22 Bahnen – Caroline Wahl

22 Bahnen - Caroline Wahl

„22 Bahnen“ von Caroline Wahl ist eine berührende Geschichte – auch wenn ich sie nicht so gefühlt habe, wie erhofft.

3/5

Inhalt

Mathematikstudentin, Kassiererin, Tochter einer Alkoholikerin, große Schwester und Mutterersatz: Tilda Schmitt hat einiges zu stemmen. Sie steht vor ihrer Masterarbeit, als Professor Klein eine Promotionsstelle an der Humboldt-Universität ins Gespräch bringt. Mathe den ganzen Tag, eine eigene Wohnung in Berlin, es klingt verlockend. Doch wie könnte sie die zehnjährige Ida bei dem „Monster“ lassen?

Geschwister-Empowerment …

Tilda ist nicht nur Idas Schwester, sie ersetzt auch die Mutter, die es nicht schafft, für ihre Töchter und sich selbst da zu sein. Sie ist mit der Zeit abgehärtet – im Gegensatz zu Ida, die innerhalb der Geschichte die Grundschule abschließt und in die 5. Klasse eines Gymnasiums wechselt. Verständlicherweise fällt es Tilda schwer, sich vorzustellen, Ida in der nicht genannten Heimat zurückzulassen und nach Berlin zu gehen. Sie wird es höchstens dann in Betracht ziehen, wenn es ihr gelingt, ihre Schwester stark zu machen, vorzubereiten auf ein Leben, in dem sie bereit sein muss, sich gegen ihre Mutter zur Wehr zu setzen.

Tilda hat den Namen ausgesucht: Ida; hat ihr Buchstaben aus ihrem eigenen geschenkt. Und nun will sie ihr erneut etwas mitgeben, sie zu einer Kämpferin machen, wie sie selbst eine werden musste. Dieser Teil hat mir gefallen. Ich habe Idas Entwicklung gern mitverfolgt, all die kleinen Veränderungen und großen Schritte, die sie gemacht hat. Ich mochte, dass wir keine Blitz-Verwandlung, sondern auch Anlaufschwierigkeiten sehen.

… und die Liebe

Die Protagonistin zählt alles: Sekunden, Minuten, Schwimmbahnen, die Anzahl an Bissen, mit der ihre Mutter ein Brot isst – an den Libellen in ihrem Bauch scheitert sie jedoch. „Das hier ist keine Liebesgeschichte“, betont sie, doch das Mathe-Ass hat sich verkalkuliert. „22 Bahnen“ sollte keine Lovestory werden, ist aber sehr wohl eine.

Viktor Wolkow ist der große Bruder von Ivan. Mit Letzterem hat sie einen einzigen Sommer erlebt, am 01. Juni begann er, am 09. August endet er – und Ivan starb. Fast fünf Jahre ist das her, doch Tilda kann die Erinnerungen nicht hinter sich lassen, zumal eine Frage unbeantwortet ist, vor deren Antwort sie sich fürchtet.

Sie lernt Viktor im Schwimmbad kennen. Er zieht 22 Bahnen – wie sie. Bzw. wie sie bisher, denn sie schwenkt auf 23 um, lieber eine mehr, als eine erste Verbindung zuzulassen. Am Ende kann sie schwimmen und rechnen so viel sie will: Gegen die „fetten Libellen“ ist sie machtlos.

Der Part, in dem es darum geht, Ida für das Leben zu rüsten, hat mir besser gefallen als die Liebesgeschichte. Ich habe sie zu wenig gefühlt. Das war allgemein ein Problem, das ich mit diesem Buch hatte:

Für mich zu kühl

Tilda wirkt hart, trocken – und so liest sich der Text. Mir war das zu distanziert. Ich erkenne, dass sie darunter weich ist, nehme die Tränen wahr, die sie zurückhält, akzeptiere, dass sie lieber schweigt, als zu hören, wie ihre Stimme bricht. Mich erreichten die Worte aber leider nicht wie erhofft. Ich habe mich bei der Thematik mit Taschentüchern hantieren sehen, war total bereit. Es kam nichts. Wenn ich über die Geschichte nachdenke, berührt sie mich mehr, als zu dem Zeitpunkt, da ich sie vor Augen hatte. Das ist schade – und etwas Persönliches. Nur weil ich die gewünschte Extraportion Gefühle nicht kriege, heißt das nicht, dass das Buch schlecht ist. Es bedeutet nur, dass ich als Warmduscherin nicht gerne in kalte Becken springe.

Der Autorin ist es gelungen, nicht ins Sentimentale und Kitschige zu gehen, sondern trotz der schweren Themen eine gewisse Leichtigkeit beizubehalten, Mut und Zuversicht zu vermitteln. Es ist eine Geschichte, die sich nicht so leidvoll liest, wie sie ist. Die gezeigten Entwicklungen sind eine Stärke des Romans. Den Schwestern gelingt es, sich im Schwimmbad, in Büchern und der Kunst Auszeiten zu nehmen. Völlige Hoffnungslosigkeit wäre verständlich, ist hier aber nicht anzutreffen. Sie schaffen es, das Gute zu sehen:

"Also eigentlich sind wir eine überwiegend intakte Familie. Zu 66,67 Prozent. Wir sind intakte Schwestern. Zu 100 Prozent."

Die vielen positiven Stimmen wundern mich nicht, auch wenn ich mich nicht vollumfänglich anschließen werde. Ich habe das Lesen aufgeschoben, immer wieder, habe eine Woche für 208 Seiten gebraucht. Die Geschichte fesselte mich nicht, weil ich sie zu wenig spürte. Die Erzählstimme berührte mich nicht. Ich habe nichts gegen ruhige Bücher, aber ich will sie fühlen.

Aufbau/Stil

Der Roman, in der Ich-Form geschrieben, besteht aus 3 Teilen. Der Schreibstil ist einfach und locker. Die Jugendwörter erinnern daran, dass es sich um eine junge Frau handelt, die viel zu früh erwachsen werden und Verantwortung übernehmen musste.

Tildas Mathe-Vorliebe wird verdeutlicht, indem Zahlen der ausgeschriebenen Schreibweise vorgezogen werden, etwa „2 miteinander quatschende Mütter“ oder „1-mal“. Ich bin ein Fan des geschriebenen Wortes, die Ziffern bremsten mich aus. Zu der Erzählerin passt es.

Die knappen Dialoge sind nicht durchgängig mit Anführungszeichen gekennzeichnet, häufig ist Äußerungen der Name der sprechenden Person vorangestellt. Das ist gewöhnungsbedürftig, aber effektiv. Wir erkennen, wann Tildas Antwort auf ihren Gedanken basiert, ob sie sie direkt ausspricht (mit den Wiederholungen muss man leben) oder zurückhält. Auch freundliche Lügen entgehen uns nicht.

Die Kassiertätigkeit unterfordert und langweilt sie, ist aber nötig, um die Familie zu ernähren. Immer wieder spielt Tilda ihr Ratespielchen: Wer hat die Waren ausgesucht, die sie über den Scanner zieht? Kennt sie den Menschen hinter dem Einkauf?

Der Roman ist unkonventionell, fällt auf durch seine Besonderheiten.

Fazit

Mir war die Erzählstimme in „22 Bahnen“ zu sachlich, andererseits ist sie überaus gelungen, weil Tilda genau so sprechen und die Geschichte vermitteln würde. Es ist eher ein cooles als ein rührendes Buch – und das ist völlig in Ordnung.

22 Bahnen - Caroline Wahl

22 Bahnen – Caroline Wahl

Verlag: DuMont

Erschienen: 18.04.2023

Seiten: 208

ISBN 978-3-8321-6803-2

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Rezensionen anderer Blogger:innen

Alexander von Kommunikatives Lesen

bezeichnet "22 Bahnen" als "Teenager-Liebesroman-Krisenbuch" und gibt einige Einblicke in den Text.

Sabine von Buchmomente

hat das Hörbuch rezensiert. Sie war "gerade in der zweiten Hälfte oft berührt".

Deine Meinung

6 Antworten

  1. Meine längere Rezension wird erst in 9 Tagen herauskommen. Ich schließe mich in vielem an. Mich hat das Nicht-Ausschreiben der Zahlen sehr gestört, und auch, dass der Plot um die beste Freundin Marlene gar keine Rolle spielt und die Verknüpfung über Ivan im Grunde auch nicht nötig ist, wie auch nicht, dass sie Mathematik studiert. All das beiseite genommen, hatte ich Freude an diesem Buch, denn es ist eine sehr willensstarke Protagonistin, die mich sehr an Yaghoobifarahs „Ministerium der Träume“ erinnert hat. Es ist wütend, aber auch intensiv, nicht sentimental, wie du sagst, aber lebendig. Da kann ich über all die Ungereimtheiten fröhlich hinwegsehen :) Viele Grüße und Danke für die Verlinkung!

    1. Ja, ich habe gesehen, dass [lang] noch nicht vorhanden war, aber „Teenager-Liebesroman-Krisenbuch“ fand ich gut, das wollte ich verlinken. :)

      Mir waren die Marlene/Leon-Anteile tatsächlich auch zu lang dafür, dass sie letztlich wenig bedeutsam erscheinen. Klar, das Abendbrot-Thema und die Unterschiede werden an Marlenes Beispiel deutlich, aber ansonsten … ?

      Tilda ist eine willensstarke Protagonistin, da stimme ich zu. „Ministerium der Träume“ kenne ich noch nicht, da schaue ich gleich mal.

      Liebe Grüße

  2. Hallo Jessica,

    jetzt bin ich doch noch rum gekommen, um deine Meinung zu „22 Bahnen“ zu lesen. Ja, der Inhalt passt zum ersten Eindruck, den ich von Caroline Wahl hatte. Die Zurückhaltung mit den Gefühlen ist immer so ein Thema. Gefühle zu zeigen macht dem Menschen nahbar und das ist mir in Büchern auch sehr wichtig. Mal sehen, wann ich mir das Buch zu Gemüte ziehe.

    Liebe Grüße
    Tina

  3. Guten Morgen Jessica.
    Ich habe es gerade als Hörbuch beendet und bin eher enttäuscht. Ich hatte eine Geschicht erwartet, die mich stark berührt, aber das hat sie gar nicht. Deine Kritikpunkte kann ich absolut nachvollziehen (die Zahlen haben mich sehr gestört), aber vor allem fand ich den Umgang mit Drogen sehr fragwürdig. Die werden eher so als Süßigkeiten gesehen, hatte ich das Gefühl und auch in Verbindung mit der alkoholkranken Mutter fand ich den unreflektierten Drogenkonsum etwas merkwürdig. Aber vielleicht ist mir hier auch etwas entgangen?
    Liebe Grüße
    Marie

    1. Liebe Marie,

      das kann ich verstehen. Mit den Drogen ging es mir ähnlich, ich fand es schon schwierig, dass sie ihrer kleinen Schwester kommentarlos Red Bull verkauft, aber hey – es ist ja nicht verboten. ;) Ich glaube, dass dargestellt werden sollte, wie verbreitet die Themen sind, wie leicht man mit ihnen in Kontakt kommt und hineinrutschen kann. Dass Tilda ihre Trips hinter sich gelassen hat, unterstreicht ihre Stärke, während die Mutter eben nicht vom Alkohol loskommt, egal, was ihre Sucht für sie und ihr Umfeld bedeutet. Ich fand insgesamt, dass vieles zu oberflächlich betrachtet und nicht richtig genutzt wird. Aus dieser Haus-Ausräum-Aktion (na ja – und allem anderen) hätte emotional so viel mehr gemacht werden können. Aber die Geschichte sollte eine lockere sein – und das ist sie.

      Liebe Grüße

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