Werbung, da Rezensionsexemplar
Gestorben – und doch noch da
Wallace Price, kühler und eigennütziger Anwalt, hatte nur eines im Sinn: Seine Arbeit. Die Kanzlei stand an erster Stelle. Was gingen ihn die Probleme der Angestellten oder das gelegentliche Brennen in seiner Brust an? Nichts.
Als er sich in „Das unglaubliche Leben des Wallace Price“ bei seiner eigenen Beerdigung wiederfindet, kommt er ins Grübeln. Fünf Anwesende, von denen vier über ihn herziehen? Die fünfte Person kennt er nicht. Noch nicht. Denn sie ist sein Sensenmann, gekommen, um ihn abzuholen und zum Fährmann zu bringen. „Charons Fähre“ ist eine Zwischenstation auf dem Weg ins Jenseits. Zumindest sollte sie das sein. Doch Hugo und der Rest der Crew verändern alles – und Wallace ist nicht bereit zur Abreise…
Der Tod
Nicht jede*r liest gerne über den Tod, deshalb möchte ich es betonen: Er spielt eine tragende Rolle. Manchmal ging es schnell, teils waren die Umstände brutal, ein anderes Mal lesen wir von einem Suizid. Wir sind nicht live dabei, wenn jemand stirbt, wir bekommen nachträgliche Einblicke und Details. Das Thema ist allgegenwärtig, dient als Augenöffner.
Ein langer Einstieg
Anfangs war ich nicht begeistert. Das Buch umfasst 480 Seiten. Es ist keine kurze Geschichte, was in Ordnung ist, ich mag das. Allerdings kam mir das Gelesene in „Das unglaubliche Leben des Wallace Price“ lang vor. Es zog sich hin. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es vorwärtsgeht, dass ich vorankomme, dass jedes Wort nötig gewesen wäre. Es fehlte mir an Schwung. Nicht selten ist es so, dass Bücher in der Mitte durchhängen – hier war für mich das Gegenteil der Fall. Je weiter ich kam, desto mitreißender und berührender fand ich die Story. Durchhalten lohnt sich.
Wallace‘ Wandlung
Mit Wallace, dem berechnenden Anwalt, hat T. J. Klune zunächst eine sehr unsympathische Figur erschaffen. Ein Wagnis? Nein, eine Chance. Denn die Änderung, die der Protagonist vornehmen kann, ist riesig. Und der Autor nutzt das Potenzial aus.
Für mich war die Charakterentwicklung mehr oder weniger glaubhaft. Dass es möglich ist, von einem rücksichtslosen zu einem Menschen zu werden, der auf Empfindungen – fremde wie eigene – achtet, glaube ich. Mir ging es allerdings etwas flott. Einiges passte für mich nicht zusammen, so dass ich Schwierigkeiten hatte, Wallace authentisch zu finden. Der (ehemals) eiskalte Anwalt hat auf S. 247 beispielsweise einen „drolligen“ Gedanken – nach nicht einmal zwei Wochen Aufenthalt in Charons Fähre. Für mich ist Wallace niemand, der dieses Wort kennt oder benutzt. Schon gar nicht nach so kurzer Zeit. Er hat jahrelang an seiner Art gearbeitet, würde er in Rekordgeschwindigkeit seine empfindsame Seite entdecken und akzeptieren? Die Situation, in die er katapultiert wurde, ändert mit sofortiger Wirkung alles, klar, aber dass er derart fix aus seiner Haut kann, ist bemerkenswert.
Die übrigen Figuren
Ich mochte die Charaktere. Wallace, man ahnt es, bleibt kein Egoist. Hugo, der queere Fährmann, ist von Anfang an einfühlsam und einnehmend. Mei, der Sensenmann, ist temperamentvoll und liebenswürdig. Nelson, Hugos Opa, hat mir besonders gefallen. Er ist immer auf der Suche nach einem Späßchen. Auch die Beweggründe, die er für seine Handlungen hat, sind großartig und nachvollziehbar. Apollo, der Hund, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Ich fand die bunte Truppe herzgewinnend, alle hatten ihre Berechtigung und ich hätte auf niemanden verzichten wollen.
Emotional
Da mich Wallace nicht komplett überzeugt hat, konnte ich anfangs nicht mit ihm fühlen. Das hat sich geändert, aber es hat seine Zeit gedauert und war nicht so intensiv, wie es hätte sein können.
Für mich war das Rätsel um Nancy der Teil des Buches, der mich am meisten berührt hat. Die Geschichte, die dahintersteht, hat mich ergriffen. Ich war entsetzt, konnte Nancys Schmerz fühlen. Meine Augen haben gebrannt, mein Herz tat weh.
Es gibt weitere Stellen, die mich gekriegt haben. Auch wenn mir der Verlauf in groben Zügen klar war, fand ich die Szenen gut gewählt und in den richtigen Momenten gefühlvoll geschrieben.
Ernst und humorvoll
Es geht um den Tod. Immer und immer und immer wieder. Es ist ein ernstes Buch, eines, das potenziell Taschentücher fordert und zum Nachdenken bringt, auch wenn die Themen nicht neu sind. Gleichzeitig hat T. J. Klune seinen Text durch seine humorvollen Figuren aufgelockert und die eine oder andere alberne Sache untergemischt.
In „Mr. Parnassus‘ Heim für magisch Begabte“ spielten Kinder eine wichtige Rolle. Für mich passte der Ton, die Albernheit ins Bild. Hier sind es Erwachsene und der Tod, die im Fokus stehen, und ich hätte das Ganze etwas reifer erwartet. Es ist streckenweise recht quatschig. Ich möchte das nicht kritisieren, denn ich denke, es ist eine Art Wiedererkennungswert, etwas, das zum Stil des Autors gehört, ihn auszeichnet. Außerdem wäre das Buch ohne diese Ungezwungenheit zu schwer geworden. So ist es eine gelungene Mischung aus ernst und humorvoll, bedrückend und leicht, die ich gerne gelesen habe.
Fazit
Ich habe mich wohlgefühlt in „Charons Fähre“ und verstehe, dass es Wallace schwergefallen ist, die Crew loszulassen. „Das unglaubliche Leben des Wallace Price“ ist ein Mix aus modern, ernst, charmant, berührend und humorvoll. Anfangs kam sie mir zu langgezogen vor, letztlich habe ich die Geschichte liebgewonnen – genau so, wie sie ist.
4/5!
Das unglaubliche Leben des Wallace Price: Roman
480 Seiten / ISBN: 978-3-453-32146-5 / Originaltitel: Under the Whispering Door / Übersetzung: Michael Pfingstl
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3 Antworten
Wallace Price hat mich leider sehr enttäuscht, wahrscheinlich, weil ich Mr. Parnassus so sehr in mein Herz geschlossen habe. Ich hatte die gleichen wunderbaren Gefühle erwartet, die ich beim Lesen des ersten Buches verspürt habe. Und die waren nicht vorhanden …
„streckenweise recht quatschig“ passt perfekt. ;-)
Liebe Grüße
Marie
Ja, ich weiß, was du meinst. Das Quatschige könnte ich auch nicht immer ab. Und hier fiel mir zudem der Einstieg schwer. Ich bin auf das gespannt, das im Oktober erscheint.
Liebe Grüße