Mädchen […] berührte ihn, als verfüge sie über eine Macht, die ihn nur berührte, wenn sie hilflos erschien oder sehr krank war.“ (S. 281) finde ich sehr aussagekräftig. Er erscheint mir wie eine Art Entwicklung, die aber nicht anhält, zudem wie eine Erklärung/Rechtfertigung für das Verhalten des Mannes.
Amy ist gefangen zwischen der Zuneigung, die sie insbesondere ihrem Vater gegenüber empfindet, der ihr teure Bildbände mitbringt und immer versucht, sanft und freundlich zu sein, und ihrer Abneigung gegen die Erwachsenenwelt. Sie hat beim Verlassen des Hauses „Weder Gewissensbisse noch Abschiedsgefühle […]“ (S. 280), was mir doch bedeutsam erscheint. Die Frage, ob Amy dem Alkohol in ihrem weiteren Leben entfliehen kann, beschäftigt mich. Der letzte Satz macht mir keine große Hoffnung.
Fazit
„Der Schwimmer“ enthält zwölf Kurzgeschichten, die mich beeindruckt haben. Manche sagten mir mehr (zu) als andere, keine fiel durch. Ich mochte insbesondere Cheevers Schreibstil und die vielen Möglichkeiten, das Gelesene zu interpretieren.
Ich wollte 4/5 vergeben, 4,5/5, letztlich führt nichts um die volle Punktzahl und weitere Werke von ihm herum. Das vage Gefühl einer Lesekrise wird es allen anderen Büchern in nächster Zeit schwer machen. Sorry dafür.
Wohlverdiente
5/5!
288 Seiten / ISBN: 978-3499133268 / Übersetzungen: Lore Fiedler (Der Schwimmer, Der Einbrecher von Shady Hill, O Jugend, o Schönheit, Die richtige Zeit für eine Scheidung, Stadt der Enttäuschungen, Der Hausverwalter, Für die Armen ist Weihnachten ein trauriges Fest), Jürgen Manthey (Der Brigadekommandeur und die Golf-Witwe, Der Sommerfarmer, Im Schatten der Ginflasche), Peter Naujack (Das grauenvolle Radio), Karin Polz (Die Kinder)
Mehr vom Autor
Ich habe gelesen: