Nachtzug nach Lissabon – Pascal Mercier

Inhalt

Raimund Gregorius, auch Mundus und Papyrus genannt, wird in „Nachtzug nach Lissabon“ aus seiner Routine gerissen, als er auf der Kirchenfeldbrücke auf eine ihm fremde Frau trifft. Sie steht im strömenden Regen, liest einen Brief, auf den sie heftig reagiert. Springt sie? Nein. Als Gregorius bei ihr ist, greift sie kurzerhand zu einem Filzstift – und schreibt ihm eine Nummer auf die Stirn. Der Altphilologe, seit 30 Jahren Gymnasiallehrer, nimmt die Unbekannte mit in den Unterricht, doch sie verschwindet. Portugiesisch ist ihre Muttersprache, mehr weiß er nicht über die Frau im roten Ledermantel. Dennoch: Ihr Auftauchen hat etwas losgetreten in Gregorius, der seine Schüler ansieht – und das Gegenteil seines Lebens entdeckt: Sie haben noch so vieles vor sich. Und er? Der kurzsichtige 57-Jährige, von dem keine Überraschungen zu erwarten sind? Die Zeit verrinnt – und plötzlich sieht er es.
Er verlässt den Unterricht, landet in einer Buchhandlung, findet ein Buch, das aus einem Antiquariat in Lissabon stammt. Es ist das Werk von Amadeu Inácio de Almeida Prado aus dem Jahre 1975, das übersetzt „Ein Goldschmied der Worte“ heißt. Gregorius ist fasziniert – und will den Autor aufspüren.

Einstieg

Die ersten Seiten fand ich großartig. Wir werden mitten hineingeworfen in die Szene mit der Unbekannten, die Gregorius aus der Bahn wirft – und auch mich verunsicherte. Denn wie wild ist es bitte, dass die Frau ihm auf die Stirn schreibt? Warum dorthin? Und wieso störte mich das? Ich blickte immer wieder zurück, machte mir Gedanken:

Für mich steht die Stirn hier für Gregorius‘ Verstand, seine übergroße Vernunft. Diese musste die Fremde durchkreuzen, sonst wäre mit und in ihm weiterhin nichts los gewesen.
Es musste eine Stelle sein, die sichtbar ist, ins Auge springt – und da Mundus eine Glatze trägt, bietet die Stirn den idealen Platz. Die Portugiesin hat ihn aus seiner Routine gerissen, hat sich mit ihrer Markierung am auffälligsten Ort verewigt. Wenn er versucht hätte, sie wegzuwischen, wäre dennoch etwas geblieben.
Er musste aus dem Konzept gebracht werden. Es funktionierte – selbst bei mir als Leserin. Hätte es mich verwirrt, wenn sie ihm auf die Hand gekritzelt hätte? Kein Stück. Und ihn? Na ja, es wäre eine Unterbrechung seines starren Alltags gewesen. Aber hätte es ihn nachhaltig beeindruckt? Etwas losgetreten? Es musste ungewöhnlich sein. Die Vernunft sollte durchkreuzt werden. Und das wurde sie.

Das Buch steckt voller Symbole, deren Deutung mich beschäftigte.

Raimund Gregorius – der Protagonist?

Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, die alten Sprachen waren es, die Gregorius faszinierten. Sie genügten ihm, jahrelang. Doch nun will er Portugiesisch lernen, eine Sprache fernab der vertrauten Langsamkeit, eine, die ihn früher nicht interessiert hätte.

Er ist ein gebildeter Mann, nahezu unfehlbar auf seinem Gebiet, der im Gegensatz zu der Portugiesin nie unüberlegt handelt; ein Verstandesmensch, der schlecht schläft, was Sinn macht, wenn man bedenkt, dass im Schlaf der Verstand abgestellt ist.
Sein enger Alltag in Bern gefällt ihm – bis ihm klar wird, dass die Zeit vergeht, das Leben nicht wartet. Ein Aussteiger? Zunächst einmal ein Einsteiger: Er bricht auf zu einer Reise, betritt den Nachtzug nach Lissabon.
Gregorius war schon immer kurzsichtig, hatte Angst vor dem Erblinden, lebte eher in alten Texten als der weiten Welt. Dass er in Lissabon eine neue Brille kriegt, ein leichtes Gestell mit Gläsern, durch die er besser und größer sieht, ist genauso bedeutungsschwer wie der Rest.

Gregorius kann als Protagonist angesehen werden. Oder auch nicht. Er war nötig, um dem fiktiven Prado näherzukommen – und dessen Texte einzustreuen. Der 57-Jährige ist eine unauffällige Person, die aus ihrem Alltag ausbricht. Er fährt dem Schnee, der Erstarrung davon. Solche Geschichten können funktionieren. Hier soll er aber gar nicht selbst der Held sein, obwohl er durchaus eine Entwicklung durchläuft. Der Platz ist reserviert für:

Amadeu Inácio de Almeida Prado – die Hauptfigur

Es waren die Worte des adligen Prados, von denen er sich angesprochen fühlte – und es war das Porträt des Arztes, das ihn fesselte. Auf dem Foto des Buches ist Amadeu etwa 30 Jahre alt. Gregorius liest einiges hinein in das Gesicht, das ihm entgegenblickt – und sehnt sich nach einer Stimme zu der wortgewaltigen und schonungslos ehrlichen Person, einer Bewegung. Er möchte ihn kennen und verstehen lernen, wissen, wie es war, dieser Mann zu sein, der Kathedralen liebte und eine gotteslästerliche Rede hielt, der Grausamkeit verabscheute und eine umstrittene Entscheidung traf. In den 60ern müsste der Portugiese nun sein – und Gregorius will ihn finden.

Durch Amadeu de Prado spielt das Buch nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Vergangenheit, genauer gesagt zur Zeit der Widerstandsbewegung unter Salazar.

Seine Recherchen bringen Gregorius nicht nur ins Tun, er denkt nach: Wohin hätten sie geführt, all die Wege, die er gedanklich, aber nie tatsächlich gegangen ist? Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er anders gehandelt, sein Isfahan-Ziel erreicht hätte? Welche Alternativen wären möglich gewesen?
Und ob man will oder nicht: Diese Gedankengänge sind ansteckend.

Die Figuren

Es gibt weitere Menschen, die eine bedeutende Rolle spielen, beispielsweise Amadeus Schwester Adriana, deren Leben ebenfalls erstarrt ist (Erstarrung, Schlaflosigkeit, Müdigkeit, Wachheit – überall). Seit 31 Jahren hat sich für sie die Uhrzeit nicht geändert – doch die Zeit bleibt nicht stehen, nur weil wir die Zeiger anhalten. Ob Gregorius ihr das vermitteln kann?

Ich finde die Charaktere in Ordnung, wenn auch nicht sehr glaubwürdig.
In Adrianas Fall geht mir der Umschwung zu schnell und einfach vonstatten. Der Abschied ist wenig befriedigend, passt aber ins Bild.

Offene Fragen, (k)ein offenes Ende

„Nachtzug nach Lissabon“ ist ein Buch voller Fragen. Viele davon bleiben unbeantwortet. Das macht den meisten keinen Spaß (ich zähle mich dazu), weil man sich ohne konkreten Abschluss schnell hängengelassen fühlt. Ich finde es hier größtenteils passend, hätte mich aber über den einen oder anderen näher beschriebenen Ausgang gefreut.
Es ist der Unbekannten am Anfang zu verdanken, dass etwas in Gregorius in Gang kommt – und sie war es, die mich in diese Geschichte zog, weil mich ihr Auftritt irritierte. Ich wollte mehr über sie erfahren, habe mir gewünscht, dass sie weiterhin eine Rolle spielt. Der Autor hat eine andere Entscheidung getroffen, hat Gregorius diesen Weg nicht gehen lassen. Ich akzeptiere und betrauere das gleichermaßen.

So müssen wir uns einige Antworten selbst geben. Das betrifft auch Gregorius‘ Ausstieg aus der Story. Das Ende mag für manche offen sein. Für mich besiegelt der letzte Satz sein Schicksal. Schon allein das Wort vor dem Schlusspunkt und die dazugehörige symbolische Bedeutung vermitteln mir eine grobe Vorstellung von der Richtung, in die das Ganze gehen könnte. Mir erscheint die Deutung stimmig, möglicherweise spricht hier aber mein Wunsch, nicht völlig ohne etwas dazustehen, so dass ich nicht erkenne, wie offen es tatsächlich ist. Da ich ein Ende brauche, positiv oder negativ, irgendeins, klammere ich mich eben an die Anhaltspunkte, die ich sehe.

Aufbau/Schreibstil

„Nachtzug nach Lissabon“ besteht aus vier Teilen: Der Aufbruch, Die Begegnung, Der Versuch und Die Rückkehr.

Wir folgen Gregorius in der Gegenwart auf seinem Selbstfindungstrip. Diese Abschnitte lesen sich leicht, ich mochte den Schreibstil, man spürt, dass der Autor, der unter Pseudonym schreibt, mit Wörtern umgehen kann. Auf einen Ich-Erzähler wird ebenso verzichtet wie auf ständige Dialoge.
Amadeu lernen wir durch Mundus‘ Nachforschungen und Prados Texte kennen. Seine komplexen Gedanken, die konzentrierteres Lesen erfordern, sind tagebuchähnlich oder als Brief verfasst. Wer nicht gern philosophische Prosa liest, könnte Schwierigkeiten mit dem Inhalt haben, den Gregorius übersetzt. Mir haben die Zeilen zugesagt, sie machten auf mich einen wohlüberlegten Eindruck, bringen zum Nachdenken, auf das Buch bezogen – und auf das eigene Leben.
Manche Passagen berührten mich tief, z.B. die über die „[…] Wucht, mit der Eltern in ihren Kindern Spuren hinterlassen […]“ (Pos. 4502/7206).

Trotz all der Schönheit: Es kam vor, dass ich mich gedanklich verabschiedet habe, zurückfinden und dadurch Sätze doppelt lesen musste. Manches war mir zu ausführlich. Der Einstieg war packend, danach bin ich vor allem wegen der Formulierungen drangeblieben. Die Handlung ist kaum mitreißend. Ein paar Seiten und Wiederholungen weniger hätten nicht geschadet.

Fazit

Die Sprache steht im Mittelpunkt – und zwar für Gregorius, Amadeu und in „Nachtzug nach Lissabon“ insgesamt. Mir hat der Roman über weite Strecken gefallen, auch wenn die Handlungen der Charaktere wenig glaubwürdig erscheinen und ich mich manchmal gedanklich zurückholen musste.

Ich empfehle das Buch Leser:innen, die philosophische Überlegungen schätzen und mit langsamen Geschichten sowie offenbleibenden Fragen klarkommen.

4/5!

 

 

704 Seiten / ISBN: 978-3-442-73888-5


 

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