„Seltsame Sally Diamond“ ist ein starkes Buch: düster, fesselnd, schockierend, traurig, teils amüsant, mit interessanten Hauptfiguren. Ich hab’s so gern gelesen!
Werbung, da Rezensionsexemplar
Inhalt
Weil Sally Scherze wörtlich nimmt, landet ihr Adoptivvater, der Psychiater Thomas Diamond, in der Feuertonne – und sie in den Schlagzeilen. Die 42-Jährige wurde mit sieben adoptiert, hat keine Erinnerung an ihr Leben davor, bezeichnet sich selbst als „sozial defizitär“. Die drei Briefe, die ihr Tom hinterlässt, sowie (zunächst) anonyme Postsendungen aus Neuseeland bringen nach und nach die schreckliche Wahrheit ans Licht: Was hat Sally Diamond als Mary Norton erlebt?
Einstieg
"Entsorg mich mit dem Müll", sagte er immer.
(eBook Kap. 1, Pos. 67/5289, 1 %)
Was für ein erster Satz. Was für eine ganze erste Seite, denn da die Diamonds ihren Müll stets verbrennen, steckt Sally ihren Adoptivvater in die Feuertonne, überschüttet ihn mit Benzin und zündet ihn an. Das Ganze fliegt nicht etwa durch einen Zeugen auf, sondern dadurch, dass sie den Vorgang für normal hält und in der Postfiliale in Carricksheedy selbst erzählt, um zu rechtfertigen, dass sie die Rente ihres Dads fortan nicht mehr abholt. Ups.
Sally Diamond
Als seltsam wird Protagonistin Sally bezeichnet, denn sie ist anders, ohne dass eine der gängigen Bezeichnungen zu ihr passt. In einem seiner Briefe schreibt ihr Adoptivvater Thomas:
"Wegen dieser Kindheitserfahrungen bist du manchmal emotional abgekoppelt, von dir selbst und von anderen."
(eBook Kap. 17, Pos. 1162/5289, 22 %)
Und:
"Bei dir hätte man eine Angststörung oder eine PTBS diagnostizieren können. Manch einer hätte womöglich sogar behauptet, es liege eine Autismus-Spektrum-Störung oder eine Bindungsstörung vor. Tatsächlich bist du einfach ein bisschen seltsam, mehr nicht."
(eBook Kap. 12, Pos. 734/5289, 14 %)
Am liebsten bleibt Sally drinnen; muss sie raus, stellt sie sich überwiegend taub. Man könnte sagen: Sie hat immer in einer Art Gefangenschaft gelebt, früher in einer tatsächlichen, später in einer (mehr oder weniger) freiwilligen. Insofern hatte sie nie Freunde – und damit hat Liz Nugent eine Hauptfigur geschaffen, die ein enormes Veränderungspotenzial birgt. Ich habe nicht nur die Frage, was Sally als Kind erlebt hat, mit Spannung verfolgt, sondern auch ihre Entwicklung.
Peter
Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, zunächst von Sally in der Ich-Form, im zweiten Teil kommt ein Erzähler hinzu: Peter. Ich gebe es zu: Anfangs habe ich mich schwergetan, fand seine Reaktionen unglaubwürdig. Nach und nach konnten auch seine Einblicke mich überzeugen. Letztlich ist sein Part nicht weniger spannend oder komplex als Sallys, im Gegenteil: Er hat eigene Erinnerungen an seine Vergangenheit, musste schwerwiegende Entscheidungen treffen. Ich lese mit Vorliebe über Figuren wie ihn, Menschen, über die ich so gerne sagen möchte: Ich sehe da etwas, er hat einen Funken Gutes, ein Herz. Er ist nicht böswillig. Das geht aber nicht so einfach, denn er hat zu viel Schlechtes erlebt, weshalb er alles andere als ein sympathischer und astreiner Charakter ist. Das macht mich wahnsinnig. Ich habe sehr mitgefiebert – und das Ende … das Ende.
Aufbau
Das Buch besteht aus drei Teilen und 56 Kapiteln. Wir springen hin und her zwischen Irland und Neuseeland, Gegenwart und Vergangenheit, Sally und Peter, die aus der Ich-Perspektive erzählen.
Es handelt sich bei „Seltsame Sally Diamond“ um eine düstere Geschichte, die Themen wie Kindesentführung und -misshandlung sowie Rassismus thematisiert. Es gibt humorvolle Stellen, die das Ganze auflockern. Eine Wohlfühllektüre haben wir hier unter keinen Umständen, aber einen packenden Psychothriller, den ich verschlungen habe und der zum Mitfühlen bringt.
Am 29.11.2017 verbrennt Sally den 82-jährigen Thomas Diamond, am Ende des Buches herrscht das Corona-Virus. Auch die Vergangenheit wird beleuchtet, so dass wir einen umfassenden Eindruck von Sallys und Peters Leben bekommen.
Eine Enttäuschung zum Abschied?
Es ist schwer, das Ende zu lesen, weil es kein glückliches ist. Ich kann alle verstehen, die nach Kapitel 56 sauer sind. Aber ehrlicherweise passt es zum Inhalt. Es verdeutlicht die schlimmen Auswirkungen solcher Erlebnisse, zeigt uns kein Happy End fernab der Realität. Man lässt so etwas nicht einfach hinter sich.
Wir haben auf Sallys Seite ein Auf gesehen und am Schluss ein Ab – bleibt zu hoffen, dass für sie wieder bessere Zeiten kommen.
Der Prolog zeigt uns eine dritte Perspektive – und hier lese ich zweierlei. Einerseits, durch etwas, das ich aus Spoilergründen nicht benennen will, symbolisiert: Die Vergangenheit kann hartnäckig sein. Und andererseits ist da Hoffnung. Es kann etwas Gutes aus einem werden, unabhängig davon, was man erlebt hat und wo man herkommt. Ein Kreislauf kann unterbrochen, Leid muss nicht ewig weitergegeben werden. So lese ich das.
Fazit
„Seltsame Sally Diamond“ ist ein starkes Buch: düster, fesselnd, schockierend, traurig, teils amüsant, mit interessanten Hauptfiguren. Ich hab’s so gern gelesen!
Seltsame Sally Diamond – Liz Nugent
Originaltitel: Strange Sally Diamond (2023)
Übersetzung: Kathrin Razum
Verlag: Steidl
Erschienen: 30.05.2024 / 16.05.2024
Seiten: 337
ISBN: 978-3-96999-322-4
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8 Antworten
Anhand des Covers würde ich mir dieses Buch überhaupt gar nicht näher anschauen. Deine Rezension liest sich allerdings interessant. Wenn mir das Buch über den Weg läuft, greife ich zu.
Tatsächlich reizt mich das Cover auch nicht besonders, aber ich fand den Titel interessant – und nach der Beschreibung war mir klar, dass ich es lesen muss. Bin gespannt, wie es dir gefällt, ich fand’s echt gut. :)
Wow, das klingt richtig gut und nach einem Buch für mich. Wird es auch blutig oder steht mehr Psycho als Thriller im Vordergrund? :)
Kommt auf jeden Fall auf meine Wunschliste.
Liebe Grü´ße
Marie
Oh ja, mir hat es auch wirklich gefallen.
Es ist – vor allem in Peters Anfängen – ein wenig blutig, aber nicht sehr. Vieles wird nur angedeutet, ohne dass wir „live“ dabei sind. Es ist mehr Psycho als Thriller in meinen Augen.
Liebe Grüße :)
Da hast du wieder ein Buch vorgestellt, das definitiv bei mir einziehen wird. Solche Geschichten sind genau meins.
Liebe Grüße
Ich bin gespannt, was du sagst. Ich hab’s begeistert verschlungen. :)
Hallo liebe Jessica,
ein Besuch auf deinem Blog lässt meine Wunschliste immer wieder ein klein wenig wachsen. Über die Jahre hinweg habe ich mich in bestimmten Genres „festgelesen“. Bei der Menge an Neuerscheinungen und nur einem begrenzten Maß an Lesezeit fällt es schwer über den Tellerrand zu schauen. Dein Blog und deine Beiträge liefern die nötige Motivation es doch mal zu tun.
Zu diesem Buch hätte ich vermutlich nie gegriffen. Was ein Fehler gewesen wäre! Deine Rezension macht so neugierig. Ich liebe ja Geschichten, die hinter die Fassade von Menschen blicken und psychologisch in die Tiefe gehen. Das scheint hier in großem Maße gegeben.
Du hattest mich schon mit dem Einstieg.
Vielen Dank für diese wirklich interessante Empfehlung. Kommt sofort auf die Wunschliste.
Ganz liebe Grüße
Tanja :o)
Hey Tanja,
danke für deinen lieben Kommentar. Ich bin gespannt, wie dir das Buch gefällt. Da du es magst, wenn hinter die Fassade geblickt und psychologisch in die Tiefe gegangen wird, dürfte es deinem Geschmack entsprechen – ich mag das nämlich auch sehr und habe den Roman so gern gelesen.
Viele Grüße