Die schönsten Kurzgeschichten aus aller Welt – Band 1

Inhalt

„89 Autoren erzählen: Die schönsten Kurzgeschichten aus aller Welt“ – Band 1 aus dem Jahre 1976 enthält 46 Kurzgeschichten. Manche haben mir besser gefallen als andere, insgesamt wurde ich gut unterhalten und habe einige Schriftsteller:innen entdeckt, von denen ich mehr lesen möchte.

Die zweiteilige Reihe ist nur noch gebraucht, dafür aber günstig erhältlich. 

Übersicht

Ich habe zu jeder Kurzgeschichte ein paar Sätze geschrieben. Folgende Titel sind in dem ersten Teil der Dilogie enthalten:

 

Der alte Dämon – Pearl S. Buck

Originaltitel: The Old Demon, 1939
Übersetzung: Erika Tophoven

Inhalt

Eine alte Frau, ein Krieg zwischen China und Japan – und ein Fluss, der zum wiederholten Male über Leben und Tod entscheidet.

Meine Gedanken

„Der alte Dämon“ von Pearl Sydenstricker Buck ist eine Geschichte, die trotz ihrer Kürze alles sagt.

Die Protagonistin Mrs. Wang fürchtet nichts so sehr wie den Fluss, der ihrem Mann das Leben nahm.
Sie glaubt nur an das, was sie sieht, und so überrascht nicht, wie sie mit dem abgestürzten Piloten umgeht. Er ist verwundet, wirkt wie ein gewöhnlicher junger Mann, ist ein Mensch wie alle anderen – Japaner hin oder her.

Dass sich Mrs. Wang im Verlauf ihren eigentlichen Feind zum Verbündeten macht, bestätigt ihre praktische Veranlagung. Ich fand sie vorher schon mutig, aber durch ihre Entscheidung wird sie zur Heldin.

Der Kranz – Luigi Pirandello

Originaltitel: La Corona, 1907
Übersetzung: Karl Alfred Wolken

Inhalt

Doktor Cima ist ein 40-jähriger Mann, der wünschte, er wäre jünger. Er bewundert einen Park, den er gerne sein Eigen nennen würde, und hat eine Frau, die 18 Jahre jünger ist als er – und deren Herz er ebenfalls nicht zu besitzen scheint.

Meine Gedanken

Die Geschichte hat mich überrascht.

Die Hauptfigur ist ein 40-Jähriger, der gerne jünger wäre, mit einer Ehefrau, die gerade 22 ist. Wir lesen nur von einem kurzen Tagesausschnitt, aber es ist klar, dass er jeden Tag in ihr sieht, was er vermisst.

Doktor Cima trauert nicht nur um seine Jugend, er hätte auch gerne die Liebe seiner Gemahlin, deren Freund vor drei Jahren verstarb. Wie er durch einen Zufall erfährt, hat sie ihm heimlich einen Kranz bestellt, sie scheint ihn immer noch zu vermissen. Doktor Cima ist sauer – und entschließt sich, zu handeln.

Der Schreibstil ist adjektivlastig und detailreich. Es werden Fragen eingeworfen, die die Ratlosigkeit des Protagonisten zeigen. Die oft vertretenen Ausrufungszeichen verdeutlichen die starken Gefühle des Doktors.

Ich habe öfter mit anderen Reaktionen der Beteiligten gerechnet, deshalb konnte ich den Verlauf nicht voraussehen.

Ich glaube, dass man einiges deuten kann und es eine Botschaft gibt. Da ist die Tatsache, dass er seine Ehefrau zunächst nicht in den Park holen will. Und dann ist da der Kranz. Aber vor allem finde ich es bemerkenswert, dass dem Gärtner der Park gehört, um den er sich kümmert, und dass Doktor Cima mit seiner beherrschten Güte eine entsprechende Reaktion erhält. Für mich hängt das zusammen. Bisher konzentrierte er sich auf das, was ihm fehlte – und tat nichts. Letztlich stellt er fest: Wer etwas sät, wird etwas ernten.

Der Besserwisser – W. Somerset Maugham

Originaltitel: Mr. Know-All, 1924
Übersetzung: Friedrich Torberg

Inhalt

Der Ich-Erzähler hat es seiner Meinung nach nicht leicht: Er muss sich 14 Tage lang die Kabine mit einem gewissen Max Kaleda teilen. Sein Name stört ihn, die Tatsache, dass er anhänglich und ein Besserwisser ist, ist die Krönung. Ob der oberflächliche Blick trügerisch ist?

Meine Gedanken

Die Shortstory spielt kurz nach Kriegsende während einer Schiffsfahrt von San Francisco nach Yokohama.

Ich fand es lustig, wie oft William Somerset Maugham seinen Protagonisten betonen lässt, wie unsympathisch ihm sein Gegenüber ist. Und noch einmal. Und wieder. Er meint es ernst.
Das zugrunde liegende Verhalten ist allerdings alles andere als witzig. Mit seinen Vorurteilen fängt es an, und als er erfährt, dass Kaleda ebenfalls Engländer ist, sind es die Sachen und das Auftreten des Kaufmannes, die ihn stören. Er lässt es sich nicht nehmen, ihn im Kopf als „Levantiner“ (S. 35) zu bezeichnen. Es wird deutlich, dass der namenlose Erzähler rassistisch ist. Doch Kaleda, dessen Gepäck voller Hoteletiketten ist, was man durchaus interpretieren kann, ist gar nicht so schlimm wie gedacht: Mit Hilfe seiner Zuchtperlen-Kenntnisse überrascht der Besserwisser – und zwar nicht nur die Leser:innen.

Der letzte Satz zeigt erfreulicherweise eine gewisse Entwicklung auf Seiten des Erzählers.

Auf all den Wegen nach Eden – Truman Capote

Originaltitel: Among the Paths to Eden, 1960
Übersetzung: Kurt Oppermann-Kostra, Raymond G. May

Inhalt

Eine Frau, die auf dem Friedhof auf Männerfang geht, und ein Mann, der erst durch sie merkt, dass er doch etwas an seiner verstorbenen Sarah hatte.

Meine Gedanken

Wir haben hier einen 51-jähriger Witwer, dessen Ehefrau im letzten Herbst starb. Nun, im März, besucht er erstmals ihr Grab. Dabei trifft Mr. Ivor Belli auf Mary O‘Meaghan, die auf dem Friedhof in Queens hofft, einen Mann zu finden. Zunächst sieht es nicht allzu schlecht aus, doch letztlich bewirkt Mary etwas anderes: Ivor wird klar, dass Sarah nicht nur an ihm herumgemeckert hat, sondern auch ihre Vorzüge hatte. Außerdem reift in ihm ein Plan heran.

Dass er Sarah Narzissen gebracht hat, ist kein Zufall. Die Blumen stehen einerseits für das Erwachen, das Überwinden von Dunkelheit und Tod. Durch seine bisherige Verdrängung war er nicht in der Lage, ernsthaft nach vorne zu schauen, auch wenn er Sarah nicht vermisste.
Andererseits symbolisieren sie Eitelkeit („[…] zum Beispiel glaubte er, er wäre normaler als andere Menschen, und des weiteren hielt er sich für einen wandelnden Kompaß […]“ – S. 42). Auch Zurückweisung und die Unfähigkeit, Liebe für andere zu empfinden, werden mit Narzissen in Verbindung gebracht. Es trifft alles zu. Dass er anschließend über eine Orchidee nachdenkt, beweist für mich, dass ihn der Friedhofs-Besuch verändert hat.

Während Mary O‘Meaghan wahllos Ausschau hält, konkretisiert sich Ivor Bellis Ziel.

Da mir sowohl der Schreibstil von Truman Capote als auch der Interpretationsspielraum gefallen haben, ist das Buch „Baum der Nacht: Alle Erzählungen“ auf meine Wunschliste gewandert.

Kinder und alte Leute – Ivan Cankar

Übersetzung: Arnold von Engelbrechten

Inhalt

In „Kinder und alte Leute“ geht es um einen Mann, der im Krieg fällt – und um die Menschen, die zurückbleiben.

Meine Gedanken

Dies ist einer der kürzesten Beiträge innerhalb des Buches.

Für mich geht es in dieser Kurzgeschichte darum, dass Krieg Leid bringt – und wie verschieden die Generationen trauern.
Zunächst verfolgen wir ein Gespräch der vier Kinder. Sie sind zwischen vier und zehn, erzählen gerne und viel, aber eigentlich nur fröhliche Geschichten. Und welche ohne Ende. Nun werden sie allerdings mit einem konfrontiert: Mit dem des eigenen Vaters, der in Italien gefallen ist.
Sie sind traurig, aber es wird deutlich, dass die Kids nicht begreifen, was das für ihre Zukunft bedeutet.

Ganz anders ihre Mutter: Sie trauert leise und im Verborgenen um ihren Ehemann.

Und dann sind da die Großeltern der Kinder. Sie tragen es mit Fassung. Zwar halten sie sich an den Händen, sie weinen oder sprechen aber nicht.

Die Kinder suchen nach Gründen, versuchen, den Krieg zu verstehen. Die Alten sprechen nicht darüber, denn es gibt keine guten Gründe, es gibt nichts zu verstehen.

Alle sind traurig, auf ihre eigene Art und Weise. Je älter, desto mehr Begreifen und Akzeptanz sind da – und umso versteckter geht die Trauer vonstatten.

Eine Admiralsnacht – Joaquim Maria Machado de Assis

Originaltitel: Noite de Almirante, 1884
Übersetzung: Curt Meyer-Clason

Inhalt

Bevor der Matrose Deolindo zur See fährt, schwören er und seine 20-jährige Freundin Genoveva sich ihre Treue. Als er zehn Monate später wiederkommt, erwartet ihn nicht das, was er sich ausgemalt hat.

Meine Gedanken

Da sind so viel Zuversicht und Hoffnung in „Eine Admiralsnacht“ – aber sie werden zerstört.

Drei Monate waren Deolindo und Genoveva Geliebte, bevor er mehr als dreimal so lange aufs Schiff ging. Sie schworen sich Treue. „‚Sag’s richtig!‘“ (S. 53), forderte er sie auf, ehe sie es tat. Ein Vorzeichen? War ihm das Ganze von Beginn an ernster als ihr?

Er hielt sich an sein Versprechen. Seine Kollegen prophezeiten ihm die titelgebende Admiralsnacht – doch zu der kommt es nicht. Deolindo wird degradiert, denn Genoveva mag jetzt einen Stofftrödler.

Es geht um Erwartungen in dieser Geschichte, und zwar um enttäuschte. Und um die Moral in der Liebe.

Deolindo erträumt sich eine Fortsetzung ihrer Beziehung. Er ist stolz darauf, durchgehalten zu haben, will sie begrüßen mit: „Ich hab‘s geschworen und hab’s gehalten.“ (S. 53)
Man könnte fragen, ob Deolindo naiv ist. Oder ob er nur aufgrund seiner Moralvorstellungen seinen Schwur einhielt. Aber der Erzähler setzt alles daran, die „[…] zwanzigjährige Cabocla […]“ (S. 52) zweifelhaft darzustellen. Nicht nur die Tatsache, dass sie ihm untreu wurde, lässt sie schlecht aussehen, nein, sie tut zunächst, als wäre nichts geschehen. Ihr fehle „[…] jede ethische Voraussetzung.“ (S. 56) Auch die Bemerkungen der alten Inácia sind wirkungsvoll. Zudem fällt Genovevas Reaktion auf Deolindos Ankündigung reichlich lax aus.

Der Ausgang, das Schweigen des Matrosen, macht das Ganze noch trauriger.

Dadurch, dass der Ich-Erzähler zwischendrin der Leserschaft die Frage „Wie findet ihr das?“ (S. 56) stellt, denkt man stärker über das Geschehen nach und wird zum (Ver-) Urteilen verleitet.

Der Augsburger Kreidekreis – Berthold Brecht

1940

Inhalt

Eine Frau, die ihr Kind im Stich lässt. Eine andere, die es annimmt wie ihr eigenes. Und am Ende: der große Streit um den Jungen. Wer darf sich Mutter nennen? Wer darf ihn behalten?

Herr Zingli, Schweizer Protestant, bezahlt mit seinem Leben, als die Katholischen kommen. Seine Frau läuft weg – und lässt den Sohn zurück. Die Magd versteckt sich – und als sie Frau Zingli mitteilen will, dass das Kind noch lebt, diese sich aber verleugnen lässt, nimmt sie es an sich. Sie bringt sich und den Jungen bei ihrem Bruder unter, umsorgt ihn, trifft Entscheidungen, um deutlich zu machen, dass es sich um ihren Sohn handelt. Als Frau Zingli nach Kriegsende ihr Kind wiederhaben will, kämpft Anna.

Meine Gedanken

„Der Augsburger Kreidekreis“ spielt in Augsburg am Lech – und zwar während des Dreißigjährigen Krieges, ohne den die interessante Kurzgeschichte in dieser Form nicht möglich gewesen wäre.

Es geht darum, wer bloß an sich denkt – und wer nicht. Es wird deutlich, dass es nicht zwingend die bessere Entscheidung ist, der leiblichen Mutter das Kind zuzusprechen. Mutterliebe kann unabhängig von der Tatsache existieren, wer das Kind auf die Welt gebracht hat.

Die Frage, ob Frau Zingli ein ehrliches Interesse an dem Kind hat, darf bezweifelt werden. Um was geht es ihr in den entscheidenden Situationen? Als die Gegner kommen, beschäftigt sie sich mit den Sachen, die sie sichern will – das Kind ist sich selbst überlassen. Im Kreidekreis verhält sie sich rücksichtslos. Worum geht es ihr? Um das Erbe, das dem Jungen zufällt? Jedenfalls eher als um das Kindeswohl.

Anna verhält sich zunächst „[…] wie eine Person mit schlechtem Gewissen, eine Diebin.“ (S. 61) Später setzt sie alles daran, überzeugend darzustellen, dass es sich um ihr eigenes Kind handelt. Ich konnte die Entwicklung nachvollziehen und bin mit dem Ausgang zufrieden.

„Der Augsburger Kreidekreis“ hat mir von allen Kurzgeschichten des ersten Bandes mit am besten gefallen. Die Erzählung findet sich auch in dem Buch „Kalendergeschichten“, das ich demnächst lesen möchte.

Die Perle – Yukio Mishima

Originaltitel: Shinju, 1963
Übersetzung: Ulla Hengst

Inhalt

Eine verschwundene Perle sorgt für einige Veränderungen zwischen fünf Frauen:

Frau Sasaki lädt zu ihrem Geburtstag vier Damen ein. Die Perle ihres Rings löst sich, sie lässt sie auf der Kuchentafel liegen, um kein Aufsehen zu erregen. Als sie sie wieder einsammeln will, ist die Perle verschwunden. Wer hat sie genommen?
Frau Azuma behauptet, sie für ein Zuckerkügelchen gehalten und verspeist zu haben. Eine Lüge, wie sich herausstellt; eine von vielen.

Meinung

Die Geschichte war unterhaltsam, insbesondere, weil sich die Situation ständig ändert und man nie sicher sein kann, ob die Wahrheit gesprochen wird. Dass wir die Story aus wechselnden Perspektiven verfolgen und jede der Frauen anders handelt, um unschuldig dazustehen, macht sie extra interessant.

In „Die Perle“ zeigt sich, dass Vorurteile zu falschen Beschuldigungen führen und dass wir oft erst im Ausnahmezustand erfahren, wie andere uns sehen.
Es geht um Schuldzuweisungen und darum, selbst gut auszusehen.
Aber es geht auch darum, dass man Dinge klären kann, wenn offen gesprochen wird.

Als ich nach dem Originaltitel suchte, las ich von Parallelen zum Angriff auf Pearl Harbor. Auch dahingehend lässt sich die Kurzgeschichte offenbar deuten. Allerdings nicht von mir.

Der Mann, der Wunder tun konnte – H. G. Wells

Originaltitel: The Man Who Could Work Miracles, 1898
Übersetzung: Lena Neumann

Inhalt

George McWhirter Fotheringay glaubt nicht an Wunder – bis er selbst welche vollbringt.

Meine Gedanken

Herbert George Wells hat eine im November 1896 spielende Geschichte zum Thema „Sei vorsichtig mit deinen Wünschen, sie könnten in Erfüllung gehen“ geschrieben. Denn nicht alles, was die Hauptfigur mit seiner Gabe anstellt, ist positiver Natur. Es geht darum, verantwortungsbewusst zu handeln. Immer mehr zu wollen, ohne genau darüber nachzudenken, kann gefährlich sein. Und immer das zu kriegen, was man will, auch.

Der Protagonist ist sympathisch. Er sorgt sich um den einen Punkt, den er selbst verbockt hat, und holt sich deshalb Hilfe – allerdings keine gute. Zu dem großen Knall hat er sich anstiften lassen.

Die Tatsache, dass sich George McWhirter Fotheringay ausgerechnet den Polizisten in seiner Wut wegwünscht („Fahren Sie zum Hades!“ – S. 89), ist von Bedeutung. Sie zeigt für mich in Verbindung mit dem Verlauf und Ende, dass er erkennt, dass es doch gut, die Ordnung so zu belassen, wie sie ist.

„Der Mann, der Wunder tun konnte“ ist eine Kurzgeschichte, die man als eine Mischung aus Fantasy, Science Fiction und Humor sehen kann.

Ich fand‘s teilweise ein bisschen langgezogen, aber insgesamt unterhaltsam.

Wanjka – Anton Tschechow

Originaltitel: Ванька/Vanka, 1886
Übersetzung: J. Treumann

Inhalt

Ein kleiner Waisenjunge voller Hoffnung, die die Leser:innen nicht mit ihm teilen können.

Meine Gedanken

Wie traurig diese sehr kurze Geschichte ist!

Iwan „Wanjka“ Schukow ist neun Jahre alt und Waise. Seit drei Monaten lernt er beim Schuster Aljachin, wo er von allen schlecht behandelt wird. Am Christfest schreibt er einen Brief an seinen Großvater, fleht ihn an, ihn aus Moskau zu sich zu holen. Seine Hoffnung tröstet ihn. Doch ich kann sie nicht teilen.

Der Text zeigt, dass Hoffnung Trost spendet. Für Happy-End-Fans ist er in meinen Augen allerdings nichts: Ich bin zu realistisch, um mir hier ein Weihnachtswunder einzureden. Mir wird die Kurzgeschichte als schmerzlich in Erinnerung bleiben.

Der Kupferstich – Montague Rhodes James

Originaltitel: The Mezzotint, 1904
Übersetzung: Otto Knörrich

Inhalt

Mr. Williams ist Vorsteher eines Kunstmuseums, das eine Sammlung topographischer Zeichnungen und Stiche aus England sein Eigen nennt. Als der neue Katalog des geschätzten Händlers J. W. Britnell mit dem Verweis auf Nummer 978 eintrifft, findet Williams nichts Besonderes an dem Kupferstich. Der Künstler ist unbekannt. Wieso ist das Werk so teuer? Welchen Herrensitz zeigt es? Williams bestellt es zur Ansicht, recherchiert – und stößt auf eine schlimme Geschichte.

Meine Gedanken

M. R. James gilt vor allem als Autor von Geistergeschichten – und „Der Kupferstich“ gehört dazu. Die Vorkommnisse erscheinen unerklärlich, übernatürlich und unheimlich, die Story darf dem Horror-Genre zugeordnet werden. Nicht dass ich mich gegruselt hätte, aber die Aufregung des Dieners ist nachvollziehbar.

Wir haben hier einen Kupferstich, den Mr. Williams zunächst für mittelmäßig hält. Als er andere nach deren Meinung fragt, gewinnt er an Ansehen. Und als sich das Bild verändert, wird die Angelegenheit spannend.

Mir hat der Schreibstil gefallen. Die Lesenden werden gesiezt, der Erzähler outet sich als Autor, der die Vorfälle von Dennistoun, einem gemeinsamen Freund von ihm und dem Protagonisten, erzählt bekam. Es macht alles einen persönlichen Eindruck.
Durch die Vorwegnahmen war ich gespannt auf das Folgende.
Dadurch, dass die Beteiligten (bis auf den Diener) gelassen mit den Entdeckungen umgehen, wirkt die Sache noch mysteriöser.

Leider hat mich das Ende ein wenig enttäuscht.

Die Kurzgeschichte erschien auch unter dem Titel „Die Mezzotinto-Radierung“.

Im offenen Boot – Stephen Crane

Originaltitel: The Open Boat, 1897
Übersetzung: Elisabeth Schnack

Inhalt

Vier Männer, ein Beiboot – und viele gefährliche Wellen.

Meine Gedanken

„Im offenen Boot“, auch „Das offene Boot“, ist eine mitreißende Kurzgeschichte von Stephen Crane. Es geht um einen Überlebenskampf von vier Männern, die Schiffbruch erlitten haben. Den Kampf um die Wellen teilen sich der Koch, der Maschinist Billie, der Berichterstatter und der verwundete Kapitän. Der Maschinist ist der einzige, von dem wir den Namen erfahren.

Dass die Figuren so unterschiedlich sind, wird kein Zufall sein. In meinen Augen symbolisiert es etwas, dass der Koch kindlich rüberkommt (z.B. beim Wortwechsel über etwaige Mannschaften in Schutzhütten (S. 118) oder bei seiner munteren Erwiderung „All right, Käptn!“ – S. 121), Billie der stärkste Arbeiter, und der Berichterstatter nachdenklich ist. Der Kapitän übernimmt immer wieder die Führung. Sie repräsentieren die Stellungen in der Gesellschaft.

Wir erleben eine Vielzahl von schnell wechselnden Stimmungen, wobei sich die Gefühle nie gegeneinander richten. Der Zusammenhalt innerhalb der Gruppe auf dem Boot ist stark. Aus einzelnen Bemerkungen und Gedanken sind Hoffnung und Entschlossenheit, aber auch Verzweiflung, Wut und Trauer herauszulesen. Es ist auffällig, wie sehr man sich von der Zuversicht der anderen beeinflussen lässt: Wenn Zweifel aufkommen, werden sie übernommen, sobald neuer Optimismus aufkeimt, wird dieser angenommen. Die Männer sind zäh und willens, an Land zu kommen.

Für mich macht der Berichterstatter die größte Entwicklung durch. Er stellt sich dem Hai allein entgegen, ist plötzlich in der Lage, Mitleid zu empfinden, wenn er an eine Situation zurückdenkt, die ihn zuvor nicht berührte. Er erkennt die Gleichgültigkeit der Natur. Außerdem hätte er sich seinem Schicksal ergeben, wäre er nicht aus seiner Akzeptanz herausgerissen worden. Seine Dankbarkeit gilt nicht nur der Rettung, sondern auch den neuen Einsichten.

Die Geschichte stellt einen Kampf dar zwischen den Menschen und der undurchschaubaren Natur. Die Angelegenheit ist nicht fair, aber solange die Männer zusammenhalten, halten sie der Gewalt stand. Als es an Land geht, manche vorausschwimmen, an sich denken, die eigene Stärke nur für sich einsetzen, wendet sich das Blatt. Für mich enthält der Ausgang eine Botschaft.

Hautot, Vater und Sohn – Guy de Maupassant

Originaltitel: Hautot père et fils, 1889
Übersetzung: N. O. Scarpi

Inhalt

Als sich Vater Hautot, halb Bauer, halb Gutsherr, beim Jagen lebensgefährlich verletzt, erfährt der Sohn sein seit sechs Jahren gut gehütetes Geheimnis.

Meine Gedanken

Zu dieser Geschichte werde ich wenig schreiben, weil meiner Meinung nach schnell zu viel verraten ist. Ich war überrascht, was der im Sterben liegende Vater seinem 24-jährigen Sohn César anvertraut – und das möchte ich niemandem nehmen.

Fakt ist: Der Sohn erbt – und zwar wirklich alles, was der Vater hatte.

Ich lese es als Zeichen, dass der Vater den Sohn nach drei Jahren aus der Schule nahm „[…] aus Angst, sein Sohn könnte ein Herr werden, dem der Ackerboden gleichgültig wäre.“ (S. 136) Er wollte nicht, dass sein Erbe „was Besseres“ wird, er wollte, dass er das Leben, das er lebte, fortführt – und das tut er letzten Endes auch. Der Ausgang ist zwar offen, ich kann mir aber vorstellen, wie es weitergeht, weil die offensichtliche Lösung zu den Charakteren und ihrem Verhalten allzu gut passt.

Ich mochte die Geschichte; eine Sammlung der Novellen von Guy de Maupassant steht ab sofort auf meiner Wunschliste.

An dir gab’s gar nichts auszusetzen – Dorothy Parker

Originaltitel: You Were Perfectly Fine, 1929
Übersetzung: Dietlind Vetter

Inhalt

Ein junger Mann und eine junge Frau. Ein Filmriss. Und die Folgen.

Meine Gedanken

„An dir gab’s gar nichts auszusetzen“ besteht aus einem Dialog zwischen einer Frau, die alles herunterspielt, was der Mann, Peter, sich am Vorabend betrunken geleistet hat, und ihm, dem die Erinnerungen fehlen. Da wir alles aus dem Gespräch erfahren, müssen wir uns darauf verlassen, dass die einzige Person, die keine Wissenslücken hat, die Wahrheit sagt. Und das fällt schwer, denn das, was sie preisgibt und abtut, ist nicht ohne (Stichwort Elinor). Dass es an ihm nichts auszusetzen gab, ist eine maßlose Beschönigung.

Es liest sich amüsant, wie lässig die namenlose Frau alles sieht, während Peter besorgt ist – zu Recht. Er hat sich nicht nur mies benommen, er hat auch sein Schicksal besiegelt, denn ihr „Als ob ich dich jetzt noch irgendwohin gehen ließe!“ von Seite 152 klingt besitzergreifend.

Wie glaubhaft sind ihre Aussagen? Ich kann mir drei Szenarien vorstellen:

  • Sie ist blind vor Liebe, sieht durch ihre rosarote Brille automatisch über alles hinweg, spielt es nicht aus böser Absicht herunter. In diesem Fall könnten aus dem zitierten Satz ihre überbordenden Gefühle sprechen. Dass er seine Worte nicht gemeint haben könnte, zieht sie nicht in Betracht.
  • Sie beschönigt alles, um (sich und) ihn zu überzeugen, dass er das Gesagte ernst meinte. Sie muss es so darstellen, dass er sich nicht schlimm aufgeführt hat, immer noch er selbst war, um eventuelle Zweifel an seinem Bekenntnis im Keim zu ersticken.
  • Die Sache im Taxi hat nicht stattgefunden. Sie hat sie erfunden, weil sie so gerne möchte, dass er ihre Gefühle erwidert. Sie hat Vorteile, wenn er in dem betrunkenen und hinterher erinnerungslosen Zustand ist, und verteidigt deshalb sein Verhalten, damit er keine Scheu verspürt, es zu wiederholen. Direkt zu Beginn fragt sie auf Seite 149: „‚Ob dir wohl was zu trinken wieder auf die Beine hilft?‘“ Sie hat nichts gegen den berauschten Peter, ganz und gar nicht. Sie brauchten Dritte, um sich ihre (vermeintlichen?) Gefühle zu gestehen (den Alkohol, das Taxi, das „‚Immerzu um den Park herum’“ (S. 151) fuhr – wieso tat es das? Stellt diese Beschreibung das sich-im-Kreis-Drehen, das sie vorher hatten und aus dem sie nicht herauskamen, dar?).

Wie ernst er die Worte, so sie denn gesprochen wurden, meinte, ist eine Frage, die mich beschäftigt. Einerseits klärt er die Situation nicht auf, möglicherweise weil er ihre Gefühle nicht verletzen will. Andererseits könnte er schüchtern sein, brauchte den Rausch, um sich zu offenbaren – und weiß nun nicht, wie er den nächsten Schritt geht.

Sein Kopfschütteln könnte bedeuten, dass er es alles nicht wahrhaben will.

Ich tendiere dazu, dass er sie nicht liebt.

Dass sie die guten Neuigkeiten für sich behalten möchte, könnte dafür sprechen, dass sie Angst vor Zweifeln von außen hat. Da er sich – im Gegensatz zu ihr – komplett verunsichert gibt und als vorübergehenden Ausweg den völlig falschen aussucht, sehe ich wenig Hoffnung für den Fall, dass er aus der Nummer rauskommen will.

Sie küsst ihn – auf die Stirn. Das kann etwas Beschützerisches bedeuten, „Ich passe auf dich auf“, bei den beiden wirkt es fast wie eine Mutter, die ihr Kind küsst. Ein Zeichen, dass er von ihr abhängig ist, sie ihn in der Hand hat?

Obwohl – oder gerade weil – die Story derart offen ist, hat sie mir gefallen. Sie lässt sich einfach weglesen und die grenzenlosen Verharmlosungen bringen etwas Lustiges rein in diese sonst wenig witzige Geschichte, denn Peter scheint ein Alkoholiker – und mehr oder minder ausgeliefert zu sein. Dadurch, dass wir nicht aufgeklärt werden, habe ich noch lange über „An dir gab’s gar nichts auszusetzen“ nachgedacht.

Eine Frau im Busch – Henry Lawson

Originaltitel: The Drover’s Wife, 1892
Übersetzung: Frank Auerbach

Inhalt

Als eines ihrer Kinder eine Schlange entdeckt, handelt die Mutter: Sie nimmt ihre Sprösslinge und den Hund, verbarrikadiert sich, behält die ganze Nacht hindurch alles im Blick. Es ist beunruhigend, denn der Sohn ihres Schwagers starb kürzlich an einem Biss. Aber letztlich ist es nur ein weiteres Mal, bei dem die Frau im Busch auf sich gestellt ist und ihre Familie sowie ihr Heim verteidigt.

Meine Gedanken

Wow, da wurde eine starke Protagonistin erschaffen! Die namenlose Frau lebt fernab der Zivilisation – bis dahin sind es 19 Meilen. Ihr Mann ist seit einem halben Jahr als Viehtreiber mit seinen Schafen unterwegs, sie kämpft gegen die Unwägbarkeiten des Lebens mit vier kleinen Kindern, der Älteste ist elf, im Busch.

Die Schlagen-Situation ist eine Herausforderung. Es ist nachvollziehbar, dass sie besorgt ist und Vorkehrungen trifft, wenn man bedenkt, dass sie im Verwandtenkreis einen Todesfall zu beklagen hat. Dennoch handelt sie besonnen. Sie ist eine unfassbar starke Frau. Die Erinnerungen an vergangene Ereignisse, die andere aus der Bahn geworfen hätten, über die sie inzwischen lachen kann, sind beeindruckend. Sie gewinnt nicht jeden Kampf, übersteht aber alles: An die Einsamkeit hat sie sich gewöhnt, mit ihrem Ehemann, von dem ich herauslesen konnte, dass er manchmal zu wünschen übrig lässt, ist sie nachsichtig. Sie ist selbstlos, was bei der Flut-Schilderung deutlich wird, aber nicht ohne Träume und Hoffnungen (darauf deuten die Zeitschrift und die sonntäglichen Spaziergänge hin).

Es gibt einige Dinge, die man interpretieren kann, beispielsweise die schwarze Schlange (ernste Bedrohung aus der Natur) oder die Hose des Mannes, die sie trägt, um das Feuer zu löschen (weil es eine „Männerarbeit“ ist).

Der Moment am Ende, als der Sohn die Situation vollständig erfasst und seine eigenen Schlüsse zieht, ist berührend.

„Eine Frau im Busch“ ist eine gelungene Kurzgeschichte, die auch unter dem Namen „Die Frau des Viehtreibers“ erschienen ist.

Das Erlebnis des Marschalls von Bassompierre – Hugo von Hofmannsthal

1900

Inhalt

Eine junge Frau, die einen Mann hat, sich aber dennoch für den Marschall von Bassompierre interessiert, erwartet ihn stets an einer kleinen Brücke. Sie spricht ihn an, schaut ihm nach. Schließlich verabreden sie sich. Ein zweites Treffen wird ausgemacht – doch dazu kommt es nicht.

Meine Gedanken

Der Protagonist und Ich-Erzähler, der Marschall von Bassompierre, ist nach der ersten Nacht Feuer und Flamme für seine etwa 20-jährige Geliebte. Sie trennen sich freitags und wollen sich bereits am Sonntagabend bei ihrer Tante wiedersehen. Trotzdem ist ihm die Zwischenzeit zu lang, er geht vorher zu ihrem Laden an der Brücke, ohne sie zu finden. Der Laden ist verschlossen, er kann jedoch einen Mann ausmachen. Hier erwartet die Leserschaft ein Zeichen, das in den späteren Sätzen seine unheilvolle Bedeutung entlarvt, denn der Krämer betrachtet seine Nägel im Schein der Kerze.

Es wird deutlich, dass die Hauptfigur nicht an die Pest glaubt/glauben will, egal was andere sagen oder er mit eigenen Augen sieht. Er macht sich über den Kanonikus von Chandieu lustig, der besorgt mit der Situation umgeht, bezeichnet Gespräche über dieses Thema als die „[…] albernsten und widerwärtigsten[…]“ (S. 168).

Auch die Dämmerung nennt er widerwärtig. Hugo von Hofmannsthal verwendet oft die verhängnisvolle Dunkelheit als Symbol.
Andererseits nutzt der Autor häufig Feuer in dieser Kurzgeschichte, egal ob bei der ersten Verabredung, um den Raum und die Stimmung aufzuheizen, oder um die Vereinigung und Leidenschaft der beiden darzustellen. Auch später, wenn alle Hoffnungen des Marschalls in Flammen aufgehen, spielt es eine Rolle.

Der Apfel, der mehr als einmal auftaucht, lässt sich ebenfalls interpretieren.

Ich fand „Das Erlebnis des Marschalls von Bassompierre“ tragisch und mitreißend.

Maria Concepcion – Katherine Anne Porter

1922
Übersetzung: Joachim Uhlmann

Inhalt

Mexiko. Maria Concepcion Manriquez und Juan de Dios Villegas, beide etwas über 18, sind verheiratet, Maria Concepcion erwartet ihr erstes Kind. Als sie entdeckt, dass ihr Mann etwas mit der 15-jährigen Imkerin Maria Rosa hat, keimt Wut in ihr auf.

Meine Gedanken

Maria Concepcion ist eine interessante Protagonistin. Sie, die die Empfängnis im Namen trägt, ist stolz und religiös, verdient Geld, zahlt die kirchliche Trauung aus eigener Tasche.
Scheinbar mitleidslos trägt sie Hühner in ihr Schicksal, tötet sie gleichgültig. Auch andere Ereignisse steckt sie nach außen hin einfach weg, „Sie ist aus Stein“, befindet die Medizinfrau Lupe auf Seite 177. Doch die Wahrheit ist eine andere – und die bricht sich später Bahn.

Es war schlimm zu lesen, was ihr widerfährt. Von Juan, der den Don Juan, den Schürzenjäger, darstellt, schon öfter hintergangen, wird sie nun von ihm verlassen. Er geht für Monate weg. Gezwungenermaßen schlägt sie sich durchs Leben, während er mit seiner neuen Maria an anderer Front kämpft.
Maria Concepcion verändert sich. Wächst. Als Juan zurückkehrt, widersetzt sie sich seinem Verhalten – und trifft eine folgenschwere Entscheidung. Schlagartig sieht er sie mit anderen Augen, respektiert sie. Sein bisheriges Leben ist vorbei, die Seite von ihm, die Maria Rosa darstellte, die Leidenschaft, ist mit ihr verloren. Der Satz „Nicht ein Funken von Erregung war noch in ihm.“ von S. 190 lässt sich durchaus auch darauf beziehen.

Dass sich am Ende die Seiten umkehren, Juan Villegas derjenige ist, der nach außen die Fassung behält, sich aber innerlich mit schlechten Gedanken herumschlagen und in eine Rolle drängen lassen muss, die er nicht will, erscheint gerecht.
Es wird herausgestellt, dass er untreu und nichtsnutzig ist, zu kriminellen Machenschaften neigt und doch wie ein Gockel herumstolziert. Im Grunde ist er jemand, der ständig gerettet wird: finanziell von seiner Ehefrau, körperlich von seiner Geliebten, den Einfluss betreffend von seinem Chef Givens.

Interessant ist, dass Maria Concepcion die Dorfgemeinschaft zunächst auf Abstand hält, später aber erkennt, dass sie ihren „[…] treuen Freunden“ (S. 189) vertrauen kann. Deren Verhalten lässt sich damit begründen, dass sie die Ehe über die Liebschaft stellen. Das kündigt sich schon vorher an: „‚Alle Frauen haben diese Sorgen. Nun also, wir sollten das Leid gemeinsam tragen.‘“ (S. 178)

„Maria Concepcion“ ist eine Story, die mich gepackt hat.

Der Statthalter von Judäa – Anatole France

Originaltitel: Le Procurateur de Judée, 1902
Übersetzung: Otto M. Mittler

Inhalt

Älius Lamia führte ein ausschweifendes Leben, bis er eine Anklage wegen sträflicher Beziehungen bekam und mit 24 für 18 Jahre in die Verbannung geschickt wurde. Anschließend lebte er zurückgezogen.
Nun, mit 62, leidet er an Rheumatismus, weshalb er zu den Bädern von Bajä geht. Hier trifft er Pontius Pilatus, den er vor 30 Jahren in Judäa kennen lernte. Lamia und der an Gicht Leidende schwelgen in Erinnerungen. Nur an eine bestimmte Person will sich Pontius Pilatus nicht erinnern können.

Meine Gedanken

Ich habe diese Geschichte des Nobelpreisträgers für Literatur (1921) gelesen, sie sprach mich aber thematisch nicht an und fesselte mich nicht.

Das Ende ist ohne Zweifel ein Paukenschlag, allerdings war es bis dahin ein langer Weg.

Ich denke, es geht hier um Entscheidungen und Erinnerungen. Manche unserer Entscheidungen erscheinen uns so gewöhnlich, dass wir sie wie nebenbei treffen, um sie dann gänzlich zu vergessen – ohne zu erkennen, dass sie eine potenziell alles verändernde Bedeutung haben.
Für mich geht es darum, dass wir den wichtigen Dingen manchmal nicht genügend Gewicht verleihen. So können selbst Teile der Menschheitsgeschichte an einem vorbeigehen.

Der schwarze See – Marie Luise Kaschnitz

1960

Inhalt

Früher fanden die Bewohner der Seeufer den Albaner See gruselig. Als die Fremden kamen, die Urlauber, verlor sich die Dämonie des Ortes. Doch sie kehrt zurück.

Meine Gedanken

Bevor die erzählende Person die Geschichte um den Wirt Antonio beginnt, erklärt sie uns, dass in diesem Sommer der Albaner See rot verfärbt ist, „[…] rot wie Blut.“ (S. 202) Mit dieser Einleitung wird eine gewisse Stimmung erzeugt, die im Verlauf weiter vertieft wird. So schildert sie uns die Dämonie des Ortes, die durch die Urlauber abgelöst wurde. In diesen Zeiten, in denen der Blick auf den See friedlicher war, entstand ein Bootsverleih – und ein Restaurant, das auch über den Seeweg erreichbar war. Antonio und seine Frau Rita betrieben das Lokal, alles lief bestens – bis ihr kleiner Sohn und seine Spielkameraden eine schaurige Entdeckung machten. Fortan blieben die Gäste fern.

Die Person, die aus der Ich-Perspektive die Kurzgeschichte erzählt, war im August selbst einmal zu Gast dort – und bekam mit, wie Antonio eine Vorladung vor Gericht erhielt.
Die Geschehnisse nehmen ihren Lauf. Am Ende heißt es: „Ich glaube vielmehr, daß es auf unserer von der Technik beherrschten Erde und mitten zwischen den lauten Ansiedlungen der Menschen immer noch Orte gibt, die den Geistern gehören.“ (S. 210)

Tja. Was will mir die Kurzgeschichte sagen? Will sie dazu ermutigen, an Orte, die unerklärlichen Mächten ausgeliefert sind, zu glauben? Will sie die Frage aufwerfen, ob es unausweichlich war, so kommen musste? Und ist nun, nach dem zweiten Mal, alles vorbei? Sind zwei Opfer tatsächlich genug?
Vermutlich will sie einfach unterhalten und eine gewisse Atmosphäre vermitteln.

Ich habe überlegt, welche Bedeutung das Kopflose hat. Ob es initiieren soll, dass die junge Frau unüberlegt handelte, weil sie sich in falscher Sicherheit wiegte und nicht an die Dämonie glaubte? Soll es auf einen Täterkreis (und ich meine nicht Metzger) hinweisen?

Die Geschichte ließ sich flott lesen, hat mir aber nicht viel gegeben.

Der Kater und die Kaffeetrinker – Max Steele

Originaltitel: The Cat and the Coffee Drinkers, 1969
Übersetzung: Eva Rottenberg

Inhalt

Effie Barr unterrichtet zwölf 5-Jährige in ihrem Haus. Sie führt keinen gewöhnlichen Kindergarten, sie bringt den Kleinen Manieren bei, lässt sie Kaffee trinken, den Boden kehren, die Fenster putzen und vorlesen. Als ihr Kater Mr. Thomas schwer verletzt wird, nutzt sie die Gelegenheit, um den Kindern auch darüber etwas beizubringen.

Meine Gedanken

Man neigt dazu, sich aufzuregen: Wieso müssen die Kinder Kaffee trinken? Weshalb ist es ihr Ziel, dass alle ihren Kaffee schwarz trinken? Warum tut sie ihnen das Leid des Tieres an? Was für ein Irrsinn! Aber am Ende versteht man:
Es geht darum, dass Effie Barr den Kindern „das echte Leben“ zeigt. Sie behandelt sie wie Erwachsene, führt sie an die Aufgaben und Routinen des Alltags heran, bringt ihnen Manieren und das Lesen bei. Als Miß Effie den grauen Kater in seinem hoffnungslosen Zustand vorfindet, lässt sie die Kids teilhaben – weil der Tod zum Leben gehört. In diesem Punkt ist sie im Grunde genommen mutig und ein Vorbild. Erwachsene neigen dazu, die schlimmen Dinge vor Kindern zu verheimlichen. Wem tun sie damit einen Gefallen? Sich selbst oder dem Nachwuchs?

Miß Effie stichelt mehr als einmal leise und unauffällig gegen die Eltern. Sie ist nicht einverstanden mit deren Art, aber zu höflich, um auf Konfrontation zu gehen.

Effie Barr mit ihrem grauen Haus, der dunklen Kleidung, dem schwarzen Kaffee und ihrer emotionslosen Miene, die „[…] ‚den ersten Hauch Frühling’ […]“ (S. 221 ) abschneiden lässt, steht komplett für den Ernst des Lebens, den sie ihren Schützlingen vermittelt.

Die über 70-Jährige meint nichts von dem, was sie tut, böse. Die Blütenzweige treiben unter ihrer Obhut aus, die Farne und Narzissen kriegen Knospen – und in den Kindern sprießt unter ihrer Leitung ebenfalls etwas, das sie in die Welt mitnehmen.

Der Ich-Erzähler bleibt namenlos. Es wird deutlich, dass er schüchtern ist („Weil ich nicht laut genug sprach, mußte ich meinen Namen dreimal sagen.“ – S. 217) und feinfühlig, denn nicht jeder in dem Alter hätte den Moment am Ende so erfasst. Aber genau dieser sorgt dafür, dass die Kurzgeschichte berührt.
Als er über den Namen spricht, den die Jungen überzeugend auszusprechen übten, um sich gegenüber Fremden bedeckt zu halten, sagt er: „[…] ein Name, den ich heute noch mit größerer Sicherheit angeben kann als meinen eigenen.“ (S. 218) Ich lese das so, dass sein Wesen sich nicht verändert, ihre rabiate Art ihm nicht geschadet, er aber einiges dazugelernt hat, das er nie vergessen wird. Miß Effie hat ihn geprägt. Ich denke, dass er sich mit ihrer Herangehensweise eher identifizieren kann als mit der von „gewöhnlichen Erwachsenen“.

Ich habe noch viel über „Der Kater und die Kaffeetrinker“ nachgedacht, die Story von Max Steele hallt nach.

Gott sieht die Wahrheit, sagt sie aber nicht sogleich – Leo Tolstoi

Originaltitel: Bog pravdu vidit, da ne skoro skazhet, 1872
Übersetzung: Xaver Schaffgotsch

Inhalt

Trotz des Alptraums seiner Frau macht sich der junge Kaufmann Aksjonow aus Wladimir auf den Weg zur großen Messe in Nischnij-Nowgorod. Er trifft einen Bekannten, sie essen zusammen, nehmen sich zwei benachbarte Zimmer. Als Aksjonow am nächsten Tag vom Landrichter verhört und anschließend festgenommen wird, fällt er aus allen Wolken: Er soll den anderen Kaufmann ermordet haben. Er weiß von nichts, doch die Indizien sprechen gegen ihn.

Meine Gedanken

„Gott sieht die Wahrheit, sagt sie aber nicht sogleich“ ist eine Kurzgeschichte von Leo Tolstoi (bzw. Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi).

Wir haben hier einen Protagonisten, der verhaftet, ausgepeitscht und nach Sibirien geschickt wird für ein Verbrechen, das er nicht begangen hat. Als selbst seine Frau ihm die alles entscheidende Frage stellt, kapselt er sich gedanklich von ihr ab. Auch sie lässt nichts mehr von sich und den Kindern hören. Er flüchtet sich in Gebete. „Die Wahrheit kann offenbar kein Mensch kennen, nur Gott allein sieht sie, an ihn muß ich mich wenden.“ (S. 226) War er zunächst ein erfolgreicher Kaufmann, der ein Haus und zwei Läden besaß, wird ihm nun bewusst, dass es darauf ebenso wenig ankommt wie auf die Menschen. Sein einziges Ziel wird Gottes Barmherzigkeit.

Eines Tages stößt ein neuer Gefangener zur Truppe. Aksjonow hat sich eingelebt, in sein Schicksal ergeben. Doch die Wahrheit will gehört werden – und sie kommt mit Makar aus Wladimir.

Es ist eine traurige Geschichte über Schuld, Gerechtigkeit, Akzeptanz und Vergebung, die auch unter den Titeln „Ein Verbannter“ und „Gottes Mühlen mahlen langsam“ erschien.

Das Ende könnte einerseits verdeutlichen, dass Gott tatsächlich über der schnell urteilenden Justiz steht, die schon einmal versagte, und die letztendliche Entscheidung trifft.
Andererseits glaube ich, dass Aksjonows „Gott mag dir verzeihen!“ (S. 231) eine entscheidende Rolle spielt. Danach, so heißt es im Text auf derselben Seite, „[…] wurde es ihm ganz leicht ums Herz, und alle Sehnsucht nach seiner Heimat war wie weggeblasen; er wollte nirgends mehr hingehen, und er dachte an gar nichts anderes mehr als an seine letzte Stunde.“ Er hat sich befreit. Und so darf er heimkehren – zu Gott.

Die offene Tür – Saki (H. H. Munro)

Originaltitel: The Open Window, 1911
Übersetzung: Günter Eichel

Inhalt

Eigentlich soll sich Framton Nuttel restlose Ruhe gönnen in dem ländlichen Örtchen, das er als sein Reiseziel auserkoren hat. Doch ein Brief, den seine Schwester, die vor vier Jahren im hiesigen Pfarrhaus wohnte, ihn an Mrs. Sappleton aushändigen lässt, führt ihn direkt in ein Geistermärchen.

Meine Gedanken

Das war witzig!

Weil Mrs. Sappleton, die Adressatin des Briefes, sich verspätet, plaudert Framton Nuttel nichtsahnend mit der 15-jährigen Vera. Vera ist die Nichte von Mrs. Sappleton – und erzählt von einer Tragödie, die sich auf den Tag genau vor drei Jahren abgespielt haben soll.
Als Mrs. Sappleton erscheint und die Ereignisse ihren Lauf nehmen, war es das mit der nervlichen Ausspannung für Framton Nuttel. Die Leserschaft hat hingegen einen anderen Eindruck des Ganzen – insbesondere durch die abschließenden Absätze, von denen Framton Nuttel nichts mehr mitkriegt, weil er längst über alle Berge ist.

Geschickt beschreibt der Autor zunächst Nuttel als nervliches Wrack, ohne dass wir uns ernstlich um ihn sorgen. Dann fällt der Fokus auf die Tante – die arme Seele, die immer noch an ihren Hoffnungen festhält. Und abschließend kriegt Vera die Aufmerksamkeit, nach der sie sich sehnt.

Die Geschichte ist sehr kurz, macht aber wirklich Spaß.

„Die Rumpelkammer“ mit 22 Kurzgeschichten von Hector Hugh Munro/Saki wird nicht mehr lange vor mir sicher sein.

Ein Brief an Gott – Gregorio Lopez y Fuentes

Originaltitel: Una carta a Dios, 1940
Übersetzung: Ulla H. de Herrera

Inhalt

Erst fällt viel zu lange kein Regen, dann gibt es die ersehnten Tropfen – die jedoch in einen einstündigen Hagelschauer umschlagen und die bisherigen Arbeiten der Familie zunichtemachen. Bauer Lencho, tiefgläubig, schreibt einen Brief an Gott, in dem er hundert Peso fordert – und erhält sogar eine Antwort.

Meine Gedanken

Lencho, was „mit Lorbeer gekrönt“ heißt, ist ein gläubiger Bauer. Obwohl er den Brief, in dem er mitteilt, hundert Peso zu brauchen, einfach „An Gott“ (S. 238) adressiert, vertraut er darauf, dass er ankommt. Und – so nimmt er es wahr – das tut er auch. Er erhält eine Antwort und sechzig Peso. Statt damit zufrieden zu sein, fordert er den Rest nach – und bezichtigt die Beamten des Postamtes des Diebstahls. Die Leserschaft weiß, wie falsch er liegt, er aber sieht nur seine innersten Überzeugungen und hat keinen Blick für andere Erklärungen.

Die Geschichte zeigt, wie Glaube nicht funktioniert. Man kann keine konkreten Forderungen stellen und darauf bauen, dass sie 1:1 erfüllt werden.
Gleichzeitig zeigt sie, dass ein starker Glaube zum Erfolg führt. Der oben erwähnte Lorbeer, den Lencho im Namen trägt, ist ein Symbol für den Sieg – und im Prinzip geht er als Sieger hervor, er bekommt sechzig Peso. Er hat in völligem Gottvertrauen gehandelt und – zumindest teilweise – bekommen, was er wollte.

Die kleine Bouilloux – Colette

Originaltitel: La Petite Bouilloux
Übersetzung: Peter Dülberg

Inhalt

Nana Bouilloux ist eine Dorfschönheit. Schüchtern und süß war sie der Liebling aller, weiblich und kokett zählen zumindest die Mütter nicht mehr zu ihren Fans. Als sie eines Tages mit einem Pariser tanzt, scheint dies ihr Schicksal zu besiegeln. Sie lehnt alle nachfolgenden Angebote ab – obwohl der Pariser nie zurückkehrt.

Meine Gedanken

Hier geht es um Vorurteile. Das Wort „Bouilloux“ scheint im Verlauf einem Schimpfwort gleichzukommen. Die Mutter der Ich-Erzählerin nimmt das Schlimmste an, prophezeit Nana Bouilloux ein vorgezeichnetes Leben voller Lover, Tränen und geheimgehaltener Kinder, um ihre eigene Tochter, die sie mit der Ansprache „Kätzelchen“ (S. 241) verniedlicht, abzuschrecken.

Im Übrigen soll die Geschichte wohl vermitteln, dass Schönheit nicht alles ist. Sie ist vergänglich und macht keinen besseren Menschen aus einem. Nana Bouilloux scheint den Fehler zu machen, der anderen bei ihr passiert: Sie urteilt rein optisch. Den Pariser sieht sie nur einen Abend für kurze Zeit und einen einzigen Tanz lang. „Und danach erlebte die kleine Bouilloux nichts mehr.“ (S. 243) Alle folgenden Männer lässt sie abblitzen. Sie wartet – angeblich nicht auf den Pariser, sagt die Erzählerin. Das wäre meine erste Vermutung gewesen, aber vielleicht wartet sie auch auf etwas noch Besseres, auf etwas, das es nicht gibt. Wie dem auch sei:

Ja, Schönheit macht keinen besseren Menschen aus einem – aber auch keinen schlechteren. Nana Bouilloux lebt nicht das Leben, das die Köpfe der Vorurteile für sie erschaffen haben. Sie wartet – ohne dabei glücklich zu werden.

Die Ich-Erzählerin, die anfangs bewundernd zu dem Mädchen aufblickt, stellt am Ende fest, dass sie ihr überlegen ist. Auch mit 38 – und älter aussehend – hält Nana Bouilloux noch immer vergeblich die Augen offen – nach jemandem, der sie aus ihrem Anspruchsdenken und/oder aus ihrem Vorurteils-Gefängnis entführt.

Oberst Kock – Hermann Kesten

1946

Inhalt

Ein Mann findet einen Koffer, springt aus dem Zug, um ihn dem Besitzer auszuhändigen – doch der will ihn nicht. Es sei nicht seiner und er habe es satt. Was genau? Das erzählt der mysteriöse Fremde anschließend in aller Ruhe.

Meine Gedanken

Der erste Satz macht neugierig, der Schreibstil hat mir gefallen. Ich war gespannt, was es mit dem Fremden auf sich hat, der sich so seltsam benimmt. Der Ich-Erzähler empfindet ähnlich, denn er geht mit ihm in eine Bar – und lässt sich die Lebensgeschichte des Mannes, der sich als Oberst Maria Kock herausstellt, erzählen. Dass dieser schon einmal Stress wegen eines Koffers hatte, so dass sein Erbleichen vom Anfang nachvollziehbar wird, ist nur ein Teil davon.

Hier geht es um Moral.
Und es geht um die Zeit. „Morgen bist du frei, sagte ich mir.“ (S. 247) und „Die Entlassung zog sich hin.“ (S. 247) Eine tickende Uhr raubt Nerven, aber nicht nur das: Krock verlor alles während der damaligen Untersuchung: seinen Humor, seine Unbeschwertheit, seinen Lebensmut. „Soll ein Mensch für einen mißglückten Scherz umkommen?“ (S. 247)
Er weiß nicht, was er tun soll, um so unschuldig zu erscheinen, wie er ist. Und das ist der Punkt: Warum muss er beweisen, dass er unschuldig ist? Sollte es nicht anders sein?
Er verliert jegliches Vertrauen in die Menschen. Angst vor dem Tod hat er keine, es ist das Leben voller Verdächtigungen, das ihm Angst macht, es sind die Beschuldigungen, die er weder verhindern noch ausräumen kann.
Oberst Kock ist ein Flüchtling. Er flüchtet vor der Ungeduld der Menschen, die ihm nicht zuhören, die nur schnell ihre Fälle erledigen wollen. Er soll Geduld haben: Mit den Leuten, die kein Ohr für ihn haben, sondern nur haltlose Vorwürfe und Verzögerungen.

„Am anderen Tag lief ich, um den gestrigen Tag einzuholen.“ – Das sagt unser Erzähler auf Seite 260. Er hat noch Hoffnungen. Aber Kocks Geduld ist aufgebraucht. Er versprach seinem Vater, wie ein Igel zu leben. Igel haben durch ihre Stacheln die Möglichkeit, sich nahezu unangreifbar zu machen. Krock erkennt, dass er nie mehr so unschuldig gesehen werden wird, wie er ist, dass er keine Möglichkeit hat, sich erfolgreich zu verteidigen – und so endet die Story von Hermann Kesten auf tragische Weise: Oberst Kock macht sich unangreifbar – auf die einzige Art, die er noch sieht.

Ein Priester in der Familie – Leo Kennedy

Originaltitel: A Priest in the Family, 1933
Übersetzung: Marta Hackel

Inhalt

Mrs. Halloran hat zwei Putzstellen, davon eine in der Sankt-Timotheus-Kirche in Griffintown. Dass sie trinkt, wird vom hiesigen Priester als kleine Sünde angesehen, im Übrigen ist ihr Neffe Joseph Priester in der Wildnis von Britisch-Kolumbien. Doch wie weit reicht ihre Sonderstellung? Als sie es mit ihren Anfeindungen gegenüber einer Aushilfe übertreibt, erfährt sie es.

Meine Gedanken

Mrs. Halloran ist eine sehr eigene Protagonistin. Sie ist Alkoholikerin und scheint des Neides wegen eine Abneigung gegen die Menschen dieser Welt zu haben. Ihre Ausdrucksweise besteht allzu oft aus Beleidigungen, entsprechend locker ist der Text verfasst. Aber ihr Neffe, auf den hält sie große Stücke. Joseph, sie nennt ihn Joey, ist der Sohn ihrer Schwester – und Priester. Sie hat keine Ahnung von seiner Arbeit, das reine Wissen, dass er in der Wildnis von Britisch-Kolumbien als Priester tätig ist, reicht ihr. Solange man einen Priester in der Familie hat, kann einem nichts passieren, denkt sie. Und wenn es nach der Geschichte geht, stimmt das sogar.

Die zwischenzeitlich gefallenen Tränen sind kein ernstzunehmendes Zeichen der Reue – Mrs. Halloran denkt ausschließlich an sich und die Tatsache, dass sie nicht in der Hölle brennen will. Ihr Denken ist festgefahren: Nach der Beichte gelobt sie Besserung, versucht sich auch daran, doch die eingefahrenen Muster grätschen dazwischen. Es ist nicht davon auszugehen, dass sie sich jemals ernstlich bessern wird. Aber wozu auch? Ihr Neffe betet schließlich für sie.

Krambambuli – Marie von Ebner-Eschenbach

1883

Inhalt

Als der Revierjäger Hopp auf den ungepflegten Alkoholiker mit dem interessanten Hund Krambambuli trifft, weiß er sofort: Das Tier muss er haben. Er nutzt die Tatsache, dass der Vagabund nach mehr Branntwein verlangt, jedoch kein Geld aufbringen kann. So wird Krambambuli eingetauscht.

Harte Maßnahmen sind nötig, um die Treue zu seinem ehemaligen Herrchen zu brechen, doch letztlich gelingt es. Eine Probe im Schloss des Grafen besteht der Hund: Er gehört fortan zu Hopp – und wird dessen einziger Lebensinhalt. Alles scheint perfekt – bis eine Wildschützen-Bande umherzieht, ein Mord geschieht und der ehemalige Besitzer des Hundes auf der Bildfläche erscheint. Krambambuli steht vor der Wahl: Altes oder neues Herrchen? Er trifft seine Entscheidung – und muss dafür bezahlen.

Meine Gedanken

Die Geschichte hat mich berührt. Mein Herz schlägt für Hunde – und deshalb war es teilweise schwer, den Text zu lesen.

Es geht hier um Loyalität. Und um die schrecklichen Folgen eines verletzten Stolzes.

In mir hat „Krambambuli“ einige Emotionen ausgelöst – und das ist etwas, das ich mag. Die Geschichte ist schmerzlich, traurig und ärgerlich. Sie wird mir im Gedächtnis bleiben, auch wenn es kein schönes Leseerlebnis war.

Der Lebensabend – Eulalia Galvarriato (de Alonso)

Originaltitel: Final de jornada
Übersetzung: Susanne Hübner

Inhalt

Senora Francisca und Senor Pablo haben sechs Kinder großgezogen. Nun sind sie alt und bräuchten Unterstützung – und die kriegen sie auch. Allerdings anders als erwartet.

Meine Gedanken

Puh, das war unangenehm. Die Geschichte beginnt zunächst recht harmonisch, zumindest wird stets das Positive in den Fokus gerückt und alles andere kleingeredet. Doch nach und nach kommt heraus, dass die vermeintliche Bilderbuchfamilie gar nicht so beispielhaft ist. Es wird sich gestritten wie in jeder normalen Familie. Und es geht darüber hinaus: Die Kinder leben nicht nur ihr eigenes Leben, was völlig gewöhnlich und in Ordnung wäre, nein, sie behandeln ihre Eltern schlecht. Wirklich schlecht, ich meine es Ernst. Sie merken es nicht, wollen es nicht sehen, der Ton ist die gesamte Story über rechtfertigend. Anfangs wettert der Ich-Erzähler versteckt gegen die Älteren, später wird es offensichtlicher.

Besonders geschockt hat mich der Teil, bei dem es um den feuchten „Fleck“ im Schlafzimmer der Eltern geht, den einer der Söhne entdeckte. Abgesehen davon, dass es kein „Fleck“ mehr war, steht dort: „Schließlich, wäre er ein wenig später erschienen, dann hätte die Feuchtigkeit schon die Decke erreicht, und die ganze Wand hätte gleich ausgesehen, so dass ihm nichts aufgefallen wäre. Ein Jammer! Dann hätten sie sich die ganze Aufregung erspart […]“ (S. 288) Auwei. Kaum zu ertragen, ehrlich.

Und die Eltern? Die schwanken zwischen Verständnis und beherrschtem Entsetzen.

Es war merkwürdig, die Zeilen zu lesen, sie stimmen nachdenklich.

Der Mantel – Sally Benson

Originaltitel: The Overcoat, 1941
Übersetzung: Ludwig R. Harms

Inhalt

Mollie Bishop ist entsetzt: 87 Cent hat sie in der Tasche! Kein Geld, um sich ein Taxi zu nehmen, es ist beschämend. Sie beschließt, von ihrem Mann Robert ein Taschengeld einzufordern.

Meine Gedanken

87 Cent, das ist nicht viel. Zunächst ist man geneigt, in ihr Selbstmitleid einzustimmen: Ach, die arme Frau. Aber nach und nach zeichnet sich ein anderes Bild – und die Frage nach ihrer Selbstwahrnehmung ab.

Nicht nur, dass Mollie über keinerlei finanzielle Kompetenzen verfügt (sie ist nicht imstande, ein Haushaltsbuch zu führen, ihre 87 Cent vom Anfang werden am Ende zu 78 Cent, Stichwort Servierkleider usw.), nein, sie ist auch ansonsten unfassbar oberflächlich und durchdenkt ihre Einfälle nicht. Als ich die Sätze las „Sie beneidete Lila Hardy. Deren Mann trank zwar, aber er war doch wenigstens wer.“ (S. 295), war jegliches Verständnis dahin. Deshalb – Achtung, Achtung! – bitte beachten: Es ist eine Geschichte, die man mit Humor lesen sollte. Dann ist sie durchaus unterhaltsam.

Am Ende ist Mollie gezwungen, der Realität ins Auge zu sehen. Ich finde, dass die Autorin das anhand des Mantelärmels geschickt eingefädelt hat.

Die Furggel – Meinrad Inglin

1943

Inhalt

Ein Vater geht mit seinem zwölfjährigen Sohn zum Furggelgrat, einem Bergsattel. Es ist das erste Mal, dass der Junge mit in eine für die Gemsjagd freigegebene Gegend darf. Doch der Ausflug endet tragisch.

Meine Gedanken

„Die Furggel“ ist eine traurige Geschichte – und noch ergreifender, wenn man bedenkt, dass die Familie von Meinrad Inglin ein ähnliches Schicksal ereilte, als der Autor ein Jahr älter als der Protagonist war.

„Furggel“, heißt es in der Story, steht für Gabel(ung) – und genau darum geht es.

Der Junge wuchs behütet auf. Es ist das erste Mal, dass er seinen Vater zur freien Jagd begleiten darf. Er ist voller Freude – und dann wechselt die Stimmung. Wo vorher Sicherheit und Fröhlichkeit waren, ist nun die Gefahr. Er fühlt sich „[…] klein und verlassen […]“, sieht eine „[…] Nebelschlange […]“ und eine „[…] Nebelzunge […]“ (S. 303), alles Anzeichen für das, was geschah, für die Nachricht, die auf ihn lauert.

Anschließend taucht mehrmals etwas Goldenes auf („[…] goldhell […]“ – S. 305, „[…] ein goldenes Tor“ – S. 306) – Zeichen für die Erneuerung, für Anfang und Ende.
Sein Leben hat sich gegabelt, geteilt in ein Vorher und Nachher, und er muss einen neuen Lebensweg einschlagen.

Herzzerreißend.

Gerechtigkeit für Dr. Partzuf – Ephraim Kishon

Drama in einem Akt
Originaltitel: 1961
Übersetzung: Friedrich Torberg

Inhalt

Ein Mann betritt einen Bus – und soll ihn direkt wieder verlassen. Eine Diskussion bricht los. Dr. Partzuf will aussteigen, die anderen Fahrgäste lassen ihn nicht: „Das ist nicht mehr Ihre Privatangelegenheit. Es betrifft uns alle.“ (S. 310) Doch als ein Polizist hinzukommt, ändert sich alles.

Meine Gedanken

Haha, was war das denn? Satire war das!

Wie schrecklich, dass ich bisher nichts von Ephraim Kishon kannte. Das hat sich mit dem Einakter „Gerechtigkeit für Dr. Partzuf“ geändert, aber es war für mich erst der Anfang.

Inhaltlich werde ich nichts weiter verraten, das muss man selbst erleben.

Mir hat der Text gefallen, ich fand ihn amüsant. Was soll ich anderes sagen bei Sätzen wie die der „PANIK“ oder: „Man hört eine asthmatische Fliege gegen ein Fensterglas ansurren.“ (S. 311)?

Eine Rose für Emily – William Faulkner

Originaltitel: A Rose for Emily, 1930
Übersetzung: Elisabeth Schnack

Inhalt

In Jefferson sorgt nicht nur der Tod von Miß Emily Grierson für Aufsehen – ihr ganzes zurückgezogenes Leben tat es. Und dabei ahnte niemand, was wirklich hinter verschlossener Tür vor sich ging.

Meine Gedanken

„Eine Rose für Emily“ war für mich die erste Kurzgeschichte des Literaturnobelpreisträgers (1949) William Faulkner – und sie hat mir zugesagt.

Die Protagonistin des Buches ist Miß Emily Grierson. Sie spricht nie für sich, wir erfahren alles durch die „Wir-Perspektive“ der Klatsch-Gemeinschaft von Jefferson.

Da wir nicht über Insider-Informationen verfügen, müssen wir auf dem aufbauen, das uns durch Dritte zugetragen wird. Für mich sieht es danach aus, dass Emily ein Problem mit Veränderungen hat. Sie soll Steuern zahlen, doch da der Bürgermeister ihr sie einst erließ, klammert sie sich an diese Entscheidung. Dass Oberst Sartoris, der sie gefällt hat, längst verschieden ist, ignoriert sie.
Sie lehnt als Einzige im Ort einen Briefkasten ab. Sie will das isolierte Leben, das ihr Vater ihr aufgedrängt hat, weiterleben.
Auch den Tod ihres Vaters leugnet sie – sich selbst und den Kondolierenden gegenüber. Seine Leiche gibt sie erst durch Zwang Tage später frei.
Und am Ende, das ich nicht verraten werde, das aber durch genügend Hinweise durchaus erraten werden kann, bestätigt sich ihr Verhalten. Veränderungen versucht sie um jeden Preis zu vermeiden. Sie möchte festhalten an dem, das ihr etwas bedeutet.

Eine tragische Geschichte einer Person, deren Großtante schon „[…] völlig verrückt […]“ (S. 315) war.

Seine Hoheit das Kind – Rabindranath Tagore

Originaltitel: Khokababur Pratyabartan, 1891 
Übersetzung: Annemarie von Puttkamer

Inhalt

Raicharan war zwölf, als er Diener wurde. Er war für Anukul zuständig, den Sohn seines Herrn. Er begleitete ihn, als er in die Schule kam, zur Universität ging und Richter wurde. Als er einen eigenen Sohn bekam, kümmerte Raicharan sich liebevoll um diesen. Auch Anukuls Versetzung machte er mit: Sie führte sie in ein Distrikt am Padma – und der Fluss nahm, daran bestanden nur vereinzelte Zweifel, das Kind. Nach der Tragödie geht Raicharan in sein Dorf zurück und bekommt mit seiner Frau ein Kind. Sie stirbt, er zieht Phailna groß. Doch er kann ihm nicht geben, was er seiner Meinung nach verdient.

Meine Gedanken

Rabindranath Tagore, der 1913 den Literaturnobelpreis bekam, hat hier eine traurige Geschichte geschrieben, die ich gerne verfolgt habe.

Es ist so schön, wie Raicharan mit Kindern umgeht – und so schlimm, was ihm passiert. Dass er seine Schuldgefühle und Trauer nicht abschütteln kann, ist nachvollziehbar. Es überrascht nicht, dass er Zeichen deutet, die keine sind. Er klammert sich an seine Hoffnungen.

Es hat mich berührt, von seinen Bemühungen zu lesen, Phailna ein guter Vater zu sein. Er gibt ihm mehr, als er ihm eigentlich geben kann, ist aufopferungsvoll bis zur Selbstaufgabe.

Das Ende ist herzzerreißend.

„Seine Hoheit das Kind“ ist eine Story, die ich empfehlen kann, obwohl ich sie mir für Raicharan anders gewünscht hätte.

Die Pension – James Joyce

Originaltitel: The Boarding House, 1914
Übersetzung: Dieter E. Zimmer

Inhalt

Mrs. Mooney, Tochter eines Fleischers und ehemalige Besitzerin eines eigenen Geschäfts, trennt sich von ihrem Ehemann, nachdem dieser abstürzte und sie attackierte. Die Kinder bleiben bei ihr, sie eröffnet eine Pension. Als ihre 19-jährige Tochter Polly etwas mit dem Mittdreißiger Mr. Doran anfängt, beobachtet sie die Angelegenheit – bis es an der Zeit für eine Wiedergutmachung ist.

Meine Gedanken

Mrs. Mooney ist eine gerissene Protagonistin. Das wird zwar nicht gesagt, aber man liest es heraus.
Nachdem ihre Ehe und ihr Geschäft scheitern, eröffnet sie eine Pension in Dublin. Sie wird „Die Madame“.
Ihr Sohn, der Schreiber Jack, hat einen gewissen Ruf, ihre Tochter arbeitet als Tippfräulein, ehe Mrs. Mooney sie im Haushalt einsetzt. Einerseits des Vaters wegen, andererseits, damit sie die männlichen Gäste bespaßt. Da kriegt „Die Madame“ gleich noch eine andere Bedeutung.

Die Familie macht keinen besonders gesitteten Eindruck. Über Polly heißt es: „Sie war wirklich etwas ordinär; manchmal sagte sie käuft oder größer wie.“ (S. 334) Hier wird deutlich, dass Mr. Doran, mit dem Polly eine Affäre hat, kultivierter ist als sie. Er hat zudem bereits einige Dienstjahre angesammelt. Ihm geht es um seinen Ruf.
Seine ständig beschlagene Brille zeigt die Ausweglosigkeit seiner Situation: Er sieht nicht klar, erkennt keine anderen Möglichkeiten, als Wiedergutmachung zu leisten. Er ist eine gute Partie – das weiß auch Mrs. Moonie. Sie und ihre Tochter sind es nicht, aber „Sie zählte alle ihre Trümpfe noch einmal, […]“ (S. 333) – sie weiß sich zu helfen. Und so steigt Mr. Doran die Treppe hinab – wortwörtlich und im übertragenen Sinne.

Mutterschaft – Lilika Nakos

Übersetzung: Erika Tophoven

Inhalt

Der 14-jährige Armenier Mikali lebt in einem Flüchtlingslager in Marseille. Seine Mutter starb bei der Geburt seines Bruders, den er nun versorgen muss. Statt Mitleid schlägt ihm Gereiztheit entgegen. Als er unter den anatolischen Griechen eine Frau findet, die ein eigenes Baby stillt und bereit ist, sich seinen Bruder anzusehen, keimt Hoffnung in ihm auf. Doch diese wird zerstört. Alle befinden den hungernden Jungen mit dem riesigen Kopf und abgemagerten Körper für ungeheuerlich. Mikali steht kurz davor, zu akzeptieren, dass sein Brüderchen sterben muss, als ihn ein Chinese anspricht. Er will ihm nicht folgen, schließlich sind da die ganzen Vorurteile. Aber er hat keine Wahl.

Meine Gedanken

Wie schrecklich das Schicksal von Mikali und seinem Babybruder ist, wie abscheulich die Reaktionen der Menschen. Sie betrachten den Säugling nicht als solchen, er ist ein Störenfried, wird entmenschlicht, indem er als „[…] Ungeheuer […]“, „[…] Vampir […]“ und „[…] Teufel“ bezeichnet wird. (S. 339) Gesehen wird nur das eigene Leid. Ich will das nicht leugnen oder herunterspielen, es rechtfertigt aber in keinem Fall ihr Verhalten. 

Die Botschaft der Geschichte ist richtig und wichtig. Es wird gezeigt, dass man Vorurteile hinter sich lassen kann und sollte, dass das zwar Überwindung kostet, aber Leben rettet.

Obwohl die Frau voller Mitgefühl reagiert, hatte das Ende für mich zunächst einen üblen Beigeschmack. Das „Verschämt […]“ (S. 340) ist mir aufgestoßen. Inzwischen bin ich okay damit. Ich denke, es bezieht sich auf ihre Empfindungen und soll eine weitere Botschaft vermitteln bzw. die Message verstärken: Es ist legitim, dass dich etwas abstößt, das ist menschlich. Die Frage ist, ob du das hinnehmen und dennoch das Richtige tun kannst – oder eben nicht. Sie kann es. Sie sieht das Baby, nimmt das Äußere wahr, akzeptiert es, handelt wie eine Mutter – und rettet sein Leben, das eine andere ihm geschenkt hat.
Es könnte sich auch auf die anderen beziehen. Zwar war sie nicht zugegen, hat nicht mitbekommen, wie die Brüder behandelt wurden. Aber der Zustand der Jungs zeigt, dass sie nicht erst seit fünf Minuten auf der Suche nach Hilfe sind. In diesem Fall gilt das Gefühl der Tatsache, dass es in der Welt an Mitgefühl und Hilfsbereitschaft, ja, an Menschlichkeit mangelt. Deshalb zieht sie ihr Kleid über das Kind: Sie schottet es ab, schützt es.

Wieder in Babylon – F. Scott Fitzgerald

Originaltitel: Babylon Revisited, 1931
Übersetzung: Ursula Dülberg

Inhalt

Vor drei Jahren stürzte Charles J. Wales, genannt Charlie, ab. Als seine Frau Helen starb, übernahm ihre Schwester Monika die gesetzliche Vormundschaft für Honoria. Seither hat Charlie die heute Neunjährige nicht oft gesehen, zuletzt vor zehn Monaten. Nun ist er zurück in Paris, um seine Tochter zu besuchen – und sie mit nach Prag zu nehmen.

Meine Gedanken

Von F. Scott Fitzgerald kannte ich bereits „Der große Gatsby“, ein Roman, der mir gut gefallen hat. Und auch „Wieder in Babylon“ konnte mich überzeugen.

Es geht um Charlie, der durch sein selbstzerstörerisches Verhalten alles verlor – sein Vermögen, seine Familie – und sich zurückkämpft, so gut es ihm mit seinem schweren Gepäck möglich ist.

Die Geschichte enthält viele Dialoge. Diese verraten allerhand über die Emotionen der Figuren. Man bemerkt, wie angespannt das Verhältnis zwischen Charlie und Monika ist – und wie liebevoll das von ihm und seiner Tochter. Das Gespräch, das er im „La Grand Vatel“ mit Honoria führt, vereint den Ernst der Lage durch den Satz „‚Ich möchte Sie kennenlernen’, sagte er ernsthaft.“ (S. 345) und den Spaß, den sie miteinander haben, indem er die Neunjährige fragt, ob sie verheiratet ist oder nicht. Er weiß nicht, dass sie mittags immer nur ein Gemüse isst, er weiß überhaupt wenig von ihr. Aber er will ihr alles geben, was er kann, das wird deutlich.

Doch da ist die Vergangenheit. Sie spielt eine übergroße Rolle – auch in der Gegenwart. Es ist etwas vorgefallen, das Monika ihm vorhält und das ihn von seiner Tochter trennt, die bei ihm leben möchte.
Durch Lorraine und Duncan wird sichtbar, dass er seine Verfehlungen von einst nicht abschütteln kann. Sie verfolgen den 35-Jährigen bis heute, obwohl er geläutert ist.

Dass seine Tochter Honoria heißt, ist sicher kein Zufall. Er möchte sie zurück, sie als sein Kind, das glaube ich ihm. Aber er will auch das zurück, wofür sie steht: Honoria, die Ehrenvolle/-werte; Honor, die Ehre – seine Ehre.

Patience – Nigel Balchin

Originaltitel: Aus Last Recollections of My Uncle Charles, 1954
Übersetzung: Ludwig R. Harms

Inhalt

Als Onkel Charles wider Willen beim Bridge gewinnt, erzählt er seinem Neffen, was er vor mehr als zwei Jahrzehnten in Nizza erlebte.

Meine Gedanken

Anfangs hatte ich meine Bedenken, aber „Patience“ hat sich für mich als eine coole Geschichte entpuppt.

Nigel Balchin scheint ein Fan der Ich-Form gewesen zu sein: Der Ich-Erzähler ist der Neffe von Onkel Charles. Da Onkel Charles die größte Zeit über in seinen Erinnerungen schwelgt, bekommen wir auch von ihm viel aus der Ich-Perspektive geschildert. Ich mag diese Sicht, mir hat das gefallen.

Zunächst wundert man sich: Was ist los mit Onkel Charles? Wieso ist er nicht erfreut, den Marshall beim Bridge besiegt zu haben? Er klärt es auf – und untermauert seine Meinung, dass „[…] Gewinne eine Katastrophe, Verluste dagegen einträglich sein können.“ (S. 359) mit einer Geschichte, die sich vor etwa 25 Jahren ereignete, als er für einige Zeit in Nizza war:
Hier lernt er Mr. Brander Heavistone kennen, einen Amerikaner aus Detroit, der mit Miß Leonora Tracey am benachbarten Tisch der Hotelbar sitzt. Miß Tracey, eine 24-jährige Engländerin, lebt mit ihrem Vater, einem pensionierten Offizier, zum Wohle seiner Gesundheit in Südfrankreich. Sie drängt darauf, dass Charles den Oberst kennenlernen müsse – und ehe er sich versieht, ist eine Verabredung zum Poker getroffen. Bevor das Ganze ernst wird, teilt Leonora Charles und Heavistone mit, dass sie sich Sorgen mache, ihr Vater könne (zu) viel Geld verlieren. Er habe nur seine Pension, keine Ersparnisse. Ein maximaler Verlust von zehn Pfund wird heimlich festgelegt.
Ein Abend wird zu vielen, sie verlaufen ruhig und im Rahmen des Verschmerzbaren – bis Monsieur de Grouchy dazustößt und es plötzlich doch um ganz andere Summen geht.

Mehrfach werden die sehr blauen Augen von Leonora betont – ein Hinweis, den man auslegen kann.

Da mich die Geschichte überraschte und ich das niemandem nehmen möchte, werde ich nichts weiter zum Inhalt schreiben. 

Mich würden die anderen Stories um Charles reizen, allerdings lese ich ungern auf Englisch und sie sind nicht übersetzt worden. „Patience“ kann ich aber empfehlen.

Spiel im Dunkeln – Graham Greene

Originaltitel: The End of the Party, 1929
Übersetzung: Walther Puchwein

Inhalt

Es ist der 5. Januar. Ein Tag, der bei Peter die helle Freude auslöst – und bei seinem Zwillingsbruder Francis dunkelste Panik. Denn Mrs. Henne-Falcon lädt zum zehnten Geburtstag ihres Sohnes – und Francis, der sich vor der Finsternis fürchtet, weiß, dass sich das Versteckspiel im Dunkeln vom letzten Jahr wiederholen wird. Er sucht nach Ausreden, ohne damit durchzukommen. Und so muss er sich seiner Angst stellen.

Meine Gedanken

Ich habe mich zweimal an Greenes Roman „Das Herz aller Dinge“ versucht, ohne dass ich weit gekommen wäre, deshalb war ich gespannt, wie es mir mit der Kurzgeschichte „Spiel im Dunkeln“ ergehen würde. Und – tada – ich habe sie gerne gelesen.

Peter, der ältere der Morton-Zwillinge, hat mir gefallen. Er ist ein über alle Maßen empathischer Junge, seine Art und seine Bemühungen haben mein Herz erfreut.

Francis plagt sich mit Ängsten herum. Ich fand es schlimm zu verfolgen, wie er leidet und keinen Ausweg findet. Er fühlt sich „[…] winzig klein […]“ (S. 383), bedroht – und niemand (außer Peter) will das sehen. Ich habe mit ihm gefühlt.

Graham Greene setzt viele Zeichen ein, die man deuten kann. Der Traum des Jungen ist erst der Anfang.
Es wird deutlich, dass Francis‘ Angst vor der Dunkelheit eine Angst vor dem Tod darstellt. Er zieht sogar selbst – und somit für die Leser:innen auf dem Präsentierteller serviert – den Vergleich Finsternis/Tod (S. 383). Auch die Formulierung „[…] vertrocknetes altes Männchen.“ (S. 383) ist eine interessante Wahl.
Dass die Zwillinge „Morton“ heißen, von „Moor/Sumpf“, halte ich nicht für zufällig.

Die Verbindung der Brüder beeindruckte mich. Die Erzählung enthält viele Emotionen, die mich alle erreicht haben.

Ich möchte „ Spiel im Dunkeln“ als Appell lesen, Gefühle, auch die von Kindern, ernst zu nehmen.

Die Biographie – R. Prawer Jhabvala

Übersetzung: Erika Tophoven

Inhalt

Der 28-jährige Jonathan Jones kommt nach Indien, um biographisches Material über einen verstorbenen Volksführer zu sammeln. Anita, die Nichte des Mannes, über den Jonathan ein Buch schreiben will, steht ihm mit Rat und Tat zur Seite.

Meine Gedanken

Die Kurzgeschichte ist in der dritten Person geschrieben.

Jonathan hat mir gefallen, er ist ehrlich und zurückhaltend, lässt sich nicht zu Lästereien hinreißen.

Die würdevolle Anita, die für ihren Onkel die Hausdame war, ist stolz auf ihr damaliges Leben – und drängt sich immer wieder in den Vordergrund, wenn Jonathan bei ihr nach Informationen über den Volksführer sucht. Sie sieht sofort einen Freund in ihm – er erwidert ihre freundschaftlichen Gefühle nicht.
Auch in Miß Bridget Law, die für ihr Buch „Die moderne Inderin“ recherchiert, findet Anita eine Freundin.

Ich habe es so empfunden, dass Anita einsam ist. Da sind die Menschen aus der Vergangenheit, die ihren Onkel bewunderten, aber das reicht ihr nicht. Deshalb stürzt sie sich auf die Fremden, für die sie wichtig ist, weil sie Auskünfte erteilen kann.

Anita wurde einst gebraucht. Sie war die nächste Verwandte des Volksführers, war nicht nur seine Nichte, sondern automatisch auch seine Gesellschafterin, eine Vertraute und (insbesondere) die Hausdame. Nach seinem Tod bleibt ihr nichts als die Erinnerung. Sie hängt an den vergangenen Zeiten, tut sich schwer mit dem Minister, den Nachfolgern. Anita wird gern beachtet und bewundert, wenn ihr jemand ein Kompliment macht, blüht sie auf. Sie möchte weiterhin bedeutsam sein, sich wichtig fühlen.

Als Jonathan seinen Plan verwirft, spürt man ihre Panik. Sie klammert sich daran, gebraucht zu werden.
Dass ihr das Manuskript von Bridget Law nicht zusagt, überrascht nicht, denn zu den darin bewunderten indischen Frauen, die sich selbst verwirklichen, gehört sie nicht.

Die letzten Sätze sind ergreifend. „Die Biographie“ von Ruth Prawer Jhabvala ist eine traurige, sehr bittere Geschichte.

Schnee auf dem Kilimandscharo – Ernest Hemingway

Originaltitel: The Snows of Kilimanjaro, 1936
Übersetzung: Annemarie Horschitz-Horst

Inhalt

Harry und Helen machen eine Safari in Afrika. Vor zwei Wochen verletzte sich Harry an einem Dorn. Er nahm den Schnitt – wie so vieles in seinem Leben – nicht sehr ernst. Die Folge: Wundbrand. Während Helen hoffnungsvoll auf ein Flugzeug wartet, schwelgt Harry in Erinnerungen. Wird er die Infektion überleben?

Meine Gedanken

Man wird direkt hineingeworfen in diese Geschichte, muss lange warten, ehe aus einem der Dialoge der Name des Protagonisten hervorgeht. So bleibt es interessant, man liest aufmerksam, um nichts Neues zu verpassen und Antworten auf die Fragen zu bekommen, die im Kopf entstehen.

In „Schnee auf dem Kilimandscharo“ geht es um den Schriftsteller Harry, der sich sicher ist, im Sterben zu liegen. Er ärgert sich darüber, sein Talent verschwendet und so viele Themen aufgehoben statt die Geschichten dazu geschrieben zu haben.

Seine Frau Helen leugnet den Ernst der Situation, sie baut darauf, dass ein rettendes Flugzeug unterwegs ist.

Das Tragische ist, dass Harry erkannt hat, sich zu lange auf dem Reichtum anderer, auf der Sicherheit und dem Luxus, den Helen mitbrachte, ausgeruht zu haben. Deshalb verließen sie Frankreich, deshalb sind sie in Afrika. Hier, wo er einst glücklich war, wollte er es wieder werden. Und nun soll er sterben?

Der Tod ist ständig präsent. Ernest Hemingway setzt sich sammelnde Vögel und den Schnee als Symbole ein, ebenso eine Hyäne, die wiederholt auftaucht.

Da Harry nicht mehr in der Lage ist, seine Erinnerungen niederzuschreiben, ruft er sie sich ins Gedächtnis. Er versucht, etwas nachzuholen, das nicht nachzuholen ist. Für mich ist hier die Moral von der Geschichte zu finden.

Die Visionen des Fra Gelsomino – Luigi Santucci

Originaltitel: Le Visioni di Fra Gelsomino
Übersetzung: Karl Alfred Wolken

Inhalt

Fra Gelsomino liebt seine Eselin. Als der Packesel des Klosters stirbt und Pater Guardian Gelsominos Esel kaufen möchte, lehnt dieser ab. Er hat das Tier zu gern. Der Mönch dreht sich um und geht – doch Secca, die Eselin, folgt ihm. Damit ist Gelsominos Schicksal besiegelt: Sie gehören fortan zum Kloster, helfen bei der Kornsuche und gehen von Haus zu Haus. Die Menschen empfangen Gelsomino mit offenen Herzen – und vollen Bechern. Nach einigem Wein beginnt er das Wahrsagen.
Sein Alkoholkonsum bleibt nicht unbemerkt, er muss Buße tun. Ein anderer Mönch übernimmt mit Secca die Häuser, doch die Anwohner akzeptieren das nicht. Sie verehren Gelsomino wegen seiner eintreffenden Vorhersagen – und treten in einen Streik: Alle bleiben den Messen fern, es gibt weder gewöhnliche Taufen noch Eheschließungen oder Beerdigungen. Sommer und Herbst gehen zu Ende – und an Weihnachten gibt Pater Guardian sich geschlagen: Er schenkt Gelsomino zwei Flaschen Wein und bittet ihn, die Leute in die Mitternachtsmesse zu holen. Es klappt – doch dann geschieht etwas, das Gelsomino nicht verwinden kann.

Meine Gedanken

„Die Visionen des Fra Gelsomino“ ist eine traurige Kurzgeschichte über eine große Liebe zwischen einem Mann und einem Esel.

Wir haben hier einen gottesfürchtigen und sein Tier über alle Maßen liebenden Protagonisten, der von den Menschen geschätzt wird. Er kann nicht lesen, aber er kann sehen – und das reicht.

Alles hat eine Bedeutung in dieser Erzählung, scheint sorgsam ausgewählt. Gelsomino bedeutet Jasmin, für mich soll damit die Reinheit unterstrichen werden, die von ihm ausgeht.
Es gibt viele Zeichen innerhalb der Story. Alle weisen auf etwas hin, das in einiger Entfernung lauert. Ein paar Beispiele:
Mir ist aufgefallen, dass die Hauptfigur öfter weint. Das fängt mit ein paar Tränen an, als Secca gen Kloster strebt, geht weiter, als er wegen der Buße weint, und endet in „[…] er schwamm in Tränen.“ (S. 430) Es steigert sich.
Ich glaube, dass man auch die Veränderungen in Bezug auf seinen Bart deuten kann. Zunächst ist die Rede von „[…] seinem grünlichen Bart […]“ (S. 426). Ich denke, die Farbe steht hier für Hoffnung, Regeneration. Es ist ein Neuanfang, den er im Kloster erlebt. Später trocknet er sich seinen Bart nach dem Wein. Und letztlich heißt es „[…] und ein gespenstischer Wind geisterte zwischen den Bartsträhnen und trocknete den Schweiß auf seiner nassen Stirn.“ (S. 428)
Unheilvoll erscheint es, als Gelsomino „[…] die ersten fröstelnden Schwalben in den Himmel stoßen […]“ sieht „[…] wie eine Handvoll schwarzes Konfetti.“ (S. 429)
Dass der Schneesturm (ich sehe den Schnee als Gefahr an) neun Tage dauert, ist für mich kein Zufall. Die neun ist die letzte einstellige Ziffer, sie kann als Abschluss/Ende interpretiert werden.
Die Bindung zwischen Gelsomino und seinem Tier wird deutlich, besonderes als er und die Eselin als „[…] ein seltsames Wesen mit sechs Beinen, […]“ (S. 428) bezeichnet werden. Und natürlich ist das Wort „Witwer“ (431) die Krönung des Ganzen.

Das Ende kam für mich überraschend, aber es passt. „Die Visionen des Fra Gelsomino“ von Luigi Santucci ist eine runde Geschichte, in dessen Ende ich zwei Anfänge erkenne: Den, mit dem die Story beginnt, und den neuen, den, der nun folgt.

Südwinde – Ama Ata Aidoo

1970
Übersetzung: Maria Hackel

Inhalt

Dies ist die Geschichte von M‘Ma Asana. Sie hat ihre Tochter allein aufgezogen. Vor wenigen Tagen ist Hawa selbst Mutter geworden, M‘Ma Asana hat ihren ersten Enkelsohn bekommen: Fuseni. Als ihr Schwiegersohn Issa M‘Ma Asana mitteilt, in den Süden zu gehen, ist es an ihr, ihrer Tochter die Nachricht zu überbringen.

Meine Gedanken

Mit M‘Ma Asana hat Ama Ata Aidoo in „Südwinde“ eine starke Figur erschaffen. Sie hat ihre Tochter ohne fremde Hilfe aufgezogen, sich durchs Leben gekämpft. Aufgeben liegt ihr nicht, sie macht weiter, blickt nicht zurück. Das wird auch dadurch deutlich, dass sie ihrer Tochter erst jetzt, wo sie ihr Issas Weggang offenbart, von Hawas Vater erzählt.

Interessant ist, dass Hawa keine eigene Stimme hat. Zwischen M‘Ma Asana und dem Schwiegersohn Issa verfolgen wir einen Dialog, von dem Gespräch zwischen M‘Ma Asana und ihrer Tochter lesen wir nur eine Seite: M‘Ma Asanas. Hawa kommt nicht zu Wort. Ich glaube, dass das wichtig ist.
Genau wie die Tatsache, dass es hier zwei Männer gibt, die in den Süden gehen – und zwei Frauen, die zurückbleiben. Die Männer gehen freiwillig, der eine kämpft, obwohl er nicht muss, der andere will dort eine Arbeit finden, obwohl er vielleicht auch näher eine Chance hätte. Der Süden lockt, die Männer können ihm nicht widerstehen, egal wie vage ihre Vorstellungen sind. Die Frauen haben keine Wahl, sie werden vor vollendete Tatsachen gestellt, Hawa erfährt es nicht einmal von ihrem Mann selbst. Es gibt einen großen Unterschied zwischen Männern und Frauen in dieser Erzählung.

Besonders traurig ist, dass die Männer weggehen, um ihrer Familie etwas zu bieten. Die Frauen wollen aber lieber ihre Partner behalten. Nach all den Jahren denkt M‘Ma Asana bei bestimmten Geräuschen „Wäre es nur mein Mann.“ (S. 432) Und am Ende stellt sie klar: „Ihn selber wollte ich, nicht seinen in Gold verwandelten Leib.“ (S. 439) Da sie von seinem Geld nichts hatte, war alles umsonst.

Das Untier – Joseph Conrad

Originaltitel: The Brute, 1906
Übersetzung: Fritz Lorch

Inhalt

Das titelgebende Untier ist ein Schiff – ein Schiff, das seine Crew tötet. Nichts und niemand scheint es stoppen zu können – oder doch?

Meine Gedanken

Wir haben hier einen Ich-Erzähler, der die Bar „Zu den drei Krähen“ aufsucht. Miß Blank begrüßt ihn, Mr. Jermyn und Mr. Stonor sind da – und ein Fremder im Tweedanzug, der von Wilmot erzählt, der getötet hat. Die Ermordete soll es verdient haben. Die Story beginnt interessant, weil automatisch viele Fragen entstehen, die man beantwortet haben will. Wer ist der Fremde? Wer ist Wilmot? Wen hat dieser umgebracht? Und warum?

Über den Ich-Erzähler erfahren wir wenig, er ist genauso gespannt wie wir. Da der Fremde in Redelaune ist und wir die Geschichte fast ausschließlich durch das Gespräch erzählt bekommen, löst der Fremde, der sich als Ned entpuppt, den Ich-Erzähler größtenteils ab. Über ihn kriegen wir mehr raus: Er war an Bord des Untiers, verbrachte drei seiner Lehrjahre dort, ehe er nach einem friedlichen Jahr auf der „Lucy Apse“ als Dritter Steuermann auf die „Apse Familie“ zurückkehrte. Auch sein zehn Jahre älterer Bruder Charles war dabei: Als Erster Steuermann. Charles wird seine ganz persönliche Tragödie erleben.

Anfangs machte mich die Geschichte neugierig, irgendwann verlor sie mich ein bisschen. Dass Joseph Conrad es geschafft hat, das Schiff in „Das Untier“ zu einem eigenen Charakter zu machen, hat mir gefallen.

Das erste Wunder – Azorin

Originaltitel: El primer milagro, 1929
Übersetzung: Ulla H. de Herrera

Inhalt

Ein Mann, der dafür bekannt ist, sein Geld beisammenzuhalten, wird plötzlich freigebig. Es ist derselbe Mann, der von einem Wutausbruch zum nächsten lebt, kein freundliches Wort, nur Verhöre und Beleidigungen kennt – und auf einmal sanftmütig wird. Was ist geschehen?

Meine Gedanken

In dieser Kurzgeschichte von Jose Augusto Trinidad Martinez Ruiz, der unter dem Pseudonym Azorin schreibt, geht es um die Verwandlung eines Mannes. Bisher war es seine einzige Sorge, sein Vermögen zu verlieren. Jeder Tagelöhner und Großknecht muss ihm abends darlegen, was er den Tag über getan hat, um ihn davon zu überzeugen, kein Geld verschwendet zu haben. Seine Münzen sind sein Schatz, den er hortet und sicher verwahrt. In der Anfangsszene sehen wir, wie viel ihm seine Truhe bedeutet, wie sorgfältig er sie verschließt. Es wird deutlich, dass seine Launen und Maßnahmen ein Zeichen seiner Angst sind. Er fürchtet sich davor, in Armut leben zu müssen.

Als der Hirt, der Ziegen und Schafe hütet, sich verspätet und erklärt, in dem Stall neben der Tenne des Alten Menschen gesehen zu haben, dreht er wie üblich durch. Wie können sie es wagen? Er macht sich auf den Weg – und entdeckt etwas, das sein ganzes Leben verändert. Sein Zorn ist ausgelöscht, seine Angst besänftigt. Er schreit nicht mehr, gibt armen Leuten, die an seiner Tür klopfen, Silbermünzen. Die Familie und Bediensteten sind besorgt – was ist mit ihm? Ist er krank?

Ich war gespannt, was hinter seiner Entdeckung steht. Der Autor zieht die Auflösung trotz der Kürze der Geschichte gekonnt hin.

In Begeisterung versetzt hat mich „Das erste Wunder“ nicht, aber immerhin haben wir einen zum Positiven veränderten Protagonisten – und das wünscht man sich ja immer.

Sechs Fuß Erde – Nadine Gordimer

Originaltitel: Six Feet of the Country, 1953
Übersetzung: Wolfgang von Einsiedel

Inhalt

Der namenlose Ich-Erzähler und seine Frau Lerice haben sich zwanzig Kilometer außerhalb von Johannesburg ein Gut gekauft. Während Lerice als Gutsherrin aufgeht, ist der Mann wenig angetan. Der Kauf sollte ihre Ehe entspannen, aber das Gegenteil ist der Fall. Als ein Flüchtling auf ihrem Grundstück an einer Lungenentzündung stirbt, zeigt sich der Kontrast zwischen dem Mann und seiner Ehefrau noch stärker.

Meine Gedanken

In „Sechs Fuß Erde“ erzählt uns ein Mann, wie er das Leben auf dem Gut empfindet, außerdem lässt er uns teilhaben an seinen Eindrücken hinsichtlich des Todesfalls. Die Autorin, die den Booker Prize (1974) sowie den Literaturnobelpreis (1991) erhielt, hat einen Protagonisten erschaffen, dem etwas fehlt, nämlich die Fähigkeit, den Kern einer Sache zu erkennen.

Der Ich-Erzähler, der stets mit „Baas“, also Herr, angesprochen wird, ist Teilhaber einer Agentur für Luxusreisen. Er kommt abends und über das Wochenende auf das Gut. Da Lerice und er dieses nicht abgeriegelt haben, sondern den Schwarzen Bediensteten einen Unterschlupf auf der Scholle gewähren, hält er sich für einen Retter.
Als der Bruder des Mitarbeiters Petrus stirbt, zeigt sich der Charakter der Hauptfigur deutlich. Er sieht Weiße als etwas Besseres an, kann Petrus‘ Wünsche nicht nachvollziehen. Er handelt zwar, aber aus anderen als den naheliegenden Beweggründen. Ihm geht es ums Prinzip, nicht um die Menschen.

Lerice ist anders als er. Er spricht oft für seine Ehefrau, ohne dass ich denke, dass sie seine Aussagen teilen würde.

Es gibt bedeutende Sätze, beispielsweise den mit dem „[…] Revolver unter dem Kopfkissen der Weißen und die Schutzstangen vor ihren Fenstern.“ (S. 465) sowie „[…] jene seltsamen Augenblicke, in denen, auf dem Gehsteig, ein Schwarzer sich weigert, einem Weißen die Bahn freizugeben.“ (S. 465) Am wichtigsten finde ich allerdings den Satz „[…] merkwürdigerweise sahen sie dabei einander ganz ähnlich.“ (S. 476) – damit meint er Lerice „[…] mit ihrer hohen weißen Stirn […] (S. 477) und Petrus, Person of Color. Ja, zur Hölle, es sind ja auch gleichwertige Menschen mit dem gleichen Verständnis für die Dinge. Aber das ist dem Protagonisten zu hoch.

Der letzte Absatz über den Anzug, den Lerice dem Vater des Toten, der extra – und umsonst – aus Rhodesien gekommen ist, mitgibt, lässt mich sprachlos zurück. Wie kann man nur so blind sein?

Das Verhalten der Behörden ist schrecklich. Dass nicht einmal der Erzähler etwas erreichen kann, sagt alles.

Die Monduhr – Bruno Frank

1933

Inhalt

Doktor Ferdinand Purgstaller, 38, Professor für arabische Sprache, befindet sich auf einer Studienreise durch Marokko. Als er den Sultan sehen will, der sich jeden Freitag zeigt, trifft er auf einen Sussi, der Purgstallers Uhr bewundert. Er ist so fasziniert davon, dass er seine Pflichten aus den Augen verliert. Die Strafe, das Zerprügeln der Fußsohlen, kann Purgstaller abwenden, doch für Mohámmed ben Mohámmed el Mehenni war’s das mit der Arbeit für den Sultan. Auch in seiner Heimat Tarudant hat er keine Chancen. Kurzentschlossen nimmt Purgstaller den Sussi mit nach Währing. Die 26-jährige Köchin Tini ist nicht begeistert, hat jedoch ein Einsehen – und gewöhnt sich an den neuen Diener, der etwas für sie zu empfinden beginnt. Und damit gewinnt die Monduhr, die von Anfang an eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Mohámmed ausübte, eine zusätzliche Bedeutung.

Meine Gedanken

Eine ovale Uhr aus Gold, die die Mondphasen anzeigt, verändert das Leben dreier Menschen. Eine interessante Idee, die der deutsche Autor Bruno Sebald Frank hier in einer der längsten der Kurzgeschichten umgesetzt hat. Sie hat mich nicht umgehauen, lässt sich aber leicht lesen.

Bevor Purgstallers Erbstück ihn mit Mohámmed zusammenbringt, beobachtet er einige Störche „[…] von daheim, die guten, vertrauten Vögel der österreichischen Dorfkirchtürme.“ (S. 479) Es könnte sich hier um ein Vorzeichen handeln. Die Tiere sind als Kinderbringer bekannt und Mohámmed, der Diener, legt anfangs eine kindliche Faszination für die Uhr an den Tag. Später verhält er sich in Tinis Gegenwart oftmals kindisch. Er erinnert mehr als einmal an ein Kind (oder Hund, wie Tini findet). Im Übrigen sind Kinder an ihre Eltern gebunden – und er ist von seinem Herrn abhängig: „‚Eine Wahl haben wir nicht. Wo wollen Sie hin mit dem Menschen!'“ (S. 497).

Mir ist außerdem oft die Farbe Blau aufgefallen. Blau steht für Sanftmut und Vertrauen, was passt. Aber die Farbe steht auch für Distanz – und die gibt es in dieser Geschichte in mehr als einer Hinsicht.

„Die Monduhr“ schließt Band 1 von „Die schönsten Kurzgeschichten aus aller Welt“ ab.

Mein Fazit zu „89 Autoren erzählen: Die schönsten Kurzgeschichten aus aller Welt“ – Band 1

Ich hatte Spaß an dem Buch. Die Kurzgeschichten haben mich unterhalten, überrascht, amüsiert und berührt. Mit manchen Erzählungen konnte ich nicht viel anfangen, aber aus allen lässt sich das eine oder andere schließen. Für mich ist es eine gelungene Sammlung, durch die ich Autor:innen entdeckt habe, von denen ich mehr lesen möchte.
Zum Glück liegt Band 2 bereit.
Von mir gibt’s

4/5!

 

Die schönsten Kurzgeschichten aus aller Welt: 2 Bände

 

504 Seiten / ISBN: 3 87070 062 9


 

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