Inhalt
Scout war zwei, als ihre Mutter starb. Sie lebt mit ihrem Vater Atticus und ihrem Bruder Jem zusammen, Calpurnia ist die strenge, aber wohlmeinende Köchin der Finchs. Atticus ist ein Jurist und Menschenfreund. Als er in „Wer die Nachtigall stört“ die Pflichtverteidigung für Tom Robinson, einen Schwarzen, übernimmt, der eine 19-Jährige aus dem Ort vergewaltigt haben soll, tut er es gerne – zum Ärgernis vieler Bürger von Maycomb.
Jean Louise Finch
Jean Louise Finch, genannt Scout, ist die Ich-Erzählerin des Buches. Obwohl sie in den wichtigsten Szenen erst acht Jahre alt ist, ist die Sprache des Romans nicht kindlich. Sie war weit für ihr Alter, konnte lesen, bevor sie in die Schule kam, hat Zusammenhänge erkannt, die sich anderen nicht gezeigt hätten. Auch wenn man auf die Schnelle kein Mädchen wie sie finden wird, habe ich ihr ihre Rolle als cleverer Wildfang, der ab und an unfreiwillig komisch ist, abgekauft. Ich habe die Geschichte und Scouts Entwicklung gerne aus ihrer Sicht (im Rückblick) verfolgt.
Atticus Finch
Ich mochte Atticus so gerne. Er ist liebevoll mit seinen Kindern, versucht ihnen gleichzeitig Werte zu vermitteln. Der Rechtsanwalt glaubt an die Gleichheit aller Menschen, weshalb er Tom Robinson nicht nur gezwungenermaßen verteidigt, sondern sich wirklich für ihn einsetzt. Er ist nachsichtig, kaum aus der Ruhe zu bringen – und seiner Zeit weit voraus. Auch wenn er allein dasteht, er bleibt bei seinen Überzeugungen:
"'Das Einzige, was sich keinem Mehrheitsbeschluss beugen darf, ist das menschliche Gewissen.'" (S. 170)
Ruhige Familiengeschichte
Die Originalausgabe von „Wer die Nachtigall stört“ erschien 1960, die Geschichte spielt im Amerika der 30er Jahre. Es geht um Scout, anfangs sechs, die gegen die geltenden Regeln für Mädchen zu dieser Zeit verstößt. Ihr Bruder Jem ist vier Jahre älter.
Zunächst ist die Story wenig dramatisch, auch wenn die Kinder eine seltsame Faszination für ihren Nachbarn Arthur „Boo“ Radley empfinden. Der Mann, der sich nicht in der Öffentlichkeit zeigt, gilt bei ihnen als bösartiges Gespenst. Nichtsdestotrotz versuchen die Geschwister und ihr Kumpel Dill, der jeden Sommer bei seiner Tante Miss Rachel verbringt, immer wieder, ihn aus dem Haus zu locken. Dass dieses Thema noch eine wichtige Rolle spielen wird, ist bei dem Umfang, den es kriegt, zu erahnen.
Werte, Gerechtigkeit und Rassismus
Einzelne Bemerkungen gibt es schon vorher, aber erst nach über der Hälfte des Buches wird es ernst. Jem entwächst seiner Kindheit. Und der Prozess rückt näher. Es geht um Rassismus und Gerechtigkeit. Tom Robinson, ein Schwarzer, soll Mayella Violett Ewell im November 1934 vergewaltigt haben. Atticus weiß, dass er nicht gewinnen wird – und tut doch alles dafür.
"'Dass wir schon hundert Jahre vor Prozessbeginn besiegt wurden, ist noch lange kein Grund, untätig zu bleiben.'" (S. 125)
Der Wortwahl fällt der Zeit entsprechend aus: Für People of Colour werden N-Wörter benutzt. Der Text liest sich allgemein altmodisch, beispielsweise wird statt „Lehrerpult“ der Begriff „Katheder“ verwendet. Ich fand das nicht störend, sondern passend. Die Autorin ist eine großartige Geschichtenerzählerin. Die Ereignisse überschlagen sich nicht, aber der Roman weiß durch seine starken Figuren mit ihren ganz eigenen Stimmen zu überzeugen. Im Übrigen sind die Themen ebenso wichtig wie aktuell. Ich fand es ergreifend, wie die Geschehnisse die Kleinen mitgenommen haben. Die Aussicht darauf, dass mit fortschreitendem Alter die Gefahr besteht, sich an Ungerechtigkeiten wie diese zu gewöhnen, ist erschütternd – und realistisch.
Das Symbol der Nachtigall
Ich bin unvorbereitet an das Buch herangegangen und war gespannt, was es mit dem Titel auf sich hat. Die Nachtigall wird innerhalb der Geschichte nicht allzu oft erwähnt. Atticus sagt in Kapitel 10 zu Jem: „‚Aber vergiss nicht, dass es Sünde ist, auf eine Nachtigall zu schießen.'“ (S. 147). Miss Maudie bestätigt auf derselben Seite: „‚Sie tun nichts Böses […], sie singen sich nur für uns das Herz aus der Brust. Darum ist es Sünde, auf eine Nachtigall zu schießen.'“
Meiner Meinung nach steht die Nachtigall für die Unschuld, für unschuldige Menschen. Wenn man sich den weiteren Verlauf anschaut, das, was mit Tom Robinson fast und dann tatsächlich passiert, erscheint es stimmig. Auch am Ende (S. 438) wird das Symbol wirkungsvoll eingesetzt.
Da ist mehr
Ich glaube, dass man beim ersten Lesen einiges übersieht. Dass vieles eine tiefere Botschaft hat.
Ich habe zum Beispiel darüber nachgedacht, ob die Hunde-Szene (S. 151 ff.), die eine wichtige Bedeutung hat, weil sie verdeutlicht, dass Atticus zwar Gewalt ablehnt, zum Schutze aller notgedrungen aber doch handelt, mehr zeigt. Der Rechtsanwalt schaut genau hin: Liegt hier tatsächlich eine Gefahr vor? Ja. Aber auf den ersten Blick ist es nicht immer zu erkennen. Man muss abwägen. Ich weiß nicht, ob das von der Autorin beabsichtigt war, ich ziehe allerdings eine Parallele zu Mrs. Dubose. Die Alte ist unfreundlich und abstoßend, sie ist krank und erschreckt die Kinder durch ihre Anfälle, die dem des Hundes bzw. der Vorstellung Scouts davon (S. 154) nicht unähnlich sind. Der Unterschied ist: Sie ist ungefährlich. Ungehobelt? Ja. Eine Gefahr darstellend? Nein. Und weil Atticus ihren Hintergrund kennt, setzt er sich für sie und ihre Forderung ein. Er sagt sogar: „‚Mir lag daran, dass du sie etwas näher kennenlerntest. Ich wollte dir zeigen, was wirklicher Mut ist, statt dich in der Idee zu bestärken, dass ein Mann mit einem Gewehr in der Hand Mut bedeutet.‚“ (S. 180)
Elizabeth George schreibt in ihrem Ratgeber Wort für Wort, dass es sich um ihr Lieblingsbuch handele. Sie habe es mehr als zehn Mal gelesen und „immer etwas Neues erfahren“ – (S. 269). Ich sehe das. Ich werde es irgendwann noch einmal lesen.
Fortsetzung
Die Fortsetzung, deren Veröffentlichung erst Jahrzehnte später erfolgte, wurde vor „Wer die Nachtigall stört“ geschrieben. In „Gehe hin, stelle einen Wächter“ ist Jean Louise Finch Mitte 20.
Verfilmung
1962 wurde „Wer die Nachtigall stört“ verfilmt. Gregory Peck spielt Atticus Finch.
Fazit
Eine ruhige Geschichte, die viel zu sagen – und mich gekriegt hat.
5/5!
Wer die Nachtigall stört: Roman
448 Seiten / ISBN: 978-3-499-21754-8 / Originaltitel: To Kill a Mockingbird / Übersetzung: Claire Malignon – Überarbeitung: Nikolaus Stingl