„Isaac und das Ei“ von Bobby Palmer ist ein origineller Roman voller Widersprüche und Deutungsmöglichkeiten.
Werbung, da Rezensionsexemplar
Inhalt
"Isaac Addy steht auf einer Brücke und weiß nicht, ob er springen soll."
S. 11
Ein gelungener erster Satz, oder? Ich wollte weiterlesen.
Isaac Addy, der mit dem Verlust seiner Frau Mary klarkommen muss, springt nicht. Aber er schreit. Und etwas antwortet. Kein Mensch, kein Tier, nein, wie sich herausstellt, ist es ein Ei, das ihn von der Brücke – und zurück ins Leben holt.
Ein schreiendes Ei?
Ich weiß, ich weiß: Die Inhaltsangabe lässt viele Fragen aufkommen. Mir ging es beim Lesen nicht anders, auch wenn ich vorgewarnt war.
Ja, es geht um ein Ei. Es ist über einen halben Meter groß, hat elendig lange Arme, kann laufen und Geräusche von sich geben, letztlich sogar sprechen. Wer eine absolut realistische Geschichte sucht, wird mit dem Buch nicht glücklich. Diejenigen, die sich darauf einlassen können, bekommen mit „Isaac und das Ei“ einen Roman über zwei Verlassene, Zurückgebliebene, in dem sich einiges deuten lässt.
Ich kam mit der seltsamen Idee des Eis gut zurecht und fand sein Auftreten charmant. Das Buch hat mich nicht vollumfänglich eingefangen, doch das lag keinesfalls an dem Dino-Ei-großen Ei. Davon sollte man sich nicht abschrecken lassen.
Isaac Addy
Der Protagonist ist 29 Jahre alt – und am Ende. Seine Haut ist grau, seine Haare ebenfalls, er weiß nicht, wie er an die Orte kommt, an denen er sich wiederfindet, ob er Fragen laut ausspricht oder nur denkt. Er ist völlig hinüber, das wird deutlich. Und es verwundert nicht.
"Sie hatten immer "immer" gesagt, und jetzt ist das einzige "immer" in Isaacs Leben die Tatsache, dass Mary für immer weg ist und er für immer ohne sie wird leben müssen."
S. 82
Isaac Addy hat seine Frau verloren. Mary Moray war eine 30-jährige Autorin, die mit Isaac als Illustrator mehrere Bücher veröffentlicht hat. Sie gehörten nicht nur privat, sondern auch beruflich zusammen. Und nun ist Isaac alleine. Zumindest fühlt er sich so – und lässt weder seine Schwester noch andere Menschen an sich heran. Dann kommt das Ei. Und Isaac, dem alles genommen wurde, will es behalten.
Ruhig und langsam, bis …
„Isaac und das Ei“ ist ein widersprüchliches Buch. Es ist traurig, es ist lustig. Es ist realistisch und völlig abwegig. Ein Mix, der gerade aufgrund seiner Außergewöhnlichkeit funktionieren kann.
Trauer ist ein Prozess, der dauert, sich hinzieht. Die Geschichte verläuft daran angepasst: ereignisarm, ruhig und langsam, bis …
… wir auf Seite 152 Einblick in die Gedanken und Absichten des Eis bekommen. Die Worte wirkten wie ein Weckruf. Plötzlich war ich dabei und gespannt. Das Ganze wiederholt sich auf Seite 222. Ich mochte die Andeutungen und Vorwegnahmen, die eine gewisse Spannung hineinbringen.
Mir zu wenig ergreifend
Es ist die alte Leier: Ich will Bücher fühlen. Wenn es um Themen wie Verlust und Trauer geht, möchte ich, dass sie mich treffen, dass ich mit der Figur leide. Wenn ich über die Wörter nachdenke, die auf den Seiten stehen, dann ist diese Story tieftraurig und rührend. Als ich sie vor mir hatte, habe ich sie jedoch einfach heruntergelesen. Ich kannte es bis dato nicht, dass mich ein Cover (während und nach der Lektüre, nicht auf den ersten Blick) stärker erreicht als der Inhalt.
Ich habe eher über Stellen wie die über den Bad Boys-Fehler geschmunzelt, als dass ich berührt war. Insgesamt gibt es aber mehr potenziell bewegende Szenen, so dass ich nie richtig zufrieden war.
So viel zu meinen Problemen.
Unbestreitbar handelt es sich um ein wunderbar eigenartiges und kreatives Werk, das einige Sinndeutungen zulässt:
Was steckt hinter dem Ei?
Ist es ein Zufall, dass es sich bei dem Ei um ein Ei handelt? Um ein Ei dieser Größe? Ich denke nicht. Und ich glaube, dass man die Geschichte auf verschiedene Weise lesen und interpretieren kann.
Wenn du den Roman auf dich zukommen lassen willst, überspring diesen Part.
Solltest du auf der Suche nach Interpretationsmöglichkeiten sein, teile ich gern meine Gedanken mit dir:
Zunächst habe ich darüber nachgedacht, dass ein Ei eine Schale hat. Es ist zerbrechlich. Ebenso wie Isaac. Oder Isaacs Welt, die zerbrochen ist. Letztlich ist nichts und niemand unangreifbar.
Außerdem birgt ein Ei immer unbeantwortete Fragen, eine Überraschung: Ist etwas darin? Und was?
Darum geht es: Eine Schale lässt sich öffnen. Menschen können sich öffnen – und manchmal müssen sie es.
In der Literatur finden sich haufenweise Eier, die verschiedenste Bedeutungen und Aufgaben haben. Auch unser Ei hat einen Auftrag – bzw. es stellt die Herausforderung dar.
Für mich steht das Ei hier für die Trauer selbst – und symbolisch für den Ursprung und Neubeginn, für die Fruchtbarkeit, Zukunft und Hoffnung. Es ist ein trauriges Buch, das sich über weite Strecken mit Isaacs trübseliger Stimmung befasst, aber durch das Ei kommt etwas Seltsames und Witziges hinzu. Trauer darf ganz individuell aussehen und sich anfühlen wie etwas, das nicht von dieser Welt ist. So bedrückend dieser Roman ist, er ist auch komisch und lässt uns nicht am Boden zerstört zurück.
Konkret heißt das:
Isaac weiß zunächst nicht, ob er sich vor dem Ei fürchten soll (Trauer ist ein Thema, das man meidet. Trauer ängstigt, überwältigt). Doch er fühlt sich in seiner Hoffnungs- und Hilflosigkeit zu dem Ei hingezogen (er zieht sich von den anderen zurück). Er braucht das Ei (er muss trauern). Er will es behalten (wie soll er über Marys Tod hinwegkommen?). Aber letztlich ist er bereit: Isaac bemüht sich, mehr über das Ei zu erfahren. Er möchte ihm helfen, nach Hause zu kommen (er verarbeitet). Und dann, als er so weit ist, verabschiedet er sich von dem Ei (und akzeptiert).
In „Isaac und das Ei“ schlüpft nichts aus dem Ei, aber es wächst dennoch etwas Neues heran. Der Protagonist lernt, mit seinem Verlust umzugehen, sich auf das zu konzentrieren, das noch da ist.
Für mich ist diese Interpretation stimmig, aber ich bin – wie immer – interessiert an anderen Anschauungen.
Aufbau/Stil
Die Geschichte besteht aus zwei Teilen und wird in zehn Kapiteln (und dem namens „EINIGE ZEIT SPÄTER“) erzählt. Der Schreibstil ist einfach. Es gibt viele Wiederholungen. Ich mochte vor allem die Anspielungen auf den weiteren Fortgang. Ansonsten zog es sich für mich manchmal sehr in die Länge, insbesondere weil ich zu wenig mitfühlen konnte.
Neben der skurrilen Idee hat das Buch auch optisch einige Überraschungen und Abwechslung zu bieten, was ich sehr mochte, zumal es gut zu dem beruflichen Hintergrund unserer Hauptfigur passt.
Fazit
Isaac hat seine Frau verloren. Auf den Seiten steht, dass er trauert und wie sehr er zu kämpfen hat. Und ich glaube das gerne. Aber ich habe es nicht so gefühlt, wie ich mir das von solchen Geschichten erhoffe.
Dennoch ist „Isaac und das Ei“ ein origineller Roman. Bobby Palmer ist es gelungen, Humor in eine absolut ernste Angelegenheit einzubauen. Ich werde das Ei nicht so schnell vergessen.
Isaac und das Ei – Bobby Palmer
Originaltitel: Isaac and the Egg
Übersetzung: Felix Mayer
Verlag: Heyne
Erschienen: 14.06.2023
Seiten: 320
ISBN: 978-3-453-27416-7
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Marie von Wörter auf Papier
schreibt: "Nicht nur die Auflösung sorgt für Tränen."
Achtung!
Kommentare enthalten Spoiler!
2 Antworten
Achtung, Kommentar mit Spoilern :)
Liebe Jessica,
ich mag deine Interpretation sehr! Daran habe ich nicht gedacht, aber es macht absolut Sinn und ich mag deine Gedanken. Für mich war das Ei quasi gleichbedeutund zu seinem Kind, das im Krankenhaus liegt. Isaac sollte sehen, dass er sich um jemanden kümmern kann, auch wenn seine Welt zerbrochen ist. Zunächst ist ihm das Ei fremd (wie sein Sohn), langsam entwickelt er immer mehr Gefühle für das Ei und gleichzeitig für sein Kind. Ich hoffe, das klang nicht zu verschwurbelt. :)
Danke dir für die Verlinkung.
Alles Liebe
Marie
Hey Marie,
vielen Dank für den Kommentar, ich freue mich immer sehr, andere Interpretationen zu lesen! Und deine finde ich wirklich toll und passend. Es beginnt mit dem Schrei, den Isaac mit dem Ei teilt, denn auch das Ei hat quasi alles verloren, und endet mit dem Abschied, weil Isaac sich jetzt um „das Original“ kümmern kann. Dass es ein Ei ist, würde in dem Zusammenhang genauso viel Sinn machen, wenn man es als Symbol für neues Leben (Nachwuchs) betrachtet. Gefällt mir. :)
Liebe Grüße