Kreiseziehen – Maggie Shipstead

Werbung, da Rezensionsexemplar

Inhalt

„Kreiseziehen“ ist die Geschichte von Marian Graves. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der voller Sanftmut steckt, war sie schon immer unerschrocken und abenteuerlustig. Im Mai 1927, Marian war zwölf, weckte eine Zufallsbekanntschaft mit den Kunstfliegern Felix und Trixie Brayfogles ihr Interesse an Flugzeugen. Alle setzten darauf, dass sich ihre Leidenschaft legen würde, doch sie bastelte an Motoren und verwandelte sich optisch in einen Jungen. Sie fand Arbeit, sparte Geld. Obwohl niemand sie ausbilden wollte, blieb sie beharrlich – mit Erfolg.
Einen Tag nach ihrem 15. Geburtstag ist es so weit: Trout Marx nimmt sie mit in die Lüfte. Und er macht ihr ein Angebot, das sie weder ausschlagen noch annehmen kann. Marian will fliegen, frei sein – und landet doch in einem Käfig.

„Kreiseziehen“ ist zudem die Geschichte von Hadley Baxter, die ein Händchen dafür hat, sich in Skandale zu verwickeln. Sie hat schon im Alter von zehn Jahren von Marian Graves gelesen, die 1950 mit ihrem Navigator Eddie Bloom bei dem Versuch verschwand, die Erde der Länge nach über den Nord- und Südpol zu umrunden. Hadleys Eltern starben bei einem Flugzeugabsturz – und doch übernimmt sie 2014/2015 die Hauptrolle, spielt die Pilotin Marian Graves, stellt sich ihren Ängsten.

Marian Graves

Die Geschichte um Marian Graves, die im September 1914 geboren wurde und im Dezember desselben Jahres bei einer Explosion an Bord der „Josephina Eterna“ fast ihr Leben verlor, fesselte mich von Anfang bis Ende. Sie wuchs bei ihrem Onkel Wallace, einem Maler, in Missoula, Montana, zu einem furchtlosen Wildfang heran, der plötzlich nur noch ein Ziel hatte: das Fliegen zu erlernen. Ihr Mut und ihre Willensstärke nahmen mich gefangen. Die Verbindungen zu ihrem Zwillingsbruder Jamie und dem gemeinsamen Kindheitsfreund Caleb haben mich gekriegt. Es gab nichts, das mich im Zusammenhang mit ihrer Person nicht interessiert hätte.

Wie wir durch den Strang um Hadley direkt zu Beginn erfahren, verschwand Marian im Jahre 1950. Was würde bis dahin geschehen? Wie ist Marians turbulentes Leben verlaufen? Ich war gespannt, welche Umstände dazu führten, dass die routinierte Pilotin, die sich niemals unterkriegen ließ, in den Tod flog.

Marian Graves ist eine fiktive Figur. Es fiel mir beim Lesen schwer, das zu glauben, aber es stimmt. Sie ist eine starke Protagonistin, die ihre Grenzen austestet, und in jeder Sekunde meine volle Aufmerksamkeit hatte.

Hadley Baxter

Es gibt Gemeinsamkeiten sowie auffällige Gegensätze zwischen dem einfachen Leben von Marian Graves und dem Hollywood-Life der Hadley Baxter.

Sowohl Hadley als auch Marian sind bei ihrem Onkel aufgewachsen. Die Brüder ihrer Väter waren nicht die fürsorglichsten Bezugspersonen, wobei ich Marians Onkel Wallace deutlich sympathischer fand als den eher derben und wenig kindgerechten Mitch.
Hadley verlor ihre Eltern, als diese von einem Flug mit deren Cessna nicht zurückkehrten. Marian ließ ihr Leben bei dem Versuch, die Pole zu überfliegen. In beiden Fällen fand man keine Spur.
Marian und Hadley haben in gewisser Weise mit ihrer Rolle als Frau zu kämpfen. Sie sind unangepasst.

Marian hat mich mitgerissen, ich war gebannt von ihren Erlebnissen. Hadley hat das nicht immer geschafft. Die Hollywoodschauspielerin ist verloren, will gesehen werden. Ihre Abschnitte lasen sich anders, „slang-iger“ als Marians Teil, den ich sprachlich lieber mochte und deutlich interessanter fand. Zum Ende hin haben mich die Entwicklungen abgeholt, davor kam mir ihr Mitwirken oft entbehrlich vor.

Hadley spielt nicht nur eine Rolle, sie stellt mit einem künstlichen Flugzeug und Ozean gleichzeitig den Tod ihrer eigenen Eltern nach. Es ist tough, dass sie sich mehrfach ihren Ängsten aussetzt. Sie entwickelt sich weiter. Immerhin.

Die übrigen Personen

Addison, Vater von Marian und Kapitän der „Josephina Eterna“, hatte eine besondere Wirkung auf mich. Ich hätte gerne mehr von ihm gelesen. Ich fand seinen Zwiespalt und die Entscheidung, die er an Bord getroffen hat, nachvollziehbar. Gleichzeitig haderte ich mit seinem späteren Beschluss. Es gab zu jeder Zeit eine gewisse Hoffnung meinerseits, dass zu ihm noch etwas kommen würde.

Jamie, Marians Zwillingsbruder, hat mich ebenfalls überzeugt. Er hat ein großes Herz, auf das er hört. Ich konnte seine Tierliebe und Ansichten nachvollziehen. Insbesondere über seine Zeit in Seattle im Mai 1931 habe ich gerne gelesen. Ich war gespannt, wie sein Leben verlaufen würde.

Die tiefe Verbundenheit zwischen Caleb und Marian hat mich umgehauen. Ehrlich: wunderbar.

Die handelnden Personen in „Kreiseziehen“ haben und machen Fehler. Alle in diesem Buch stellen sich auf die eine oder andere Art und mit unterschiedlichem Erfolg ihren Ängsten. Marian, Jamie, Addison und Wallace, Eddie. Hadley. Ihre Entscheidungen konnte ich verstehen, ihre Gedankengänge werden erläutert. Ich mochte das. Die Figuren wirken real, ihr Verhalten authentisch.

Es geht um alles

In „Kreiseziehen“ geht es ums Fliegen.

"In der Luft sein, bedeutete, dass man für die Welt verloren war, nur für sich selbst nicht."
(Pos. 7881/10511)

Aber es geht nicht nur ums Fliegen, ganz und gar nicht. Es geht um alles:

Es geht darum, was es in der damaligen Zeit hieß, eine Frau zu sein – und zwar eine, die ihr eigenes Ding machen wollte.

Es geht darum, wie viel man aufgibt für seine Ziele. Und wie man reagiert, wenn man auf die Probe gestellt wird. Hält man an seinen Überzeugungen fest? Oder handelt man auch mal dagegen, wenn man sich etwas davon verspricht?

Es geht um die Diskrepanz zwischen dem, was Außenstehende denken, und der Wahrheit.

Es geht um die Macht von Gefühlen. Um Liebe, die vielen verschiedenen Arten davon.

Es geht um die Widersprüchlichkeiten des Lebens. Um die Fragen, die man sich beantworten muss – und um die, die auf ewig unbeantwortet bleiben werden.

Es geht um Mut.

Es geht um Leben und Tod.

Toll erzählter Wälzer

Mein Gedanke am Anfang war: Wahnsinn, wie viel in kurzer Zeit passiert. Der über 860 Seiten starke Roman hält Stoff für mehrere Bücher bereit. Ich finde es gelungen, dass die Autorin die Geschichte so geschrieben hat, wie sie sie geschrieben hat: am Stück, in eins durch. Dass sie keine Trilogie o.ä. daraus gemacht hat, auch wenn es vom Umfang her möglich gewesen wäre.

Die Story wird gemächlich erzählt. Es gibt Stellen, an denen ich dachte, diese wären rein seitenfüllend, was ein Werk dieses Ausmaßes kaum nötig hat. Tatsächlich lag ich falsch: Das Ganze bekommt eine Bedeutung, ist keineswegs unwichtig. Rückblickend betrachtet hat jeder Satz (zumindest in Marians Fall) seine Berechtigung.

Maggie Shipstead beweist in „Kreiseziehen“, was für eine großartige Geschichtenerzählerin sie ist. Nicht umsonst stand sie mit dem Roman auf der Shortlist des Women’s Prize for Fiction 2022. Sie hat es geschafft, mich über Hunderte von Seiten hinweg zu fesseln. Ich war gespannt, wie sich Marians Leben entwickelt, habe mich gleichzeitig für Jamie und andere Personen interessiert. Auch wenn ich Hadleys Part nicht immer mochte, freundete ich mich im Verlauf mit ihm an. Vom Umfang habe ich nichts gemerkt – ich hätte bereitwillig noch ein paar Kapitel gelesen.

Aufbau

Am häufigsten bekommen wir Einblick in Marians Leben, was mir gefallen hat, weil ihr Teil mich am stärksten mitgerissen hat. Ich war gebannt von ihren Erlebnissen und froh, dass wir ihr Dasein von Beginn bis Ende mitverfolgen durften.
Daneben gibt es Kapitel aus Hadleys Sicht. Sie erzählt aus der Ich-Form heraus. Wir begleiten sie für einen überschaubaren Zeitraum, so dass am Schluss einiges offenbleibt. Ihr Leben geht weiter.

Wahre Geschehnisse werden mit Fiktion verbunden. Der Fall von Amelia Earhart wird thematisiert, Charles Lindbergh findet Erwähnung.
Auf mich machte der Inhalt einen gut recherchierten Eindruck.

Bei neuen Kapiteln, die eine andere als die vorhergehende Zeit behandeln, werden einleitend nicht nur Ort und Datum aufgeführt, sondern, sofern es passt, zusätzliche Hinweise, etwa wie viel Monate/Jahre später sich das Ganze abspielt. So hatte ich stets einen guten Überblick, musste nie umherblättern, um herauszufinden, welche Zeitspanne zwischen den Abschnitten liegt und wo ich mich befinde.

Fazit

Marian Graves hat mich gekriegt. Ich habe ihre Reise unheimlich gerne verfolgt und den Wälzer in wenigen Tagen komplett verschlungen. Was für eine tolle Geschichtenerzählerin Maggie Shipstead ist! Was für eine imposante Story „Kreiseziehen“ bereithält! Was für eine starke Protagonistin Marian abgibt! Großartig!
Mit Hadleys Part hatte ich ein paar Schwierigkeiten. Ich fand ihn oft entbehrlich, habe mich aber letztlich mit ihm arrangiert.

Insgesamt bin ich begeistert von diesem ruhigen Buch, das so viel zu sagen hat.

4/5!

Kreiseziehen: Roman

864 Seiten / ISBN: 978-3-423-29020-3 / Originaltitel: Great Circle / Übersetzung: Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz


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